Eadulf blieb jäh vor der Tür des Gästezimmers stehen. Ein untersetzter, muskulöser Mönch, der mit gekreuzten Armen unbeweglich davor stand, verwehrte ihm den Zugang. Einen Augenblick schien es, als wolle sich Eadulf auf ihn stürzen, doch Bruder Willibrod war ihm nachgeeilt.
»Laß ihn durch«, befahl er, der Mönch trat sofort beiseite, und Eadulf ging rasch hinein.
Fidelma lag im Bett, ihr Atem ging schwer und rasselnd.
Eadulf blieb einen Moment an der Tür stehen und rang um Fassung. Dann schritt er langsam weiter.
Fidelma schien zu schlafen, aber es war kein natürlicher Schlaf. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, und sie war schweißgebadet. Offensichtlich hatte sich ihr Schüttelfrost zu hohem Fieber gesteigert, und dieses Fieber mußte in dieser Nacht seinen Höhepunkt überschreiten, oder es würde gefährlich werden. Eadulf wußte, was solch ein Fieber bedeutete.
Er wandte den Kopf, als er einen leisen Schritt hinter sich vernahm.
Bruder Willibrod war eingetreten und stand neben ihm.
»Ich sagte dir schon, daß deiner Gefährtin nichts geschehen ist«, flüsterte er. »Niemand war nahe bei ihr außer Bruder Redwald und der Erscheinung, die er gesehen hat.«
Eadulf schaute nach den Medikamenten, die er auf dem Seitentisch gelassen hatte.
»Und niemand hat ihr etwas gegeben außer dem, was ich ihr verordnet habe?«
»Bruder Redwald gab ihr nur etwas Wasser heute morgen, und als er mittags wiederkam, schlief sie so wie jetzt. Da ließ er sie in Ruhe. Bruder Higbald schaute vor kurzer Zeit nach ihr. Sie ist nicht vernachlässigt worden.«
»Wann soll Bruder Redwald diese Erscheinung gesehen haben?«
Bruder Willibrod blickte unsicher drein.
»Bruder Redwald kam kurz nach Einbruch der Dunkelheit her und wollte Kerzen anzünden und sehen, ob sie noch etwas brauchte.«
»Und wann haben die frommen Brüder sie wegen Hexerei verurteilt?« Eadulf konnte die Bitterkeit in seinem Ton nicht verbergen.
Bruder Willibrod scharrte verlegen mit den Füßen.
»Niemand hat sie verurteilt ... Du mußt mit Abt Cild sprechen, denn auf seinen Befehl hin wurde sie eingeschlossen. Er hat angeordnet, dich sofort nach deiner Rückkehr zu ihm zu bringen.«
Eadulf verzog ärgerlich das Gesicht.
»Abt Cild kann warten. Erst muß ich mich um Schwester Fidelma kümmern. Dieses Fieber, das sie sich zugezogen hat, befindet sich in einem kritischen Stadium.«
Bruder Willibrods eines Auge weitete sich entsetzt.
»Aber der Pater Abt wird zornig ...«
Eadulf fuhr herum und sah dem erschrockenen dominus aus wenigen Zentimetern ins Auge. Dieser hielt dem Blick nicht stand.
»Ich bin schon zornig. Zornig, weil ein Mann, der sich Abt einer heiligen Gemeinschaft nennt, von Hexerei reden kann, von Geistern und Dämonen und .«
Eadulf tat so, als wäre er zu aufgeregt, um weiterzusprechen, doch was ihn innehalten ließ, war die Erinnerung daran, welcher Art erst vor kurzer Zeit seine eigenen Gefühle gewesen waren, als er das ignis fatuus auf dem Moor tanzen sah. Um seine Verwirrung zu verbergen, wandte er sich wieder Fidelma zu.
Es gab keinen Zweifel, daß er auch eine Frau gesehen hatte, und zwar eine Frau, deren Beschreibung ihre Wirkung auf den Abt gehabt hatte. Welches Geheimnis steckte dahinter? Glaubte der Abt wirklich, ihn verfolge der Geist seiner toten Ehefrau? Die Frau, die Eadulf erblickt hatte, besaß eine körperliche Existenz. Sie war kein Schatten, dessen war er sich sicher.
»Ist Wasser heiß gemacht?« fragte er.
Der dominus wies wortlos auf das Feuer.
