Kapitel 17

»Wartet!«

Der Alte sprach ruhig, fast leise, aber sein Wort ließ Abt Cild und seine Begleiter innehalten. Der Abt wandte sich ihm zu und erhob Einspruch.

»Lord Sigeric, das sind Ausländer, die in unser Land gekommen sind und Hexerei und Übeltaten begehen ...«

Eadulf trat einen Schritt vor.

»Das ist eine Lüge. Ich bin Eadulf von Seaxmund’s Ham, ehemaliger gerefa dieses Ortes ...«

»Schweig!« brüllte Abt Cild. »Wie kannst du es wagen, den Oberhofmeister ohne seine Erlaubnis anzureden?«

Der Alte musterte Eadulf mit seinen hellen grauen Augen.

»Und jetzt bist du Christ?« Er lächelte dünn. »Wer ist die Frau, mit der du reist?« Sein Blick richtete sich auf Fidelma. »Sie sieht aus wie eine der irischen Mis-sionarinnen, die dieses Land von den alten Göttern abgewendet haben. Denen König Ealdwulf befohlen hat, sein Königreich zu verlassen.«

»Es stimmt, daß Schwester Fidelma aus dem Königreich Muman im Lande Eireann stammt. Ihr Bruder herrscht als König in jenem fernen Land. Doch sie ist nicht als Missionarin hier, sondern als angesehene Anwältin nach irischem Recht.«

Sigeric seufzte leise.

»Ich habe von dem Königreich Muman gehört. Ich habe viel über dieses Land von Missionaren erfahren, die zu uns gekommen sind. Warum habt ihr euch an mich herangeschlichen wie Meuchelmörder? Seid ihr etwa welche? Wolltet ihr mich töten?«

Abt Cild trat einen Schritt vor. Mit lauter Stimme sagte er eifrig: »Lord Sigeric, sie wollten dir bestimmt etwas antun, sonst hätten sie sich nicht an dich herangeschlichen ...«

»Das stimmt nicht!« unterbrach ihn Eadulf. »Wir müssen mit dir sprechen .«

Abt Cild hatte Bruder Beornwulf zugenickt, und der machte einen Schritt zu Eadulf hin und schlug ihm ohne Warnung hart auf den Mund, so daß er gegen Fidelma prallte. Er stolperte und fiel zu Boden. Blut lief ihm aus dem Mund. Fidelma beugte sich nieder und half ihm auf.

»Das ist das üble Paar, vor dem ich dich gewarnt habe, Lord Sigeric«, fuhr Abt Cild wütend fort. »Die Frau kann Geister herbeibeschwören. Vor ein paar Tagen sind sie meiner Verurteilung entgangen. Laß sie durchsuchen, und du wirst Waffen bei ihnen finden. Sie wollten dich töten. Daran habe ich keinen Zweifel.«

Sigerics Miene drückte jedoch Mißbilligung aus.

»Du hast keinen Zweifel? Nun, vielleicht kann ich ihre Absichten am besten beurteilen, Cild. Es gibt keinen Grund, sie zu mißhandeln. Nach dem Gesetz der Wuffingas hat jeder das Recht, zu seiner Verteidigung zu sprechen. Willst du ihnen dieses Recht verweigern?«

»Lord Sigeric, ich sage .«

»Ich erledige das«, antwortete der scharf. »Und jetzt, Cild, darfst du deine Leute mitnehmen und dies hier mir überlassen.«

Der Abt zögerte einen Moment. Sein Gesicht war noch zorngerötet, und es schien, als wolle er sich mit Sigeric streiten. Dann drehte er sich wütend um und ging wortlos hinaus. Bruder Willibrod und der stumme Bruder Beornwulf folgten ihm.

Fidelma wischte Eadulfs blutenden Mund mit einem Tuch ab, das sie aus einem Wasserkrug befeuchtet hatte. Sie wandte sich an Sigeric.

»Ich danke dir für dein Dazwischentreten.«

Sigeric lehnte sich zurück, und seine Miene blieb ernst.

