Kapitel 11

»Steck dein Schwert ein, Garb von Maigh Eo! Wir gehören nicht zu Abt Cilds Gemeinschaft«, fuhr ihn Eadulf an.

Garb lachte höhnisch und ungläubig. »Ich sah dich unter den Mönchen, Angelsachse. Du bist ein Lügner!«

»Er lügt nicht!« Rasch war Fidelma zwischen Eadulf und den Krieger aus Connacht getreten und hatte die Hand gehoben. »Ich bin Fidelma von Cashel. Steck dein Schwert ein, Garb. Du willst doch nicht unschuldige Menschen töten!«

Garb hatte schon mit dem Schwert ausgeholt und zögerte jetzt verwirrt.

»Ich sage, steck dein Schwert ein«, befahl Fidelma noch einmal, »wenn du nicht eine Anwältin der Gesetze der Fenechus und Tochter eines Königs töten willst.«

Der Krieger musterte sie genau. Dann ließ er langsam das Schwert sinken.

»Du sagst, du bist Fidelma von Cashel?« Jetzt sprach der Mönch neben ihm. »Bist du die dalaigh Fidelma , die Anwältin, die den rätselhaften Diebstahl des Schwerts des Großkönigs aufklärte?«

»Ich bin die dalaigh Fidelma«, bestätigte sie ohne Zusatz.

Der Mönch betrachtete sie nun mit einer Mischung von Überraschung und Ehrfurcht. Er war ein Mann in mittleren Jahren, mit grauem Haar und irischer Tonsur. Er sah noch sehr gut aus, mit befehlsgewohnter Miene, dunklen Augen und festem Mund.

»Bist du Fidelma, die Schwester des Königs Colgü?«

»Das bin ich.«

»Was machst du dann hier an diesem Ort und mit diesem Angelsachsen?« fragte Garb barsch. Er hatte das Schwert gesenkt, hielt es aber noch blank in der Hand. »Ich sah ihn erst vor zwei Tagen in der Abtei, die Cild leitet. Wie kann er da behaupten, er gehöre nicht zu Cilds Leuten?«

»Ich war auch in der Abtei, Garb«, sagte sie zu ihm. »Bruder Eadulf ist mein Gefährte und Abgesandter des Erzbischofs Theodor von Canterbury. Wir waren als Gäste dort und am Abend zuvor angekommen. Ich war krank, und Bruder Eadulf nahm an der Beisetzung seines Freundes Bruder Botulf teil, als du deinen ungewöhnlichen Auftritt hattest.«

Garb runzelte die Stirn. »War Botulf euer Freund?«

»Er war Bruder Eadulfs Freund«, bestätigte Fidelma.

»Du solltest nun vielleicht mit deinem Kopf denken und nicht mit deiner Schwerthand.«

Garb blieb mißtrauisch.

»Was wollt ihr hier? Hat Cild euch geschickt?«

Fidelma machte eine ungeduldige Handbewegung.

»Natürlich nicht. Wir wurden in der Abtei gefangengehalten. Cild plante, mich hinrichten zu lassen, und wir hielten es für klüger, das nicht abzuwarten. Wegen der Worte über Botulf, die du in der Kapelle der Abtei zu Cild sagtest, gingen wir auf die Suche nach dir. Du warst nicht schwer zu finden.«

Der Mönch kam nun mit ausgestreckten Händen auf sie zu und achtete nicht auf den mürrischen Krieger.

»Ich bin Bruder Laisre. Ich leite diese kleine religiöse Gruppe hier und begrüße dich, Fidelma von Cashel. Sei willkommen in Tunstall. Das gilt auch für deinen Gefährten. Gehen wir hinein ans Feuer, da kannst du uns deine Geschichte erzählen und was dich hierhergeführt hat.«

Sie folgten Bruder Laisre in eins der Holzhäuser, und Garb ging mit. Das Schwert hatte er in die Scheide gesteckt, betrachtete aber Eadulf immer noch mit drohenden Blicken. Die Wärme im Gebäude bildete einen erfreulichen Gegensatz zu der Abendkälte draußen. Offensichtlich wurde die Abendmahlzeit zubereitet, denn mehrere Mönche waren damit beschäftigt, und ein aromatischer Duft stieg von dem dampfenden Suppenkessel über dem Feuer auf.

»Ihr seid unsere Gäste, solange es euch gefällt, Fidelma von Cashel«, sagte Bruder Laisre lächelnd. Er wandte sich an Eadulf und begann seine Worte ins Sächsische zu übersetzen, doch Eadulf unterbrach ihn ungeduldig.

»Ich habe auf der Insel der fünf Königreiche studiert«, sagte er knapp. »Ich spreche deine Sprache fließend.«

Bruder Laisre sah erleichtert aus.

»Es ist gut, wenn man eine Sprache gemeinsam hat«, meinte er und lud sie zum Sitzen ein.

Fidelma schaute sich um und bemerkte das kleine scriptorium am anderen Ende des Raumes. Das Gebäude diente anscheinend als Speiseraum und Bibliothek für die ganze Gemeinschaft.