Eadulf ging zu dem siedenden Kessel und schöpfte mit einem Becher etwas Wasser heraus. Er beschäftigte sich damit, einen frischen Trank aus Kräutern zu bereiten, die er sorgfältig aus seinem Beutel auswählte. Der dominus beobachtete ihn mit wachsender Ungeduld. Schließlich sagte er: »Ich gehe zum Abt und erkläre ihm, daß du zurück bist und ihn aufsuchst, sobald du Schwester Fidelma die Medizin verabreicht hast.«
Eadulf machte sich nicht die Mühe, ihm zu antworten, und nahm seinen Abgang kaum wahr. Er mischte den Aufguß und trat an Fidelmas Bett.
»Fidelma«, flüsterte er.
Sie bewegte sich und stöhnte im Fieber.
Sanft schob er ihr die Hand unter den Kopf und hob ihn an, dann setzte er ihr den Becher mit der Medizin an die Lippen.
»Trink das. Es wird dir guttun. Nur ein paar Schluck.«
Er ließ die Flüssigkeit zwischen ihre Lippen rinnen. Fidelma schluckte unwillkürlich etwas davon, ohne zu erwachen oder die Augen zu öffnen.
Schließlich ließ er ihren Kopf wieder auf das Kissen sinken und stellte den Becher auf den Tisch.
Er befühlte ihre Stirn. Sie war heiß und feucht.
Es würde eine lange Nacht werden. Das Fieber mußte nachlassen. Inzwischen hatte er noch mit Abt Cild fertigzuwerden.
Er wandte sich zur Tür. Der stämmige Mönch stand wie vorhin davor. Er ließ Eadulf hinaus, sagte aber kein Wort. Nur seine Augen beobachteten Eadulf, aufmerksam, aber nicht unfreundlich.
»Wo finde ich Bruder Redwalds Zelle?« fragte ihn Eadulf. Er wollte nicht dem Abt gegenübertreten, ohne genau erfahren zu haben, was Redwald gesehen hatte.
Der große Wächter zeigte nur auf seinen Mund und schüttelte den Kopf. Eadulf begriff, daß der Mann nicht sprechen konnte. Ehe er noch reagieren konnte, nahm der Mönch seinen Arm und wies den Kreuzgang entlang. Dann hob er vier Finger.
»Die vierte Tür auf diesem Gang?« fragte Eadulf.
Der Mann nickte, ohne eine Miene zu verziehen.
Eadulf lief rasch in die angegebene Richtung und zählte die Türen an dem dunklen Gang. Vor der vierten Tür standen ein paar Mönche. Sie unterhielten sich leise. Unwillkürlich trat Eadulf in den Schatten zurück.
»Los, Bruder Wigstan«, rief einer der Mönche. »Es wird Zeit, die Glocke zum Abendessen zu läuten. Laß ihn in Ruhe. Er wird bald wieder zur Vernunft kommen.«
Eadulf sah, wie Bruder Wigstan aus der Tür trat und sich den anderen anschloß. Sie gingen zusammen fort, ihre Ledersandalen klappten auf dem Granitpflaster, dann verhallten ihre Schritte.
Eadulf wartete noch etwas, bevor er sich zur Tür bewegte. Zu seiner Überraschung war sie nicht verschlossen, sondern nur von außen verriegelt. Er öffnete sie und fand sich in einem kleinen, zellenartigen Raum wieder. Der junge Bruder Redwald saß auf dem Bett, die Arme über der Brust gekreuzt. Erschrocken blickte er auf.
»Schon gut«, flüsterte Eadulf und hob die Hand. »Ich will dir nichts tun. Ich muß mit dir darüber sprechen, was du gesehen hast.«
Der Junge schüttelte den Kopf. Seine Lippen zitterten.
»Es war ein Dämon. Das sage ich dir. Es war .« Er warf Eadulf wieder einen entsetzten Blick zu. »Der Abt sagt, die Irin hat den Dämon heraufbeschworen ... Und sie ist deine Gefährtin!«
Er schob sich auf dem Bett zurück, weg von Eadulf.
Eadulf schüttelte den Kopf. »Ich will dir nichts antun, Redwald, und Fidelma will das auch nicht. Sie ist krank und kann ebensowenig Geister beschwören wie du. Schlag dir diese Vorstellung aus dem Kopf. Erzähl mir, was du gesehen hast. Beschreibe es mir.«
Der Junge schien sich etwas zu beruhigen.