»Du wirst vielleicht bald keinen Grund mehr haben, mir zu danken, Schwester Fidelma. Ich gehe gnadenlos gegen alle vor, die unsere Gesetze brechen, seien sie von hoher oder niederer Geburt, Einheimische oder Ausländer.«

»Doch ich habe gehört, daß du ein Richter mit gesunden Grundsätzen bist, der nach Wahrheit und nach Gerechtigkeit für alle strebt, seien sie von hoher oder niederer Geburt, Einheimische oder Ausländer«, erwiderte Fidelma mit einem leichten Lächeln.

»Ich bin auch nicht empfänglich für Schmeichelei, insbesondere von einer hübschen Frau«, knurrte Sige-ric. Er wandte sich an Eadulf. »Nun, Eadulf von Seax-mund’s Ham - bist du in der Lage, auf meine Fragen zu antworten?«

Eadulf nahm Fidelma das Tuch aus der Hand und richtete sich vor dem Oberhofmeister des Königs von Ost-Angeln auf. Er betupfte seinen blutigen Mund.

»Ich kann nur die Wahrheit sagen, so wie ich sie kenne, Lord Sigeric.«

»Das ist alles, was ein Mensch tun kann«, stimmte ihm Sigeric ernst zu. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, legte die Hände mit den Fingerspitzen aneinander und blickte von einem zum anderen. »Zu welchem Zweck seid ihr hergekommen?«

»Um an dich zu appellieren«, antwortete Eadulf. »Du bist unsere einzige Hoffnung bei unserer Suche nach der Wahrheit an diesem Ort.«

»Ich habe seltsame Geschichten über euch von Abt Cild gehört«, erwiderte Sigeric. »Mir wurde gesagt, ihr beide hättet euch den Eintritt in die Abtei erzwungen, und von dem Augenblick an habe es viele böse Vorzeichen gegeben. Der Abt erklärt, die Irin habe einen Geist beschworen, der ihn verfolge. Als er sie der Hexerei beschuldigte, wäret ihr beide aus seiner Haft und der Abtei entflohen. Jetzt erscheint ihr plötzlich, wer weiß woher, und schleicht euch in mein Zimmer. Euer Ziel - sagt der Abt - sei es, mich zu töten. Ihr leugnet das. Nun gut. Was habt ihr zu sagen?«

»Es stimmt nicht«, antwortete Eadulf einfach.

Sigeric seufzte und nickte langsam.

»Natürlich stimmt es nicht.« Er lächelte spöttisch. »Keine Beschuldigung hat jemals gestimmt, jedenfalls wenn man den Beschuldigten hört. Ihr müßt mich aber davon überzeugen, daß es nicht stimmt.«

»Darf ich das erklären«, begann Fidelma, doch Sige-ric hob die Hand.

»Man hat mir gesagt, daß in deiner Kultur, Schwester Fidelma, Frauen ebenso das Recht haben, gehört zu werden, wie Männer. Bei unserem Volk ist das nicht so. Ich werde nur Eadulf von Seaxmund’s Ham anhören.« Er wandte sich Eadulf zu, der angesichts Fidelmas Miene verlegen errötet war.

»Lord Sigeric«, begann er zögernd, »wie ich schon sagte, ist Schwester Fidelma in ihrem Land eine ausgebildete Anwältin. In Whitby wurde sie von König Oswy von Northumberland gebeten, in ihrer juristischen Eigenschaft tätig zu werden, und dasselbe geschah sogar durch den Heiligen Vater, als sie sich in Rom aufhielt .«

Sigeric schüttelte den Kopf. »Ich zweifle nicht an deiner guten Absicht, Eadulf, aber diese Orte liegen in anderen Ländern. Wir befinden uns hier im Königreich Ost-Angeln, und warum sollte ich mich nicht nach unseren Gesetzen und Bräuchen richten? Ich darf dich daran erinnern, daß dies die Gesetze der Wuffingas sind. Also, schone meine Ungeduld und komm zur Sache. Bestreitet ihr die Beschuldigungen Abt Cilds?«