»Es überrascht mich, daß es noch eine Gemeinschaft in diesem Land gibt, die an dem Ritual unserer Kirche festhält, Bruder Laisre«, erklärte sie. »Ich dachte, nach dem Beschluß von Whitby, bei dem sich die Angeln und Sachsen für die Regeln von Rom entschieden, hätten alle unsere Geistlichen deren Länder verlassen.«

Bruder Laisre schmunzelte. »Einige von uns entschlossen sich, nicht nachzugeben ohne den Versuch, ein paar unserer Grundsätze zu bewahren. Ja, ich weiß, nach der Synode von Whitby führte Abt Col-man viele der irischen Missionare und alle die Angelsachsen, die der gleichen Meinung waren, auf die Insel der Weißen Kuh - Inis Bo Fin - vor der Küste von Connacht. Manche von ihnen - hauptsächlich die Angeln und Sachsen - gründeten ein anderes Zentrum auf dem Festland, das >Maigh Eo der Angelsachsen« heißt. Doch wir weigerten uns, Colman zu folgen, uns aus diesem Land zurückzuziehen und die Niederlage unserer Sache einzugestehen. Also sind wir hiergeblieben als Missionare aus den fünf Königreichen und bemühen uns, die große Wahrheit zu verbreiten.«

Er wandte sich um und betrachtete Bruder Eadulfs Tonsur, die Tonsur des heiligen Petrus, die erkennen ließ, daß er die Regeln Roms befolgte.

»Ich sehe, daß du, Bruder, nicht unseren Weg gehst?«

Eadulf zuckte die Achseln. »Nicht in allen Einzelheiten. Aber es gibt mehr, was uns verbindet, als das wenige, was uns trennt. Wie Schwester Fidelma besuchte auch ich die Synode von Whitby. Wenn wir an den einen Gott glauben, dann ist Raum für uns alle, ihn auf unsere Weise zu verehren.«

Bruder Laisre runzelte kurz die Stirn. »Der Meinung bin ich nicht. Hätte ich die Veränderungen des Glaubens, die die Bischöfe von Rom vorgenommen haben, für richtig gehalten, dann würde ich nicht mehr in diesem ungastlichen Land leben, sondern wäre zu meinen grünen Tälern am großen Fluß An tSiona zurückgekehrt.«

Fidelma räusperte sich. Sie wollte sich nicht durch theologische und liturgische Dispute ablenken lassen.

»Ich nehme an, dies ist der Ort, an dem Gadra, der Fürst von Maigh Eo, das troscud ausführen will?«

Garb fuhr auf. »Woher ...?« Sein Blick fiel auf Eadulf, und er beruhigte sich. »Ich verstehe. Du bist schlau, Fidelma.«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Es war Bruder Eadulf, der zu dieser Folgerung kam. Doch die Frage ist, ob dein Vater Gadra einsieht, daß Cild, der nicht einmal die Gesetze seines eigenen Volkes respektiert, sich noch viel weniger an die Gesetze unseres Volkes halten wird? Er würde sein Leben nutzlos wegwerfen.«

Garb schob die Unterlippe vor und nickte halb.

»Mein Vater ist ein starrsinniger Mensch, der sich so etwas gar nicht vorstellen kann.«

»Ich möchte mit ihm sprechen.«

»Das kannst du, aber im Augenblick ruht er. Vorher möchte ich noch wissen, was dich in diese Angelegenheit hineingezogen hat. Du sagtest, es hätte etwas mit Bruder Botulf zu tun?«

»Das stimmt«, erklärte Fidelma. »Aber das ist Bruder Eadulfs Geschichte, und ich bin sicher, er hat nichts dagegen, sie zu erzählen.«

Eadulf nickte. »Natürlich nicht, vorausgesetzt, wir tauschen unser Wissen aus. Sind wir uns einig, daß es in Aldreds Abtei ein übles Geheimnis gibt?«

»Es gibt dort ein Übel«, sagte Garb schroff. »Das ist Abt Cild.«

»Der Abt ist anscheinend ein Mann von ausgefallenen Meinungen und Handlungen«, schaltete sich Fidelma ein, »doch ob er damit ein Übel darstellt, das ist eine Frage, die wir später erörtern können.«

Bruder Laisre schnaubte. »Ich meine, es ist keine Frage, daß er ein Übel ist. Cild hat zwei meiner Brüder hängen lassen, die er gefangengenommen hatte. Er ließ sie als Ketzer gegen den Glauben hinrichten -oder vielmehr gegen seine besondere Auslegung des Glaubens.«

Fidelmas Augen weiteten sich leicht.

»Wir sind uns einig«, warf Eadulf ein, »daß Cild ein harter Mensch ist. Man braucht nur seinen leiblichen Bruder danach zu fragen, was der von ihm hält. Aber wir benötigen mehr Erkenntnisse, wie ich schon sagte. Ich kam zu dem Kloster, weil ich eine Nachricht von meinem Jugendfreund Bruder Botulf erhalten hatte, doch als ich eintraf, stellte ich fest, daß er ermordet worden war. Neulich nacht in der Kapelle schienst du anzudeuten, daß Abt Cild Botulf ermordet hätte. Warum?«

Garb blickte Bruder Laisre an und seufzte.

»Du sagst, du seist Bruder Botulfs Freund? Ich würde gern hören, was du uns mitteilen kannst, und dann sage ich dir, was wir wissen.«

Eadulf wechselte einen Blick mit Fidelma, die ihr Einverständnis zu erkennen gab.

»Irgendwo müssen wir anfangen«, meinte sie. »Wissen im Tausch gegen Wissen.«

Kurz, aber mit allen wichtigen Einzelheiten berichtete Eadulf, warum sie die Reise zu Aldreds Abtei unternommen hatten und was ihnen dort widerfahren war, einschließlich seines Gesprächs mit dem geächteten Bruder des Abts.

Als Eadulf seine Erzählung beendet hatte, schlug Bruder Laisre vor, das Gespräch bei heißer Suppe fortzusetzen. Sobald sie um den Tisch versammelt waren, nahm nun Garb das Wort.

»Drei Sommer sind vergangen, seit meine Familie Cild kennenlernte. Er gehörte zu den angelsächsischen Brüdern, die zum Studium an das religiöse Haus von Maigh Eo kamen, in der Ebene der Eiben, wo mein Vater Gadra als Fürst herrscht. Er war anders als die Mönche, die ich kannte. Er ähnelte mehr einem Krieger, war zornig, aggressiv und anspruchsvoll.«

Garb hielt inne, als ordne er seine Gedanken.