»Es wäre ein großes Unrecht, wenn Schwester Fidelma die Schuld für etwas zugeschoben würde, wofür sie nicht verantwortlich ist«, beharrte Eadulf in sanftem Ton. »Du allein kannst die wahre Geschichte erzählen. Also sag’s mir, und ich verspreche dir, daß dir nichts geschieht.«
Der Junge sah nun weniger verängstigt aus, wirkte aber auch nicht eben mutig. Doch mit weiterem gutem Zureden holte Eadulf die Geschichte aus ihm heraus. Sie entsprach im wesentlichen dem, was ihm Bruder Willibrod berichtet hatte.
»Ich ging zum Gästezimmer, um zu sehen, ob ich etwas für die irische Schwester tun könnte«, gestand er. »Ich hatte auch schon mal solch einen Schüttelfrost ...«
»Also du gingst in das Zimmer. Und dann?« lockte ihn Eadulf weiter.
Redwald hob ihm ein schreckverzerrtes Gesicht entgegen.
»Dann sah ich sie!«
»Weiter. Wer war die Frau, die dir solchen Schreck einjagte?«
»Es war Lady Gelgeis. Ich schwöre es. Als ich in die Abtei kam, war sie noch am Leben. Ich weiß, wie sie aussah. Sie hat mich gepflegt, als ich den Schüttelfrost hatte. Deshalb wußte ich, daß ich versuchen sollte, der irischen Schwester zu helfen.«
»Ich verstehe.« Eadulf wartete geduldig, bis der Junge sich gesammelt hatte. »Und du dachtest also, Lady Gelgeis wäre im Zimmer bei Schwester Fidelma ?«
Der Junge ließ sich nicht beirren. »Das habe ich nicht gedacht, ich habe sie gesehen. Als ich eintrat, beugte sie sich über Schwester Fidelma und wischte ihr die Stirn . Genau so, wie sie es auch mit mir immer gemacht hatte.«
»Beschreibe sie mir.«
»Sie ist jung und hübsch.«
»So? Und weiter? Wie sieht ihr Haar aus?«
»Sie hat rotes Haar, aber mehr golden als rot, und ihre Haut ist blaß, sehr blaß selbst im Kerzenlicht. Sie trug ein feines rotes Kleid mit Edelsteinen - glitzernden Edelsteinen. Ich stand da und . Und dann hob sie die Hand und sah mich an. Heilige Mutter Gottes! Ihr Gesicht sah genau so aus, wie ich es in Erinnerung hatte - aber sie ist tot, Bruder! Sie ist tot! Jeder sagt, sie ist tot. Also muß es doch so sein.«
»Beruhige dich, Redwald«, redete ihm Eadulf zu und tätschelte ihm die Schulter. »Erzähl mir einfach, was dann geschah. Sie schaute dich an. Hat sie etwas gesagt?«
»Verzeih mir, Bruder, aber ich schrie auf und floh aus dem Zimmer. Ich hatte keinen Gedanken mehr für die irische Schwester auf dem Bett. Ich rannte weg. Ich rannte zu Bruder Willibrod, und der bestand darauf, daß ich mit ihm zusammen in das Zimmer ging. Also kehrten wir dorthin zurück .«
»Was habt ihr vorgefunden?«
»Das Zimmer war leer bis auf die irische Schwester. Von Gelgeis keine Spur.«
»Was geschah weiter?«
»Ich erzählte Bruder Willibrod im einzelnen, was ich gesehen hatte. Er meinte, das müßte ich dem Abt berichten. Ich glaube, Abt Cild gefiel das gar nicht. Ich war mit den Nerven völlig fertig, und Willibrod verabreichte mir ein starkes Getränk, um mich zu beruhigen, und brachte mich hierher, damit ich mich ausruhen sollte. Mehr weiß ich nicht.«
Eadulf lehnte sich gegen die Wand und rieb sich die Nase.
»Als du zurückkamst, gab es wirklich keine Spur von der Frau, die du gesehen hattest?« fragte er schließlich.