»Ja, das tun wir«, sagte Eadulf mit Nachdruck. »Es geschah Böses in der Abtei, bevor wir kamen.«

»Böses? Dieses Wort hat viel Kraft. Doch der einzelne Mensch bestimmt, was er für böse hält, und diese Auffassung ist von Mensch zu Mensch verschieden«, antwortete Sigeric. »Vielleicht ist es besser, wenn du berichtest, wie ihr hierhergekommen seid, was ihr vorgefunden habt und wie sich die Dinge entwickelt haben.«

»Es fing an, Lord Sigeric, als Schwester Fidelma und ich in Canterbury weilten. Ich war Abgesandter des Erzbischofs Theodor und hatte mich als solcher bei König Colgü von Cashel aufgehalten, dem Bruder Schwester Fidelmas.«

Sigeric nickte langsam.

»Du bewegst dich also in hochgestellten Kreisen, Eadulf?« sagte er in wegwerfendem Ton. »Und dann?«

»Ich hatte nicht die Absicht, dich zu beeindrucken, Lord Sigeric. Es geht darum, daß ich in Canterbury war und dort eine Botschaft von meinem alten Freund Botulf erhielt, dem Verwalter dieser Abtei.«

Dieser Name verfehlte seine Wirkung auf den Alten nicht.

»Botulf? Botulf von Seaxmund’s Ham ...? Natürlich kanntest du ihn. Er war dein Freund? Ich kannte ihn auch, denn er versuchte, einem Feigling beizustehen, der geächtet wurde. Zur Strafe wurde Botulf in diese Abtei geschickt.«

»Davon habe ich gehört. Aber Botulf war ein anständiger Mensch. Als ich in Canterbury war, erhielt ich eine Botschaft, in der er mich aufforderte, zu dieser Abtei zu kommen und an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Zeit hier zu sein, denn das sei wichtig. Das tat ich auch, und Schwester Fidelma begleitete mich.«

Langsam, Schritt für Schritt, schilderte Eadulf die Ereignisse der letzten Tage.

Sigeric saß still da. Er unterbrach ihn nicht mehr, hielt den Kopf gesenkt und nickte, als wäre er eingeschlafen.

Als Eadulf fertig war, warf er Fidelma einen raschen Blick zu, und sie lächelte anerkennend. Er hatte keinen wesentlichen Punkt ausgelassen.

Sigeric trommelte mit den Fingern auf die Armlehne seines Stuhls.

»Du stellst Behauptungen auf, die unglaublich scheinen, doch du bietest mir keine Lösungen an.«

»Wenn Schwester Fidelma das ausführen dürfte .«

Sigeric unterbrach ihn mit einem verächtlichen Schnauben.

»Ich habe dir meine Entscheidung mitgeteilt, daß ich mich an unsere Bräuche halten werde. Und Worte wie >wenn< gefallen mir auch nicht.«

Eadulf war empört. »Du hast einen großen Ruf, Lord Sigeric, aber wie kannst du es begründen, daß du deine Ohren vor der Wahrheit verschließt, nur weil sie aus dem Mund einer Frau kommt?«

»Du wirst unverschämt, Eadulf von Seaxmund’s Ham.« Der Oberhofmeister sah ihn finster an. »Vielleicht hast du zu lange unter Ausländern gelebt und deine eigenen kulturellen Werte vergessen?«

»Die Werte, um die es mir geht, sind nicht an eine Kultur gebunden. Sie sind allen Völkern eigen«, schoß Eadulf zurück. Fidelma sah ihn überrascht an. Sie hatte ihn kaum jemals so zornig erlebt.

Sigerics Leibwächter traten unruhig näher, doch der Alte winkte sie zurück.

»Dein Bemühen, dich für deine Begleiterin einzusetzen, ist lobenswert, Eadulf .«

»Mein Bemühen ist es, mich für Wahrheit und Gerechtigkeit einzusetzen«, erwiderte Eadulf scharf.