»Wir waren nicht sonderlich an ihm interessiert, bis er anfing, Eindruck auf meine jüngere Schwester Gelgeis zu machen. Sie vernarrte sich völlig in ihn.«

Fidelma beugte sich vor. »Du sagst nicht, daß sie sich in ihn verliebte. Wie alt war Gelgeis?«

Garb schaute sie an. »Ach, sie war über das Alter der Wahl hinaus, wenn du das meinst. Sie war auch zu allem entschlossen. Sie war ebenso starrköpfig wie mein Vater. Er und ich bemühten uns, ihr eine Heirat mit Cild auszureden. Sogar meine Schwester Mella riet ihr davon ab. Aber Gelgeis war ganz berauscht von Cild. Nein, ich sage nicht, daß sie den Mann liebte. Ich glaube, sie war von ihm hypnotisiert. Bevor wir Weiteres unternehmen konnten, hatten sie und Cild unser Land verlassen und waren hierher gekommen.«

»Kann ich daraus folgern, daß du glaubst, daß Cild deine Schwester nicht liebte?«

»Cild ist zu vielen Gefühlen fähig«, erwiderte Garb, »doch ich meine nicht, daß die Liebe dazu zählt. Er begehrte meine Schwester wegen der materiellen Vorteile, die er, wie er annahm, durch sie gewinnen würde. Er verstand unsere Gesetze nicht so richtig. Er dachte, wenn er erst einmal verheiratet wäre, würde mein Vater ihn mit Reichtum und einer hohen Stellung ausstatten.«

»Aber Cild kam doch hierher und erlangte die Stellung als Abt.«

»Allerdings als ein armer Abt. Doch mein Vater sah ein, daß die Situation meiner Schwester nicht mehr zu ändern war, und ließ sie wissen, er habe ihr vergeben, daß sie ihm das Herz gebrochen hatte, indem sie mit dem Angelsachsen durchbrannte. Aber eine Mitgift werde sie nicht erhalten, und Cild wäre in Maigh Eo nicht willkommen. Danach erreichten uns im folgenden Jahr nur zwei Botschaften von Gelgeis.«

Eadulf horchte auf. »Botschaften? Wer hat sie überbracht?«

»Ein Mönch namens Bruder Pol. Wie Bruder Laisre schon erwähnt hat, heißt die Gemeinschaft von Maigh Eo das >Maigh Eo der Angelsachsen<. Es bestehen häufige Verbindungen zwischen Maigh Eo und einigen angelsächsischen Mönchen. Gelgeis verstand es, die Og-ham-Schrift einzuritzen, und schickte ihre Botschaften auf Haselnußstäben, so daß nur wenige außerhalb unseres Kreises den Inhalt entziffern konnten.«

»Und was schrieb sie?« fragte Fidelma.

»In der ersten Botschaft hieß es, Cild sei zum Abt von Aldreds Abtei erhoben worden und sie und er wohnten dort. Sie erklärte, sie sei glücklich, habe aber großes Heimweh.«

Er hielt einen Moment inne.

»Es war die Wahl ihrer Worte, die uns vermuten ließ, sie sei nicht ganz ehrlich und mit ihrem Leben unzufrieden. Die zweite Botschaft bestätigte unsere Befürchtungen. Sie war unglücklich, aber sie erklärte uns nicht, warum. Bruder Pol erzählte uns, er nehme an, daß Cild sie mißhandle, denn er habe eine Wunde wie von einem Peitschenhieb an ihrem Arm gesehen. Wir baten Bruder Pol, Verbindung zu Gelgeis zu halten und uns auf seiner nächsten Reise neue Botschaften mitzubringen.«

Fidelmas Augen weiteten sich leicht. »Die Nachricht von ihrer unglücklichen Lage hat nicht einen aus eurer Familie veranlaßt, Gelgeis nach Hause zu holen?«

Garb sah verlegen aus. »Mein Vater meinte, Bruder Pols Vermittlung sei genug. Aber wir hörten nichts mehr von ihm, und viele Monate später baten wir Bruder Laisre hier, Kontakt mit ihr aufzunehmen ...«

»Einen Moment«, unterbrach ihn Fidelma. »Woher kanntet ihr Bruder Laisre?«

Der irische Mönch gab selbst die Antwort.

»Bruder Pol, der Verbindungsmann, der Gelgeis’ Botschaften nach Maigh Eo brachte, hatte Gadra von unserer kleinen Gruppe hier in Tunstall erzählt. Also fragte Gadra bei mir an, ob ich mich mit Gelgeis in Verbindung setzen und herausbekommen könnte, was dort vorging. Zugleich wollte er erfahren, aus welchem Grunde er nichts von Bruder Pol gehört hatte.«

»Und kamst du an Gelgeis heran?«

»Ich versuchte es, und dabei erfuhr ich, daß Gelgeis tot war.«

»Eins möchte ich noch fragen«, schaltete sich Eadulf ein. »Du mußt doch alle Iren in dieser Gegend kennen. Wer ist die junge Frau aus Eireann mit rotgold-nem Haar, die in der Nähe der Abtei wohnt?«

Bruder Laisre schaute ihn verblüfft an. »Eine junge Frau mit rotgoldnem Haar? Ich kenne keine solche Frau aus unserem Volk im Lande des Südvolks.«

Eadulf war überrascht. Auf dem Wege hatte er Fidelma berichtet, was er in der Holzfällerhütte gesehen hatte.

»Vielleicht ist sie erst vor kurzem hergekommen?« vermutete Fidelma.