»Woher denn? Es war doch eine Erscheinung, ein Geist.«
»Du bist überzeugt, daß es Lady Gelgeis war?«
»Es war niemand anders als Lady Gelgeis, so wie ich sie kannte. Sie ist mindestens ein Jahr schon tot.«
»Ich verstehe. Aber sag mir eins, Bruder Redwald: Hast du jemals die tote Lady Gelgeis gesehen?«
Der Junge runzelte die Stirn. »Es ist allgemein bekannt, daß ihr Leichnam niemals aus dem Moor geborgen wurde. Er ruht in einem Moorloch nicht weit von hier. Einige Brüder sagten, sie habe eines Abends allein auf dem Rückweg zur Abtei den Weg verfehlt und sei dort hineingeraten. Es ist ein gefährlicher Ort, und es sind schon mehrere Tiere an dieser Stelle im Moor versunken. Der Ort heißt Hob’s Mire.«
Eadulf überlegte. »Und er ist nicht weit von hier, sagst du?«
»Ja, es führt ein Weg zu einem kleinen Wäldchen, und dahinter erstreckt sich das Moor, und darin liegt Hob’s Mire.«
Eadulf unterdrückte ein Schaudern, denn plötzlich erinnerte er sich an das blau flackernde Licht, das er an genau der Stelle gesehen hatte, die der Junge beschrieb. Er spürte, wie seine Hand zitterte, und versuchte dem zornig Einhalt zu gebieten. Fidelma würde die Gedanken nicht billigen, die ihm jetzt durch den Kopf schossen. Er war in diesem Land aufgewachsen und hatte die alten Götter verehrt, war den alten Bräuchen gefolgt und erst in seinen Mannesjahren zum neuen Glauben übergetreten. Doch das heilige Wasser, mit dem ihn der irische Missionar, der ihn zum Christentum bekehrt hatte, taufte, war nicht stark genug gewesen, sein Heidentum völlig von ihm abzuwaschen.
Der Geist von Gelgeis, den auch er an jenem ersten Abend bei der Kapelle gesehen hatte; die blaue Flamme, ob sie nun ein Feuerdrache war oder nicht; und jetzt die Geschichte, die Bruder Redwald erzählte: Das alles zog ihn zurück zu dem alten Glauben seines Volkes wie Fangarme, die nach ihm griffen und ihn in den düsteren Bereich der Religion zurückreißen wollten, der er entflohen war.
Entschlossen schob er das Kinn vor. Im Geiste hörte er Fidelmas tadelnde Worte: »Was ist das Übernatürliche weiter als das Natürliche, das nur noch nicht erklärt ist?«
Sobald er sich das sagte, begriff Eadulf, daß er wiederholte, was Fidelma gesagt hatte. Sie würde zweifellos so argumentieren: Wenn Leute mit klarem Verstand die Frau gesehen und sie als eine Frau erkannt hatten, die für tot galt, dann gab es zwei Möglichkeiten. Entweder war die Frau noch am Leben, oder aber jemand spielte ihre Rolle. Gespenster und Geister von Toten kamen in ihren Überlegungen nicht vor. So einfach war das. Doch dies war nicht ihr Land und ihre Kultur. Einen Moment empfand Eadulf sogar etwas wie Groll. Wie sollte Fidelma denn auch das lastende Unheil verstehen können, das in den dunklen angelsächsischen Wintern brütete? Aber dann kam ihm dieser Gedanke ungerecht vor.
Den Jungen schien er nicht überzeugt zu haben.
»Es ist Julzeit, Bruder. Weißt du noch, was das bedeutet?«
Er wußte es sehr gut. Während der zwölf Tage des Julfests kamen die heidnischen Götter der Angelsachsen Midgard am nächsten, der mittleren Welt, in der die Menschheit wohnte. Dann hatten die Toten die Freiheit, die aufzusuchen, die sie im Leben gekränkt hatten, und Trolle und Elfen wurden ausgesandt, die
Übeltäter zu bestrafen. Eadulf fühlte sich schuldig, weil er überhaupt daran dachte, doch die Kultur, in der man aufgewachsen ist, legt man nicht so leicht ab. Er beugte sich vor und tätschelte dem Jungen wieder die Schulter.
»Hier gibt’s nichts Übernatürliches, mein Sohn«, erklärte er ihm zuversichtlich, obgleich er sich wie ein dreister Lügner vorkam, dem das anzusehen sein mußte. »Es gibt nur ein Geheimnis, das wir noch lüften werden. Halte an deinem Glauben fest und fühle dich im Schutz Christi sicher.«
Er ließ den Jungen in seiner Zelle zurück und ging wieder in den Haupthof. Von dort aus folgte er dem Weg, von dem er wußte, daß er zum Zimmer des Abts führte. Abt Cild erwartete ihn, hinter seinem Tisch sitzend, die Handflächen auf der Tischplatte und mit zornerfüllter Miene.
»Hast du nicht begriffen, daß du sofort nach deiner Rückkehr in die Abtei zu mir kommen solltest?« fragte er streitlustig.