»Ganz gleich, zu welchem Zweck, das Verfahren muß eingehalten werden. Zuerst muß ich deine Darstellung der Ereignisse den anderen Beteiligten vorlegen. Bis ich das getan habe, werdet ihr in Haft bleiben.«

»In Haft?« fragte Eadulf und lief vor Zorn wieder rot an.

Diesmal hielt Sigeric die beiden Krieger nicht zurück, die vortraten und sich zwischen Fidelma und Eadulf stellten.

»Niemand wird euch etwas tun - weder Abt Cild noch irgend jemand anderes. Von der Seite habt ihr nichts zu befürchten, bis ich entscheide, ob ihr die Wahrheit sagt oder ob ein anderer Beweggrund hinter euren Handlungen steckt.«

Er nahm eine kleine Handglocke vom Tisch und läutete.

Fast sofort stürzte der einäugige Bruder Willibrod herein.

»Besitzt diese Abtei ein paar sichere Zellen?« fragte ihn Sigeric.

»Sichere Zellen?« Das Auge des dominus weitete sich.

»Danach habe ich gefragt«, sagte Sigeric geduldig. »Ich möchte, daß dieser Mann und diese Frau in eine Zelle eingeschlossen werden und dort in Haft bleiben, bis ich etwas anderes anordne. Sie sind gut zu behandeln, und es darf ihnen nichts geschehen. Wer diesem Befehl zuwiderhandelt, ist mir persönlich verantwortlich. Jetzt brauchen wir eine sichere Zelle - einen Raum ohne einen Geheimgang, durch den sie entkommen können.«

»Es gibt einen Raum ganz in der Nähe«, überlegte Bruder Willibrod. »Er hat eine Tür und ein kleines vergittertes Fenster.«

»Bist du sicher, daß es keine Gänge hinter Wandvorhängen oder beweglichem Mauerwerk gibt?« fragte Sigeric spöttisch. »Schließlich wußtest du anscheinend nichts von dem Gang, der in dieses Zimmer führt.«

Bruder Willibrod breitete hilflos die Hände aus.

»Dies ist ein altes Gebäude, Lord, auf einer alten britannischen Festung erbaut .«

»Ich brauche keinen Geschichtsvortrag, sondern die Versicherung, daß der Raum keinen anderen Ausgang hat als die Tür, die meine Männer bewachen werden.«

»Das kann ich mit meinem Eid beschwören«, stammelte Bruder Willibrod.

»Das ist gut«, antwortete der Alte mit boshaftem Unterton. »Niemandem aus dieser Abtei, auch nicht dem Abt, ist es erlaubt, sie aufzusuchen. Werferth«, wandte er sich an einen der beiden Krieger, der offensichtlich seine Leibwache kommandierte, »du hast meine Befehle gehört? Laß niemanden zu ihnen ein.«

»Es soll geschehen, Lord«, antwortete der Krieger, »aber was ist mit Essen und Trinken?«

Sigeric bedachte die Frage ernsthaft.

»Das will ich ihnen nicht verweigern. Du wirst dich darum kümmern, Willibrod. Die Mahlzeiten werden Werferth übergeben, der dafür sorgt, daß die beiden verpflegt werden. Nun führt die Anordnung aus.«

Eadulf erhob Einspruch.

»Das ist keine Lösung, Lord Sigeric«, stellte er kühl fest. Er hatte seinen Zorn jetzt unter Kontrolle. »Unsere Inhaftierung wird das Blutvergießen nicht verhindern, das bevorsteht, wenn das troscud durchgeführt wird, dessen natürliche Folge es sein wird, die Königreiche in den Krieg zu treiben, wie ich erklärt habe.«

Lord Sigeric erhob sich, die Hände an den Hüften.