Bruder Laisre schüttelte den Kopf. »Dann würde ich davon wissen, Schwester, und ehrlich gesagt, sie würde bald auffallen.«

Fidelma seufzte. »Ich meine, du solltest uns noch ausführlicher erzählen, wie du mit Gelgeis in Verbindung treten wolltest. Wie hast du es angestellt, mit ihr Kontakt aufzunehmen?«

»Sie war schon tot, als ich das versuchte«, erläuterte Bruder Laisre. »Ich ging als Kaufmann verkleidet zur Abtei, und zufällig war es Bruder Botulf, der mit mir sprach. Ich kannte ihn schon vor diesem unsinnigen Beschluß von Whitby, der die Trennung zwischen uns hervorrief. Er war ein sympathischer Mensch. Von ihm erfuhr ich dann, daß Gelgeis wirklich, wie ihr Vater und ihr Bruder annahmen, unglücklich geworden war. Cild ist ein eitler und grausamer Mensch. Als Abt ist er ungeeignet. Botulf sagte, das Mädchen sei ins Moor gegangen.«

»Hat Botulf im einzelnen beschrieben, wie sie umgekommen ist?« fragte Fidelma nach.

»Nein. Er nannte keine Einzelheiten. Nur, daß sie ins Moor gegangen und daß Cild dafür verantwortlich sei. Das waren genau seine Worte. Cild sei verantwortlich. Man kann das nicht anders deuten denn als Mord. Er berichtete, sie sei in Hob’s Mire versunken, einem üblen Stück Sumpf nicht weit von der Abtei. Er sagte, es habe keinen Zweck gehabt, nach dem Leichnam zu suchen. Er bat mich, die Familie davon zu unterrichten, daß ihre Tochter tot sei.«

»Und Bruder Pol hatte keine weiteren Botschaften nach Maigh Eo gebracht, weil er einer der Brüder war, die Abt Cild hängen ließ wegen ihrer Weigerung, sich den Regeln Roms zu unterwerfen?« Eadulf konnte es kaum glauben.

Bruder Laisre nickte nur.

»Nicht lange nach meinem Treffen mit Botulf«, fuhr er fort, »erklärte Cild die Abtei zu einer geschlossenen Gemeinschaft für Brüder, die an seine Regeln glaubten. Mehrere Brüder vertrieb er aus seiner Abtei. Einige davon kamen hierher und schlossen sich uns an.«

Eadulf wollte mehr wissen. »Hast du Botulf noch einmal gesprochen?«

»Diese Ereignisse spielten sich erst vor wenigen Monaten ab. Der Bote, den ich nach Maigh Eo geschickt hatte, brauchte sehr lange Zeit, bis er Gadras Burg sicher erreichte. Sein Schiff strandete an der Insel Mannanan Mac Lir, die zwischen diesem Land und Ei-reann liegt. Es dauerte eine Weile, bis er ein Fahrzeug fand, mit dem er seine Reise fortsetzen konnte. Gadra sandte mir schließlich die Nachricht, daß er selbst herkäme, um Genugtuung von Cild zu fordern .«

Hier schaltete sich Garb ein.

»Mein Vater stammt aus dem Geschlecht der Könige der Ui Briüin, der Könige von Connacht. Er ist ein Fürst, in dessen Adern das Blut des Großkönigs Niall von den Neun Geiseln fließt. Er ist stolz und unbeugsam. Gelgeis ist aus seinem Geschlecht. Deswegen beschloß er, in dieses fremde Land zu gehen und Cild zur Rechenschaft zu ziehen.«

Fidelma schaute ihn skeptisch an. »Das troscud.«

»Ja, Lady, das troscud«, erwiderte Garb fest.

»Wirklich«, warf Eadulf ein, »dein Vater muß seine Tochter sehr geliebt haben, wenn er diesen Weg einschlägt.«

»Er liebte sie so, wie nur ein Vater lieben kann«, stimmte ihm Garb zu. »Aber ebenso wie die Liebe verpflichtet uns auch die Ehre, und das troscud ist unser Gericht der letzten Instanz. Durch das rituelle Fasten wollen wir Gerechtigkeit erlangen, wenn unsere Feinde zu mächtig und zu überheblich sind, um sie uns aus freiem Willen zu gewähren.«

»Eins interessiert mich sehr, und verzeih mir die Frage, aber wie du weißt, sind mir solche Sachen fremd. Was für ein Mensch war deine Schwester?«

Garb sah Eadulf ziemlich verständnislos an.

»Ich weiß nicht, ob ich deine Frage richtig verstanden habe, Angelsachse.«

»Ich meine ihr Temperament. War sie in ihrer Natur so ungewöhnlich, daß ihr Vater und vielleicht auch du und deine Krieger, ihr alle bereit seid, euer Leben willig für ihr Gedenken hinzugeben?«

Fidelma fühlte sich etwas verunsichert. Sie dachte, Eadulf hätte das Wesen des troscud verstanden, und wunderte sich darüber, daß er diese Frage stellte. Sie vermutete jedoch, daß er einen Zweck damit verfolgte.

Garb war von der Frage nicht gekränkt.

»Gelgeis war meine Lieblingsschwester. Sie brachte Ruhe in jede Lebenslage. Sie ließ einen grauen Tag schön erscheinen, stillte jeden Sturm, machte jeden Niedergeschlagenen fröhlich. Sie besaß eine Natur, die alle, die sie kannten, glücklich machte.«

Eadulf stutzte, denn er dachte an Bruder Willibrods Worte. Garbs Rede wirkte ein wenig zu glatt. Während er noch zögerte, übernahm Fidelma wieder das Gespräch.