»Ich hatte Dringenderes zu erledigen«, erwiderte Eadulf kühl und zeigte mit seiner Haltung, daß er sich von dem Abt nicht einschüchtern ließ.
Abt Cilds Miene wurde noch finsterer.
»Dein Mangel an Respekt ist mir schon aufgefallen, Bruder Eadulf. Du bist mir als Abt zum Gehorsam verpflichtet.«
»Ich habe noch andere Pflichten«, entgegnete Eadulf. »In erster Linie bin ich Erzbischof Theodor verpflichtet, deinem geistlichen Vorgesetzten. Er hat mich zu seinem Abgesandten ernannt, und ich darf in seinem Namen sprechen. Nur ihm habe ich zu gehorchen.«
Während er redete, hielt Eadulf verstohlen die Finger gekreuzt. Was er sagte, stimmte insofern, als das das die Rolle war, die er im Auftrag Theodors bei König Colgü in Cashel gespielt hatte, aber jetzt nicht mehr. Eadulf nahm aber an, Cild würde es nicht offen bezweifeln und in Canterbury bei Erzbischof Theodor nachfragen lassen. Im übrigen nahm es Cild mit der Wahrheit auch nicht so genau. In ein paar Tagen, hoffte Eadulf, hätte er den Fall geklärt, und er beruhigte sein Gewissen mit einem alten Spruch seines Volkes, daß man nämlich mit der Falschheit weiter kommt als mit der Wahrheit, wenn man es mit einem Lügner zu tun hat, und eine solche Lüge verschwindet eines Tages, während nur die Wahrheit bestehen bleibt.
Abt Cild betrachtete ihn mit gemischten Gefühlen. An seiner Schläfe zuckte ein winziger Muskel, er preßte die Lippen zusammen.
»Behauptest du, eine höhere Autorität zu besitzen als ich?« fragte er drohend.
»Ich weise dich nur darauf hin, daß du mir nichts zu befehlen hast, Cild«, fauchte Eadulf. »Schwester Fidelma ist krank. Das Fieber ist auf seinem Höhepunkt, entweder es geht zurück, oder sie ist in Gefahr. Ich werde sie diese Nacht pflegen. Also zieh deinen Wächter von ihrer Zimmertür ab.«
Eadulfs bestimmtes Auftreten schien Abt Cild zu verblüffen. Er war es überhaupt nicht gewohnt, daß jemand seine Befehlsgewalt in Frage stellte.
Eadulf fuhr unbeeindruckt fort: »Außerdem reinige ihren Namen vom Stigma der schwarzen Magie und des üblen Zaubers. Daß ein Mann, der intelligent genug ist, das Amt des Abts dieses Hauses zu beanspruchen, solchem Gerede von Hexerei Glauben schenkt, ist unerhört.«
Abt Cild schnellte von seinem Stuhl hoch.
»Das werde ich nicht tun! Ich bin hier der Abt und nicht du, und Erzbischof Theodor soll doch selbst herkommen, wenn er meine Eignung anzweifelt.«
Eadulf hatte auch nicht erwartet, daß er mit seiner Forderung sofort und ohne weiteres durchdringen werde.
»Es ist gut möglich, daß er das tut, denn ihm sind viele Dinge über dieses Haus zu Ohren gekommen.« Eadulf wußte, wieviel er wagte, indem er so weit über die Tatsachen hinausging.
Abt Cild kniff die Augen zusammen.
»Erkläre mir, was du damit meinst«, forderte er.
»Das werde ich tun. Aber erst ein paar Fragen. Warum hast du solche Angst vor dieser angeblichen Erscheinung?«
Die Frage kam unerwartet, Cild stutzte und setzte sich abrupt wieder hin.
»Wie ... Wie kommst du darauf, daß ich Angst habe?«
Eadulf lächelte nur. »Ich sah gestern abend eine Dame nahe der Kapelle. Du bekamst Angst, als ich sie beschrieb. Heute sah Bruder Redwald dieselbe Frau in Schwester Fidelmas Zimmer. Bruder Redwald behauptet, es wäre deine Frau, die als tot gilt. Ist sie wirklich tot?«
Abt Cilds Miene wurde zornig. »Wagst du es, mich einen Lügner zu nennen?«
»Ich stelle nur eine Frage.«
»Sie ist tot. Und nur eine Person, die schwarze Künste ausübt, konnte ihr Bild heraufbeschwören. Nichts dergleichen geschah, bis du mit der fremden Frau hierherkamst.«
»Aber ich habe gehört, daß diese Erscheinung auch gesehen wurde, bevor wir die Abtei betraten«, protestierte Eadulf.