»Ich bin ein alter Hund, dem man keine neuen Kunststücke mehr beibringen kann, Eadulf. Ich werde auf meine Art vorgehen, und das ist die Art der Wuf-fingas. Ich habe alles angehört, was du zu sagen hattest. Jetzt werde ich es erwägen und mir mein Urteil bilden.« Er entließ sie mit einer Handbewegung.

Seine Männer schoben Fidelma und Eadulf hinaus, doch nicht auf grobe Weise. Bruder Willibrod schritt voran und zeigte ihnen die Zelle, die er als ihr Gefängnis vorgesehen hatte.

Als die Tür hinter ihnen zuschlug, standen sie da und musterten den winzigen Raum, in den man sie gebracht hatte. Er war nicht mehr als zwei Schritte breit und drei Schritte lang und gerade so hoch, daß man aufrecht darin stehen konnte. An einem Ende befand sich ein kleines vergittertes Fenster, durch das man weiter nichts als ein Stück Himmel sah. Das ganze Mobiliar bestand aus einem Bett und einem Schemel. Die Zelle war eiskalt.

»Na«, seufzte Eadulf und sank auf den Schemel, »unsere Mühe hat kaum jemandem genutzt.« Es klang verbittert.

Fidelma dachte nicht daran, mit dem Jammern über ein Mißgeschick viel Zeit zu vergeuden. Sie trat zum Fenster und schaute hinaus.

»Die Zeit ist schnell vergangen«, murmelte sie. »Mul muß uns schon lange aufgegeben haben. Die Dämmerung bricht bereits herein.«

»Mein Magen hat mir auch gesagt, daß es spät ist«, beklagte sich Eadulf.

Fidelma kam zurück und betrachtete die winzige Zelle.

»Ich nehme an, das war einmal die Zelle eines einzelnen Bruders. Der Raum reicht kaum für zwei, und das Bett ist sehr schmal.« Sie bückte sich, schaute darunter und wandte sich angeekelt ab. »Ich hoffe, wir bleiben hier nicht lange eingesperrt.«

Eadulf sah ihr trübsinnig zu.

»Sigeric war unsere einzige Chance«, sagte er zornig, »und er hört dich nicht einmal an. Blindes Vorurteil kann ich das nur nennen.«

Zu seiner Überraschung schüttelte Fidelma den Kopf.

»Er handelte nach seinem Gewissen. Du kannst nicht verlangen, daß er mehr tun sollte«, antwortete sie. Sie regte sich nicht auf.

»Du willst doch wohl nicht sagen, daß du sein Vorgehen unterstützt?« Eadulf war entgeistert über ihre scheinbare Passivität.

»Versetz dich in seine Lage, Eadulf. Was hättest du denn anders gemacht?«

»Ich kann mich nicht in seine Lage versetzen. Ich bin nicht Sigeric.«

»Genau. Und Sigeric ist nicht du. Er handelt nach dem, was er weiß.«

»Wie sollen wir dann hier herauskommen? Abt Cild wird uns nicht ein zweites Mal aus seinen Fängen lassen. Er schreit schon jetzt nach unserem Blut.«

Sie setzte sich auf das Bett. »Wenigstens hat Sigeric offenbar seine Zweifel an der Beschuldigung der Hexerei«, meinte sie und lehnte sich entspannt zurück. Dann fuhr sie auf und rief: »Ach!«

Eadulf zuckte nervös zusammen und blickte sich um.

»Was ist?« fragte er.

»Ich müßte jemandem sagen, wo wir unsere Ponys gelassen haben. Die Nacht wird kalt, und sie könnten erfrieren.«

Eadulf seufzte. Es sah Fidelma so ähnlich, selbst in ihrer Notlage noch an das Wohlergehen von Tieren zu denken.

Sie stand auf und schaute sich noch einmal um.

»Nun, ich glaube nicht, daß wir von hier fliehen können, bevor Sigeric uns herausläßt, also ist es auch nicht nötig, die Ponys in einem Versteck bereitzuhalten, und morgen, na, wir werden sehen ...«

Sie ging zur Tür und rief nach der Wache.