»Kann man deinem Vater nicht das Vorhaben ausreden, auf das er sich eingelassen hat? Ihr müßt doch einsehen, daß es einem Mann aus Cilds Kulturkreis und noch dazu einem Mann wie Cild nichts bedeutet. Man wird deinen Vater einfach sterben lassen. Cild und überhaupt jeder Angelsachse, der unsere Bräuche nicht kennt, könnte das troscud schlicht als einen Witz betrachten.«

»Mein Vater glaubt an die alten Bräuche und ist fest entschlossen.«

»Ich werde mit ihm sprechen, denn man muß ihn davon abbringen«, erklärte Fidelma.

»Du wirst dich vergeblich bemühen.«

Eadulf saß da und starrte mit leerem Blick vor sich hin, während er über die unterschiedlichen Bilder von Gelgeis nachgrübelte, die man ihm beschrieben hatte.

»Bruder Laisre, hast du noch einmal mit Botulf gesprochen? In der letzten Zeit?« fragte Fidelma.

»Vor ein paar Wochen. Das war, als Gadra mit Garb und seinen Männern hier ankam. Ich nahm Verbindung zu Botulf auf und erklärte ihm die Lage.«

»Wie hat Botulf darauf reagiert?«

Bruder Laisre blickte Garb verlegen an.

»Um ehrlich zu sein, Schwester, er war auch der Meinung, es sei vergeudete Zeit. Ich erläuterte ihm die Bedeutung des troscud, und er meinte, kein Angelsachse würde seinen Zweck verstehen. Ich sagte ihm, daß Garb in die Abtei kommen müßte, um den Beginn des Rituals zu verkünden, und er versprach, dabei zu helfen.«

»Hat er es getan?«

»O ja. Er schmuggelte Garb ein, damit dieser selbst mit dem Abt sprechen konnte. Das war der erste Kontakt, um sicherzustellen, daß der Abt wußte, was sich vorbereitete. Cild lachte Garb aus.«

»Hat Botulf euch gewarnt, daß Cild so reagieren würde?«

»Botulf sagte, er habe Angst ... Angst um die Verwandten von Gelgeis. Er erwähnte ein altes Sprichwort der Angelsachsen: Wehe dem, der sich in einem Land befindet, in dem niemand für ihn eintritt.«

»Also sprach er sich gegen das troscud aus?«

»Er sprach sich sehr deutlich dagegen aus, aber ich konnte nur als Vermittler handeln. Ich nannte ihm den Tag und die Stunde, zu der Garb sich zur offiziellen Verkündigung in der Abtei einstellen würde. Wir einigten uns auf das Läuten zum mitternächtlichen Angelusgebet, das die Brüder in die Kapelle der Abtei rufen würde. Die Verkündung mußte vor der ganzen Gemeinschaft erfolgen.«

»Wie sich herausstellte, war es die Stunde der Beisetzung Botulfs«, murmelte Eadulf.

Fidelma sagte nachdenklich: »Also wußte Botulf, daß das genau zu dieser Zeit passieren sollte?«

»Das wußte er.«

»Sonst wurde nichts weiter besprochen?«

»Er erwähnte, daß ein Freund von ihm in Canterbury sei, der sich in den Gesetzen unserer beiden Völker auskenne. Er wollte diesen Freund in die Abtei holen.«

Eadulfs Schultern erschlafften. »Das bin ich. Ich erhielt eine Botschaft von ihm, in der er mich bat, vor jenem Zeitpunkt in der Abtei zu sein. Schwester Fidelma und ich kamen auch rechtzeitig an, aber da war Botulf schon erschlagen worden.«

»Hat Botulf dir noch andere Einzelheiten über den Tod Gelgeis’ mitgeteilt?« fragte Fidelma.

Bruder Laisre schüttelte den Kopf.

»Was mich beunruhigt«, meinte Eadulf sinnend, »und ich sage das in aller Offenheit, ist der Mangel einer gesetzlichen Grundlage für eine Anklage gegen Cild. Verdacht liefert noch keine Tatsachen.«

Garb drehte sich zornig zu Eadulf um.

»Willst du Cild verteidigen?«

»Denk daran, ich war der Freund, den Botulf herbeiholte. Ich suche das, was wir alle suchen sollten, und das ist die Wahrheit. Soviel ich feststellen kann, haben wir nur einen Verdacht. Wir vermuten, daß Lady Gelgeis eines unnatürlichen Todes gestorben ist. Wir vermuten, daß ihr Ehemann Cild diesen Tod herbeigeführt hat. Aber bisher habe ich keine Beweise gesehen, nur Gerüchte gehört. Der gerefa in mir verlangt Beweise.«

Bruder Laisre starrte Eadulf entgeistert an.

»Cilds Ruf eilt ihm voraus. Er ist böse. Er ist verantwortlich dafür, daß viele umgebracht wurden .«

»Sein Ruf macht einen Menschen noch nicht schuldig. Und die Tatsache, daß man weiß, er hat andere Menschen im Namen seiner Religion töten lassen, spricht ihn noch nicht schuldig am Tod von Gelgeis.«

Fidelma sah den Zorn in ihren Gesichtern und schaltete sich rasch ein.

»So schmerzlich es für euch auch sein mag, die ihr an Cilds Schuld glaubt, so hat mein Gefährte doch recht. Ein Glaube ist noch kein Beweis vor dem Gesetz.«

»Cilds Ruf ist ganz schwarz. Gilt denn der alte Spruch nicht mehr, daß jede Farbe Schwarz annimmt, Schwarz aber keine Farbe annimmt?«

»Mit anderen Worten, der Kuh mit den längsten Hörnern wirft man immer vor, daß sie stößt?« meinte Eadulf spöttisch.