»Der Geist erschien, sobald ihr in dieses Königreich kamt. Die Hexerei der Ausländerin muß so mächtig sein, daß sie den Geist schon aus der Ferne beschwören konnte«, erwiderte Cild ungerührt. »Ihr habt euch hier den Zutritt erzwungen und Gastfreundschaft verlangt. Ich hätte euch beide sofort hinauswerfen sollen. Ich gab nach und ließ euch bleiben. Sofort tauchte der Geist auf. Ich habe auch nicht vergessen, daß gleich auf euer Erscheinen der Auftritt Garbs und seiner Leute folgte, der die gräßlichsten Beschuldigungen gegen mich erhebt. Ich übersehe weiterhin nicht die Tatsache, daß Garb und deine Gefährtin aus demselben Land stammen. Vielleicht sind sie verwandt und miteinander verschworen? Ich bin ein logisch denkender Mensch. Es war eure Ankunft, die all dieses Übel in Aldreds Abtei brachte. Hier ist nichts Böses geschehen bis gestern abend, als ihr beide die Gastfreundschaft der Abtei beanspruchtet.«
Eadulf hatte ihn ruhig angehört. Nun lächelte er traurig.
»Das stimmt doch nicht, Cild. Gestern früh wurde mein guter Freund Botulf ermordet. Wir sind auf seinen Wunsch hin hergekommen - nur eben zu spät!«
Eadulf sah keinen Grund, diese Tatsache noch länger zu verschweigen. Er meinte, jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, sie zu verwenden, und er behielt recht, denn Cild schwieg eine Weile und bemühte sich vergeblich, eine undurchdringliche Miene aufzusetzen.
»Warum hat Botulf euch hergebeten?«
Eadulf lächelte wissend. Jetzt konnte er Gedankenspiele mit dem Abt treiben.
»Wußte jemand in der Abtei, daß er eine Botschaft nach Canterbury geschickt hatte, um mich hierher zu rufen?« Eadulf stellte die Frage nachdenklich.
»Ich wußte es jedenfalls nicht.« Aus Abt Cilds Stimme war unterdrückter Zorn herauszuhören.
»Wie ich merke, wart ihr, Botulf und du, nicht so eng miteinander verbunden, wie du es bei seiner Beisetzung glauben machtest. Welcher Art war die Feindschaft, die zwischen euch bestand?«
»Hat dir Botulf erklärt, daß Feindschaft zwischen uns herrschte?« wollte der Abt wissen.
»Bestreitest du es?« konterte Eadulf.
»Nein. Ich weise dich darauf hin, daß mir dein Freund Botulf von König Ealdwulf aufgezwungen wurde. Wenn du die Wahrheit wissen willst, Botulf versuchte, einen Verräter und Feigling zu verteidigen, und deshalb befahl der König, er habe in dieser Gemeinschaft zu bleiben und sich nicht weiter als eine Meile von ihr zu entfernen, bis er sein Verbrechen gesühnt hätte. Mir gefiel dieses Verfahren nicht, aber ich befolgte die Anweisung des Königs.«
Eadulf nickte leicht. Das stimmte mit dem überein, was Aldhere ihm erzählt hatte.
»Aber du mußt doch festgestellt haben, daß sich Botulf als ein nützliches Glied der Gemeinschaft erwies, denn du behieltest ihn als Verwalter der Abtei?«
»Er war gut zu gebrauchen«, gestand Cild widerwillig.
»Also wurde mein Freund Botulf, der vor Jahren Aldred geholfen hat, diese Abtei zu gründen, hierher zurückgeschickt, um dir als dem neuen Abt zu dienen?«
Abt Cild verzog nachdenklich den Mund. »Botulf gehörte zu Aldreds erster Gemeinschaft hier. Doch dann wurde er als Prediger in den westlichen Teil des Königreichs entsandt. Dort geriet er an den Mann, der später zum Feigling und zum Verräter am König wurde ...«
»Aldhere?« Die Frage kam blitzschnell und überrumpelte Cild.
»Woher weißt du das? Von Botulf?«
»Nein. Ich bin deinem Bruder heute vormittag zufällig begegnet.«
Es trat ein Schweigen ein, in dem Abt Cild diese Neuigkeit verdaute.