Die Riegel rasselten, und der hochgewachsene Krieger Werferth stand mit gezogenem Schwert in der Tür.

»Sprich, Frau«, knurrte er.

Fidelma erwiderte seinen finsteren Blick mit einem Lächeln und erklärte ihm, wo sie ihre Ponys angebunden hatten.

»Schick jemanden hin, der sie in die Abtei hereinholt, wo sie Wärme und Futter finden«, wies sie ihn an. »Sonst erfrieren sie da draußen in der Nacht.«

Der Krieger starrte sie überrascht an, wahrscheinlich ebenso verblüfft wie Eadulf, daß sie in einem solchen Moment an das Schicksal der Ponys denken konnte.

»Das soll geschehen, Frau«, sagte Werferth schließlich. »Ist das alles?«

»Das ist alles, außer daß mein Freund hier gern etwas hätte, um seinen Hunger zu stillen.«

»Das Essen wird euch bald gebracht«, antwortete Werferth barsch und schloß die Tür. Sie hörten, wie die Riegel vorgeschoben wurden.

Fidelma setzte sich wieder auf das Bett.

Langsam verging die Zeit, und schließlich brachte ihnen Werferth eine Mahlzeit. Er war streng und sachlich und ließ sich auf kein Gespräch ein. Sein Ge-fährte stand mit gezogenem Schwert in der Tür, während er das Tablett auf dem Schemel abstellte. Danach ging er wortlos wieder hinaus.

Sie aßen schweigend.

Sie hatten die Mahlzeit gerade beendet, als sie entferntes Schreien hörten. Dann trat wieder Stille ein.

»Was meinst du, was das war?« fragte Eadulf.

Fidelma zuckte mit den Schultern. Sie gab keine Antwort. Es wurde ruhig, die Zeit verging. Schließlich wurde ihnen klar, daß sie wahrscheinlich über Nacht eingesperrt bleiben würden, also zwängten sie sich zusammen in das schmale Bett und versuchten zu schlafen.

Sie waren eingenickt. Keiner wußte, ob es vor oder nach Mitternacht war. Schon lange herrschte Dunkelheit in ihrer Zelle, und es gab keine Möglichkeit, sie zu erhellen, denn sie besaßen weder eine Kerze noch eine Öllampe. Sie hatten es sich in dem Bett so bequem gemacht, wie es eben ging, und so hatte sie schließlich ein unruhiger Schlaf überwältigt.

Es waren das Quietschen der Riegel und scharfe Befehlsworte, die sie wachrüttelten und ihnen kaum ein paar Sekunden Zeit gaben, bevor die Tür aufgerissen wurde.

Eadulf hatte sich aus dem Bett gerollt, blinzelte und versuchte, die Lage zu erfassen.

Werferth und sein Gefährte standen mit gezogenen Schwertern innerhalb der Tür.

Gleich darauf trat Sigeric ein, eine Lampe in der Hand. Sein Gesicht war blaß, und er sah erschüttert aus.

Er wartete, bis Fidelma sich erhob und mit noch getrübten Augen zur Besinnung kam.

»Was ist los?« fragte Eadulf, der sich als erster gefaßt hatte.

Sigeric schaute ihn einen Moment aus seinen hellgrauen Augen an und sagte dann: »Kommt mit. Ihr beide.« Abrupt wandte er sich um.

Draußen reihten sich die beiden Krieger hinter Fidelma und Eadulf ein. Eadulf langte instinktiv nach Fidelmas Hand und hielt sie fest.

»Hab keine Angst«, flüsterte er. »Wenn sie uns töten wollen, zeigen wir ihnen, wie wenig uns ihre Freude daran bedeutet.«

Fidelma biß bei diesen Worten die Zähne zusammen, sagte aber nichts.

Sigeric hielt die Lampe hoch und marschierte mit raschen Schritten die Gänge der Abtei entlang - überraschend schnell für einen Mann seines Alters.

Er ging geradewegs zur Kapelle der Abtei, durch die Kreuzgänge und über den Hof, und betrat sie durch die Haupttür.