»Wirklich«, seufzte Fidelma, »ihr verfolgt einen bitteren Weg der Rache.«

»Manchmal, dalaigh«, erwiderte Garb, »liegt nur ein kleiner Unterschied zwischen Recht und Unrecht, aber ein großer Unterschied zwischen Recht und Gesetz.«

»Wäre es nicht besser, genauer zu wissen, was mit deiner Schwester geschehen ist, bevor ihr diesen Weg beschreitet?« mahnte Fidelma. »So wie wir auch herausfinden müssen, was mit Botulf geschah?«

»Wir wissen, wessen Hand sowohl Gelgeis als auch Botulf den Tod brachte«, erwiderte Garb fest.

Fidelma blickte Eadulf an und schüttelte warnend den Kopf. Es war zwecklos, weiter von Beweisen zu sprechen mit Leuten, die auf Rache erpicht waren.

»Bruder Botulf war ein freundlicher und hochherziger Mensch«, sagte Bruder Laisre. »An ihm hätten wir einen guten Verbündeten gehabt. Ich hatte schon erfahren, daß Botulf in der Abtei war, weil König Ealdwulf das zur Strafe für ihn verfügt hatte, und daß zwischen ihm und Cild kein gutes Verhältnis bestand. Ich vertraute Botulf. Ich fürchte, daß seine Verbindung mit uns zu seinem Tode geführt hat.«

»Der Abt muß das herausgefunden und ihn umgebracht haben, so wie er andere umgebracht hat«, fügte Garb hinzu. »Das Böse geht mit ihm und ist in ihm, und dafür muß er büßen.«

»Gut gesprochen, mein Sohn«, sagte eine unbekannte Stimme, ruhig und fest. »Aber es muß im Rahmen des Gesetzes getan werden.«

Alle wandten sich zur Tür.

Dort stand ein älterer Mann. Sein Gesicht ähnelte dem von Garb. Er war hochgewachsen, mit straffen Zügen trotz seines fortgeschrittenen Alters. Ein silberner Stirnreif auf seinem dichten weißen Haar bezeugte seinen hohen Rang. Seine Augen waren von tiefem Blau. Sein Mund war schmal, doch fest. Die tiefen Linien, die sein Gesicht durchzogen, zeugten von Kummer und Leid. Er war fürstlich gekleidet.

Man konnte in ihm mühelos den Fürsten Gadra von Maigh Eo erkennen.

Alle erhoben sich respektvoll, als er hereinkam und am Tisch Platz nahm.

»Es sind Fremde unter uns, Bruder Laisre. Vielleicht bist du so gut und stellst mir deine Gäste vor?«

Bruder Laisre neigte den Kopf.

»Dies ist Bruder Eadulf, Abgesandter des Erzbischofs Theodor von Canterbury, und mit ihm reist Fidelma von Cashel.«

Die Miene des alten Fürsten verriet, daß er diesen Namen kannte.

»Fidelma, die Schwester des Königs Colgü von Cashel? Dein Ruf als dalaigh und Rechtsprecherin geht dir voraus, Fidelma. Mein Herz freut sich, dich hier zu sehen, denn du kannst mich in Fragen des Rechts leiten. Ich bin im Begriff, einen Weg einzuschlagen, der zu ernsten Folgen führen kann.«

»Vater« - Garb räusperte sich unsicher -, »Schwester Fidelma ist bereits mit dem vertraut, was du unternehmen willst.«

Der Alte neigte den Kopf.

»Das ist gut. Ich möchte nicht in einem fremden Land sterben, ohne daß mein Name überliefert und mein Schicksal bekannt wird, doch ich fürchte, so wird es kommen. Ja, das fürchte ich.«

Eadulf schüttelte langsam den Kopf. Er hatte gedacht, daß er dieses Volk im wesentlichen kannte und verstand. Aber in solchen Augenblicken wurde ihm klar, daß es einer ganz anderen Kultur angehörte. Der Begriff des troscud, des rituellen Fastens bis zum Tode, um sein Recht zu erlangen, war ihm fremd. Wenn in seiner Kultur ein Mann sein Recht erlangen wollte, dann verletzte er nicht sich selbst, sondern er nahm sein Schwert und zwang seinen Gegner, ihm zu geben, was er verlangte. Sich rituell zu Tode zu fasten, nur um seinen Feind zu beschämen, war eine abwegige Vorstellung. Das würde er nie begreifen.

»Bist du wirklich zu diesem Weg entschlossen, Ga-dra?« fragte Fidelma leise. »Gibt es keine anderen Möglichkeiten, zur Wahrheit zu gelangen, als das troscud?«

Gadra lächelte heiter. »Das Ritual begann, als meine Absicht verkündet wurde. Die Worte sind aus dem Mund meines Sohnes gekommen und können nicht dahin zurückkehren.«

Garb nickte langsam. »Wenn mein Vater während des troscud stirbt und Abt Cild sich nicht dem Schiedsgericht stellt und seine Schuld bekennt, dann liegt die Schande auf ihm, und er ist verdammt in dieser Welt und der nächsten. Jedermann kann ihn ungestraft töten. Der Mann werde ich sein, und wenn es mir nicht gelingt, werden meine Verwandten dafür sorgen, daß die Sühne geleistet wird.«

»Die Leute in diesem Land werden darin keine Gerechtigkeit sehen«, erklärte Eadulf.

»Aber die Leute in meinem Land«, erwiderte Garb gleichmütig.

»Ich möchte dennoch die Wahrheit auf eine andere Weise herausbekommen«, beharrte Eadulf.

Der alte Fürst schaute ihn mit funkelnden Augen an.