»Du versuchst mit mir zu spielen, Bruder Eadulf«, sagte er ruhig. »Und welche Lügen hat dir mein jüngerer Bruder aufgetischt?«
»Sollte er mir Lügen vorsetzen?«
»Er hat dir sicherlich erklären wollen, weshalb er außerhalb des Gesetzes steht.«
»Er behauptete, er trage keine Schuld an der Ermordung Botulfs, für die du, wie ich mich erinnere, ihn unbedingt hängen wolltest, wenn du ihn heute gefangen hättest. Es war, glaube ich, Aristoteles, der schrieb, daß Zwist unter Brüdern bitter und grausam ist. Hätte Aldhere mit dir dasselbe getan, frage ich mich?«
Cild starrte ihn wütend an. »Er hat mir Schlimmeres angetan, als er mich mit List und Tücke meines Erbes beraubte.«
»War das nicht die Entscheidung deines Vaters?«
»Mein Vater war schon alt und schwachsinnig und ließ sich von Aldhere beeinflussen.«
»Aber du tratest in die Kirche ein. Damit war der Streit doch sicher vorbei?«
»Ich habe Aldhere nicht zum Verräter und Feigling gemacht. Kurz nach meiner Rückkehr hierher wurde Aldhere vom König geächtet. Ich habe nur versucht, zurückzubekommen, was mir von Rechts wegen zustand.«
»Doch König Ealdwulf stimmte dem nicht zu?«
»Er stimmte im Grundsatz zu, aber nicht in der Praxis, denn er entschied, daß es künftig keinen Than von Bretta’s Ham mehr geben solle.«
»Haßt du deinen Bruder so sehr, daß du selbst seinen Tod herbeiführen würdest? Das paßt kaum zu dem geistlichen Gewand, das du trägst.«
»Wo steht denn geschrieben, daß ich mich der Rache enthalten muß?
>Lobet den Herrn, der zu Zion wohnt; verkündiget unter den Völkern sein Tun!
Denn der Rächer des Blutes erinnert sich ...<« Eadulf unterbrach das Zitat des Abts mit einer schroffen Geste.
»Ich hätte gedacht, du würdest dich eher an die Geschichte Kains erinnern. Kain erschlug seinen Bruder Abel, und als Gott das Urteil über ihn fällte, da erwartete Kain, daß sein Leben aus Rache verwirkt wäre. Doch Gott sprach zu ihm: >Nein; sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden.< Gott machte nur ein Zeichen an Kain, daß niemand ihn erschlüge, der ihn fände. Denn Rache erzeugt neue Rache.«
Cild lächelte dünn. »Bruder Eadulf, ich würde dir raten, nicht nur das Erste Buch Mose zu lesen, sondern auch das Zweite: >Seele um Seele, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brand um Brand ...<«
»Ich kenne den Text, Abt, aber Blut kann nicht durch Blut abgewaschen werden. Rache zerstört sich selbst.«
»Soll ich das so verstehen, Bruder Eadulf, daß du dich weigerst, den Worten der Schrift zu gehorchen?«
»Sind sie denn dazu da, daß man ihnen gehorcht, ohne Fragen zu stellen?«
»Es sind die Worte heiliger Menschen, ihnen von Gott eingegeben.«
»Es sind die Worte von Menschen, die sie zum Gehorsam der Toren und der Anleitung der Weisen niedergeschrieben haben.«
»Jetzt verstehe ich, daß du in Begleitung einer Hexe reist. Du besitzt keine Religion!« fauchte der Abt.
Die kalte Unlogik dieses Mannes verschlug Eadulf die Sprache. Er fand schließlich wieder Worte, aber er begriff, daß Abt Cild engstirnig und völlig in sich befangen war. Er war auf den Hauptgrund seines Streits mit dem Abt zurückverwiesen.
»Wie kannst du glauben, daß Schwester Fidelma dessen fähig ist, das du ihr vorwirfst?« fragte er ruhig, merkte aber zugleich, daß dies ein schwaches Argument war.