Kleine Gruppen von Brüdern standen hier und da in der Kapelle beisammen. Sie wandten sich um, als Sige-ric hereinkam. Fidelma und Eadulf fiel auf, daß ihre Gesichter im Kerzenlicht angstvoll aussahen, während sie beobachteten, wie der Alte seine Gefangenen an den Grüppchen vorbei zum Hochaltar führte.

Fidelma und Eadulf schlossen sich wie zum eigenen Schutz instinktiv enger zusammen und drückten ihre Hände noch fester. Sollte dies ein mitternächtlicher Prozeß werden, bei dem sie im voraus verurteilt wären?

Als sie sich dem Altar näherten, erblickte Eadulf Bruder Willibrod, der in einer nahen Bank zusammengesunken saß. Seine Schultern zuckten unkontrolliert, und Eadulf bemerkte zu seiner Überraschung, daß der dominus untröstlich schluchzte. Eadulf wechselte einen erstaunten Blick mit Fidelma. Sigeric beachtete den dominus nicht. Er führte sie weiter zu einer kleinen Gruppe vor dem Hochaltar.

Fidelma und Eadulf erkannten, daß Bruder Higbald sich über etwas beugte, was nahe dem Altar lag. Bruder Beornwulf war ebenfalls dort und stand mit finsterem Gesicht hinter ihm.

An einer Seite saß eine andere Gestalt, von einigen Mönchen umgeben. Auch einer von Sigerics Kriegern gehörte zu der Gruppe. Als sie sich näherten, traten die Mönche etwas auseinander und wandten sich zu ihnen um. Nun konnte man sehen, daß die in der Mitte sitzende Gestalt Abt Cild war.

Sigeric blieb vor ihm stehen. Fidelma und Eadulf stellten sich neben ihn.

Abt Cild blickte zu ihnen auf. Auf seinem normalerweise grimmigen Gesicht lag ein sinnloses Lächeln. Er kicherte wie ein Kind. Eadulf hatte noch nie etwas gesehen, was ihn derart beunruhigte. Es war ein furchteinflößender, unangenehmer Anblick, dieser seltsame, leere Ausdruck in dem Gesicht des Abts.

Dann bemerkten sie, daß seine Kleidung blutbesudelt, ja förmlich von Blut durchtränkt war. Blut klebte auch an seinen Händen, die er vorstreckte und drehte und rang.

Die Augen des Abts waren blicklos, und er schien zwar ihre Gegenwart vor ihm wahrzunehmen, sie jedoch nicht als einzelne Personen zu erkennen. Er wußte, sie waren da, und deshalb lächelte er sie an.

»Ich bin frei.« Die Worte wurden zwischen dem Kichern hervorgestoßen. »Ich habe mich von dem Geist erlöst, der mich verfolgt hat.«

Eadulf schaute Sigeric an, doch der Alte blieb unbewegt.

»Der Dämon, das Gespenst, das herbeibeschworen wurde, um mich zu peinigen«, fuhr der Abt fort. »Ich habe es vernichtet. Habe es umgebracht. Es war so einfach. Jetzt bin ich frei.«

Eadulf merkte, daß unter den Mönchen, die den Abt umstanden, auch Bruder Redwald war. Er schaute dem jungen Mann in das entsetzte Gesicht. Redwald erwiderte seinen Blick. Sein Gesicht war totenbleich und seine Lippen zitterten, als er den Blick dorthin wendete, wo Bruder Higbald sich niederbeugte. Eadulf und Fidelma drehten sich um und starrten auf das, was dort auf dem Boden lag. Es war ein schlanker Körper. Der Leichnam eines Mädchens mit rotgoldnem Haar.

»Es ist Gelgeis.« Bruder Redwalds hysterischer Schrei schallte durch die Kapelle. »Sie ist tot. Aber sie war vorher schon tot. Doch jetzt ist sie wieder tot. Der Abt hat den Geist von Gelgeis getötet!«

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