»Daran kann dich niemand hindern. Du kannst auf deine Weise vorgehen, aber versuch nicht, mich daran zu hindern, meinen Weg zu gehen.«

Fidelma nickte ernst. »Niemand wird das tun, Ga-dra.« Sie warf Eadulf einen warnenden Blick zu und fuhr fort. »Was nun das Herausfinden der Wahrheit auf andere Weise angeht, so liegt die Schwierigkeit darin, daß alle Zeugen für das tatsächliche Schicksal Gelgeis’ tot sind.«

»Mit Ausnahme eben des Mannes, der sie getötet hat. Möge ihr Schatten ihn bis ins Grab verfolgen«, grollte Garb.

Eadulf fuhr auf, seine Augen weiteten sich.

»Verfolgen?« rief er. »Wie kommst du darauf?«

Garb lachte auf.

»Erzähl mir nicht, daß dein Volk sich vor Geistern aus der anderen Welt fürchtet. Wenn das so ist, dann möge es dem Abt auch so gehen. Mich soll’s freuen, wenn er aus Furcht vor den Schatten zweimal in jede Ecke seines Zimmers guckt oder in jeden dunklen Gang, den er passieren muß.«

Fidelma schüttelte den Kopf so leicht, daß es außer Eadulf niemand bemerkte. Sie stand auf und reckte sich mißmutig.

»Ich fürchte, ich muß um eure Nachsicht bitten.« Sie lächelte die Versammelten an. »Ich hätte gern ein Bett für die Nacht. Nicht, daß es spät wäre, aber ich bin noch geschwächt von den Tagen der Krankheit, die mich in der Abtei festhielt.«

Bruder Laisre trat mit besorgter Miene vor.

»Natürlich, Schwester. Doch hast du vergessen, welcher Abend heute ist? Um Mitternacht feiern wir die Geburt des Christkindes.«

Fidelma schaute verlegen drein. Sie hatte nicht daran gedacht, daß es der Heilige Abend war.

»Wenn ich mich hinlegen darf, bis die Zeit für die Feier gekommen ist ...?«

»Selbst unter unseren ärmlichen Verhältnissen hier im Wald haben wir ein kleines Gästehaus eingerichtet«, antwortete Bruder Laisre mit Würde. »Wenn du erlaubst, weise ich einen der Brüder an, dich dorthin zu bringen und für ein ordentliches Feuer zu sorgen.«

Fidelma blickte Gadra an.

»Entschuldigst du mich, Gadra von Maigh Eo?«

»Ruhe dich gut aus«, erwiderte der Alte ernst. »Wir werden morgen weiter sprechen.«

Sie war auf dem Weg zur Tür, als ihr ein Gedanke kam und sie sich umwandte.

»Eins fällt mir noch ein, bevor ich mich zurückziehe, Bruder Laisre. Ich nehme an, du bleibst in Verbindung mit der Abtei, um den Abt wissen zu lassen, wie das troscud verläuft. Mir scheint, wenn er den Stand des Rituals nicht kennt, wird es wenig Wirkung zeigen. Wer ersetzt nun Bruder Botulf als dein Verbindungsmann in der Abtei?«

Es war Gadra, der die Antwort gab.

»Du hast einen scharfen Verstand, Fidelma, wie es einer dalaigh deines Ranges geziemt. Die Verbindung wird durch den Apotheker der Abtei hergestellt. Er hat versprochen, den Abt auf dem laufenden zu halten.«

»Der Apotheker? Bruder Higbald?« Eadulf war überrascht. »Und wie erfährt er es?«

»Wir haben eine Anzahl von Brüdern, die abwechselnd die Abtei beobachten und Botschaften an einer vereinbarten Stelle niederlegen, wo sie der Apotheker findet und uns Botschaften hinterläßt, wenn er es für nötig hält.«

Fidelma blieb nachdenklich.

»Weshalb erklärte sich Bruder Higbald dazu bereit, als euer neuer Verbindungsmann zu dienen?« fragte sie.

»Vor zwei Tagen führte der Abt einen Trupp hinaus ins Moorland«, sagte Garb. Dann lächelte er. »Nicht lange danach ritt einer der Brüder der Abtei allein auf einem Maultier hinaus und in dieselbe Richtung. Ihn wollten wir abfangen .«

Eadulf schaute verblüfft drein und wollte sich schon als der einsame Reiter zu erkennen geben, als Garb fortfuhr.

»Schließlich sahen wir, wie ihm noch einer der Brüder folgte. Es war, wie sich heraus stellte, Bruder Hig-bald. Er schlug dieselbe Richtung ein. Meine Männer und ich fingen nun ihn ab. Das taten wir, sobald er im Schutz des Waldes war . Ich muß gleich dazu sagen, daß wir ihn mit gezogenen Schwertern anhielten, denn sonst wäre unsere Unterhaltung vermutlich nicht sehr ergiebig geworden.«

»Er wußte vorher nicht, welche Aufgabe er für euch übernehmen sollte?« fragte Eadulf interessiert und überlegte, warum Higbald ihm wohl aus der Abtei nachgeritten war.

»Nein. Wir mußten ihm erst eine Weile zureden, bis er schließlich zustimmte, weil er sich wohl sagte, es sei besser, etwas Kenntnis zu haben als gar keine.«

»Was habt ihr vereinbart?«

»Daß wir an einer bestimmten Stelle nahe der Abtei in einem hohlen Baum eine Nachricht hinterlegen würden, aus der hervorginge, an welchem Tag das tros-cud begänne, und jeder Tag des Rituals verzeichnet wäre, bis Cild zum Schiedsverfahren käme oder .«

Garb zuckte die Achseln und sah seinen Vater von unten her an.