»Ich habe dir meine Gründe genannt. Sie liegen klar auf der Hand. Anscheinend kannst du wegen deiner Irreligiosität ihre Schuld nicht erkennen. Die geheimnisvollen Ereignisse traten erst ein, als ihr beide in dieses Königreich kamt. Deshalb klage ich sie an. Ich meine, daß sie für den Teufel arbeitet oder durch teuflische und andere Künste Bilder heraufbeschwört, die der Teufel ersonnen hat, um die Seelen der frommen Brüder dieser Gemeinschaft zu verwirren und zu umgarnen. Es ist meine Pflicht, sie vor der Verdammnis zu bewahren!«
»Ohne die anzuhören, die du beschuldigst? Während sie krank liegt und nicht in der Lage ist, sich zu verteidigen?« Eadulf kochte vor Zorn. »Ich sage dir, Cild, du überschreitest deine Befugnisse. Du glaubst an Auge um Auge. Sollte Schwester Fidelma etwas zustoßen, dann wirst du am eigenen Leibe erfahren, was Rache bedeutet. Das schwöre ich dir.«
Abt Cild lehnte sich zurück und betrachtete Ea-dulfs zornige Miene. Seine Mundwinkel senkten sich herab.
»An einem fehlt es dir nicht, Eadulf von Seax-mund’s Ham, und das ist Mut. Du drohst mir in den Mauern meiner eigenen Abtei? Ich könnte dich hinausführen und auspeitschen lassen, ja sogar als heidnischen Ketzer verbrennen lassen, weil du es wagst, dich über die heiligen Worte der Schrift hinwegzusetzen. Ich habe bewaffnete Brüder bei der Hand. Was meinst du, was ich angesichts deiner Drohungen tun sollte, Bruder Eadulf?«
Eadulf starrte ihn trotzig an.
»Ich weiß nicht, was du tun willst, Cild. Ich kann das nicht voraussagen, denn du scheinst für deine Handlungen niemandem verantwortlich zu sein. Aber eins will ich dir sagen. Wenn Schwester Fidelma oder mir etwas zustößt, lädst du eine Vergeltung auf dich, die schwerer sein könnte, als du es dir vorstellst.
Schwester Fidelma ist die leibliche Schwester des Königs von Cashel. Sie ist eine hoch angesehene Geistliche, war Teilnehmerin an der Synode von Whitby, hat den Lateranpalast in Rom besucht und ist Anwältin bei ihrem Volk. Glaubst du, du kannst ungestraft gegen sie vorgehen? Ich bin als Abgesandter Erzbischof Theodors von geringer Bedeutung im Vergleich zu ihr.
Doch so unwichtig ich bin, wird Erzbischof Theodor König Ealdwulf zur Rechenschaft ziehen, wenn mir etwas passiert, und Ealdwulf wird wissen wollen, warum seine Ruhe von Canterbury her gestört wird.«
Nach diesen Worten Eadulfs trat ein längeres Schweigen ein.
Dann lächelte Abt Cild tatsächlich. Es war kein angenehmes Lächeln.
»Du hast gut argumentiert. Jetzt sage ich dir, was ich tun werde. Ich werde warten, bis Schwester Fidelma von ihrer Krankheit genesen ist, und dann werden wir den Fall in aller Form verhandeln. Wenn es sich erweist, daß sie nichts mit der Geisterbeschwörung in dieser Abtei zu tun hat, dürft ihr eure Reise fortsetzen. Welches Geflüster der Toten euch auch hergebracht haben mag, es wird wieder ins Totenreich versenkt. Verstehst du mich?«
»Wie soll man sich gegen einen so ungreifbaren Vorwurf wie den der Totenbeschwörung verteidigen?« wollte Eadulf wissen.
Abt Cild breitete die Hände aus. »Das ist nicht meine Sorge. Wenn sie unschuldig ist, soll sie es beweisen.«
»Und wer entscheidet, ob sie unschuldig oder schuldig ist?«
»Ich«, antwortete der Abt ungerührt.
»Und wenn du entscheidest, daß sie schuldig ist?«
»Die Strafe dafür ist im Gesetz der Wuffingas vorgesehen, dem Gesetz unseres Volkes, wie es uns von Wuffa, dem Sohn Wehhas, überliefert ist.«
Eadulf überlief es kalt. Als gerefa kannte er das Ge-setz gut, doch was ihn stärker erschreckte, war die Tatsache, daß Abt Cild offensichtlich geistesgestört war und keine Gnade kannte.
»Abgewandelt durch die Anwendung des neuen Glaubens?« fragte er hoffnungsvoll.
Abt Cild schüttelte den Kopf. »Ich sehe keinen Grund, weshalb das Gesetz der Wuffingas abgewandelt werden sollte. Die Strafe für das Beschwören von Dämonen und Geistern ist klar ... Die schuldige Frau wird mit dem Gesicht nach unten in eine Grube gelegt und begraben - lebendig!«