»Bis ich sterbe!« sagte der alte Fürst zornig. »Hab keine Angst, das auszusprechen.«

»Weiß Cild, welche Rolle Higbald dabei spielt?«

»Higbald stimmte dem nur unter der Bedingung zu, daß Cild von seiner Verbindung zu uns nichts erführe. Es blieb ihm überlassen, zu erklären, woher er die Kenntnis habe.«

»Und was ist, wenn Higbald den hohlen Baum verrät, in dem die Nachrichten für Cild liegen? Was ist, wenn Cild Bewaffnete bereithält, um den Überbringer zu fangen?« wollte Eadulf wissen.

Garb verzog das Gesicht. »Das wäre wohl möglich. Aber auch ein solches Vorgehen würde Schande über Cild und Higbald bringen. In unserer Kultur wäre so etwas unerhört . Doch wir sind ja nicht völlig blöd.«

Eadulf schaute verständnislos drein, und Garb erläuterte: »Unser Mann beobachtet die Abtei sorgfältig und geht erst zu dem Baum und hinterlegt die Botschaft, wenn er sicher ist, daß keine Gefahr droht.«

Fidelma sah plötzlich hellwach aus.

»Sag mal, beobachtet auch jetzt jemand die Abtei?«

Garb nickte. »Seit Verkündung des Rituals überwachen wir die Abtei ständig.«

»Wann wird euer Mann abgelöst?«

»Einer besetzt den Posten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und der zweite Mann von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang. Das ist ganz einfach.«

»Wann kommt der Mann, der die Abtei heute den ganzen Tag bewacht hat, nach Tunstall zurück?«

Ihr Eifer verwirrte Bruder Laisre.

»Er ist seit einer halben Stunde wieder hier. Warum?«

»Und was hat er berichtet?« Fidelma wurde beinahe grob vor Ungeduld.

»Nichts. Was sollte er denn berichten?«

»Nichts?« fragte Fidelma ungläubig.

Eadulf beunruhigte der Wechsel ihres Tonfalls, und er konnte sich nicht erklären, was sie so aufregte.

»Na«, meinte er besänftigend, »es gibt doch wahrscheinlich nichts zu berichten, bis das Ritual beginnt, oder?«

Er merkte, daß Fidelma ihn mitleidig ansah. Alle anderen waren ratlos.

»Denk doch mal nach, Eadulf! Weshalb haben wir den Fluchtweg genommen, den Bruder Higbald dir gezeigt hatte, und sind heute morgen aus der Abtei geflohen?«

»Weil wir nicht Abt Cilds falschen Prozeß gegen dich wegen Hexerei abwarten wollten«, begann Eadulf.

Fidelmas Ungeduld war unverkennbar.

»Nein, angeblich war die Abtei in Panik. Wir erhielten die Nachricht, daß eine sächsische Kriegerschar an der nahen Küste gelandet wäre und gegen die Abtei marschiere. Das wäre doch bestimmt etwas gewesen, was dein Mann zu berichten gehabt hätte, Bruder Laisre, oder nicht?«

Garb war schon an der Tür und rief einen Namen. Ein müde wirkender Bruder kam herein und sah sich verlegen um.

»Du hast Aldreds Abtei heute von Sonnenaufgang an beobachtet?« fragte Garb.

Der Mann nickte. »Bis ich bei Sonnenuntergang von Bruder Tola abgelöst wurde. Dann kam ich zurück .«

»Ist heute etwas Ungewöhnliches vorgefallen?«

Der Mönch war verwirrt.

»Überhaupt nichts. Na ja, heute früh kamen ein paar Brüder aus der Abtei, anscheinend bewaffnet. Sie gingen an der Mauer entlang bis zu einer Stelle, wo sie haltmachten und sich aufstellten, als ob sie auf jemand warteten.«

»Aha, sie haben die Wege von Osten her bewacht?« fragte Eadulf.

Der Mönch schüttelte den Kopf.

»Sie schienen eher mit der Abteimauer beschäftigt. Ich glaube, sie standen dort vor einem Loch, aber ich bin nicht sicher. Nach einer Weile rief sie jemand in die Abtei zurück. Ich dachte nicht, daß ich das berichten müßte«, verteidigte er sich.

»Von einer sächsischen Kriegerschar, die von Osten anmarschierte, hast du nichts gesehen oder gehört?«

Der Mann sah erschrocken aus. »Eine Kriegerschar? Da war keine Kriegerschar.«

»Kein Überfall?«

»Wer hat denn davon was erzählt?«

Garb schaute Fidelma an, die nickte und den Mann entließ.

Eadulf war verwirrt. »Das verstehe ich nicht.«

»Es gibt zwei Möglichkeiten«, meinte Fidelma und spitzte nachdenklich die Lippen. »Einerseits könnte es eine List gewesen sein, um uns absichtlich durch die unterirdischen Gänge zu den wartenden bewaffneten Mönchen zu locken, die mit uns ein Ende machen sollten. Ich wüßte aber nicht, warum, denn Abt Cild wollte uns ja sowieso töten lassen.«

Eadulf stieß einen lautlosen Pfiff aus.

»Aber wir kamen nicht aus diesem Gang ... Aha!«

Ihm fiel plötzlich ein, daß er sich bei den Anweisungen Bruder Higbalds geirrt hatte. Vielleicht war es ihr Glück gewesen, daß sie einen anderen Weg genommen hatten, der sie sicher aus der Abtei heraus und von dem Hinterhalt fort geführt hatte.

Der alte Fürst Gadra saß immer noch unbewegt da.

»Du sagtest, es gebe noch eine andere Möglichkeit, Fidelma von Cashel. Welche ist das?«

Sie sah ihn mit ernster Miene an.

»Die zweite Möglichkeit ist, daß es auch eine List war, mit der man uns in die Gänge locken wollte, aber in der Absicht, daß wir genau das tun sollten, was wir getan haben: euch zu suchen und auf diese Weise Abt Cild und seine Männer hierher zu führen.«

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