Eadulf ließ Fidelmas Hand los und ging nach vorn, wo Bruder Higbald sich immer noch über die Leiche beugte. Der Apotheker blickte auf. Eadulf war überrascht von dem Zorn in seinem Gesicht. Higbald schien etwas zu ihm sagen zu wollen, doch dann schaute er rasch zur Seite. Eadulf sah sich die Züge des toten Mädchens aus der Nähe genau an. Danach wandte er sich dem schluchzenden Bruder Redwald zu, der sich bemühte, ein Gefühl zu meistern, von dem Eadulf wußte, daß es nicht Kummer war.
»Komm her«, befahl ihm Eadulf in einem scharfen, gebieterischen Ton, der die Umstehenden überraschte.
Der junge Mann gehorchte unwillkürlich. Er schlurfte zu Eadulf hin und stellte sich neben ihn. Sein Gesicht zuckte nervös.
»Hab keine Angst, mein Sohn.« Plötzlich war Ea-dulfs Ton sanft, doch fest. »Dieser Körper blutet zu stark, als daß er ein Geist sein könnte. Ich möchte, daß du dir das Gesicht ansiehst.«
Bruder Redwald starrte ihn mit großen, bittenden Augen an.
»Das kann ich nicht, Bruder ...«
»Schau hin!« fuhr ihn Eadulf an.
Widerwillig senkte der junge Mann den Blick zu der Leiche.
»Sag uns allen, ist das Gelgeis? Du hast behauptet, daß du sie gut gekannt hast. Ist sie das?«
Bruder Redwald schloß die Augen und vermied es, die Leiche anzusehen. Er nickte nur heftig und trat rasch zurück.
»Willst du damit behaupten, daß dies eine Frau ist, die schon über ein Jahr tot ist?« knurrte Sigeric zornig. »Denk nach, Junge. Dies ist ein leibhaftiger Leichnam und kein Geist.«
Bruder Redwald weinte verschüchtert und schwieg.
»Dieser junge Mann ist als Zeuge nicht zu gebrauchen«, mahnte Fidelma und trat vor. Sie blickte zu Bruder Willibrod hin. »Sollen wir bezeugen, wer dieses Mädchen ist, dominus, oder tust du es?«
Sigeric war überrascht. »Ihr wißt, wer das Mädchen ist?«
Fidelma verzog das Gesicht und sah immer noch Bruder Willibrod an. Er war zu tief in seinen Schmerz versunken, um ihr zu antworten.
»Dann werde ich es erklären«, sagte Eadulf. »Dieses Mädchen ist hier in der Gegend als Lioba bekannt.«
»Meinst du, daß Gelgeis nicht tot war, sondern unter dem Namen Lioba weitergelebt hat?« fragte Sigeric sofort. »Du hast mir erklärt, daß du den Verdacht hegst, ein Mädchen namens Lioba sei in eine Verschwörung verwickelt. Das gerät mir jetzt ziemlich durcheinander. Was hat das alles mit Willibrod zu tun?«
»Es wäre mir lieber, wenn Bruder Willibrod diese Frage beantwortete«, erwiderte Eadulf bestimmt.
»Ich verstehe überhaupt nicht mehr, was hier vorgeht«, seufzte Sigeric. Er schaute hinüber zu Fidelma. Sie beugte sich über den Leichnam des Mädchens und betrachtete anscheinend ihre Kleidung. Dann blickte sie zu Eadulf auf und schüttelte kurz den Kopf. Sige-rics Miene wechselte rasch zwischen Verwirrung, Ärger und schließlich Resignation.
»Niemand rührt hier etwas an«, befahl er. »Bringt Abt Cild in sein Zimmer, und einer bleibt bei ihm. Bruder Willibrod, kannst du allein in dein Zimmer zurückkehren?« Der dominus riß sich bei diesem harten Befehlston sichtlich zusammen. Er stand auf, wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht und neigte bittend den Kopf. »Dann tu das. Führe auch den jungen Mann weg« - Sigeric deutete auf Redwald - »und kümmere dich um ihn.«
Sigeric gab noch eine Reihe weiterer Befehle und stellte seine Krieger als Wachen rings um die Kapelle auf. Schließlich wandte er sich wieder Fidelma und Eadulf zu. Es fiel ihm anscheinend schwer, seine Gedanken in Worte zu fassen.
»Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht«, begann er zögernd. »Meine Fragen warfen neue Fragen auf, und jetzt hat anscheinend der Abt in dieser Kapelle eine Frau getötet, weil er sie für den Geist seiner toten Frau hielt. Aber ihr sagt, es sei eine Frau aus dieser Gegend und sie heiße Lioba. Das verstehe ich nicht.«
Sie warteten schweigend ab, was er weiter sagen wollte.
Sigeric war ein stolzer Mann, und es war schwierig für ihn, seine Entscheidung auszusprechen.
»Vielleicht war es mein Fehler, euch einzusperren, während ich versuchte, eure Behauptungen über Abt Cild nachzuprüfen. Unter Umständen hätten wir diesen Tod vermeiden können.«
Fidelma wartete noch einen Moment, ehe sie antwortete.
»Du hast getan, was du für das Richtige hieltest. Daraus kann dir niemand einen Vorwurf machen.«
Sigeric sah immer noch betroffen aus.
»Worauf ich hinaus will, ist, hast du eine Erklärung für das, was hier vorgeht, Fidelma von Cashel? Ich ... Ich wäre für deine Unterstützung dankbar.«
Fidelma schaute ihn nachdenklich an. Der Mann tat sein möglichstes, um ein Vorurteil seiner Kultur zu überwinden. Schließlich lächelte sie freundlich.
»Ich glaube, ich habe eine Erklärung für die Tragik, die diese Abtei beherrscht.«
Sigeric blickte sie weiter mit verlegener Miene an.
»Du glaubst, du kannst das Geheimnis aufdecken?«
Fidelma nickte rasch. »Ich bin mir sicher.«
»Dann tue es.«
Zu Eadulfs Überraschung schüttelte Fidelma den Kopf.
»Das tue ich nur unter bestimmten Bedingungen«, verkündete sie zuversichtlich.
Sigerics Miene wurde zornig.
»Wagst du es, mit mir zu handeln?« fragte er scharf.
»Ich will nicht handeln«, versicherte sie ihm. »Ich will dir nur sagen, was ich brauche, um diesen Fall zu einem erfolgreichen Abschluß zu führen.«
Sigeric zögerte und bezwang seinen Unmut. In seinem Gesicht spiegelte sich sein innerer Kampf, doch dann schien er sich zu entspannen. Er gewann seine Gelassenheit zurück.
»Und was ist das, was du brauchst?« fragte er leise.
»Die vollständige Freiheit und Vollmacht, die Untersuchung in der Weise zu führen, wie ich es gewohnt bin. Ich bitte dich nicht, einen Gerichtshof der Art einzurichten, wie wir es in den fünf Königreichen von Ei-reann tun, doch gestatte mir, die Zeugen, deren ich bedarf, vorzuladen und zu befragen, wobei ich deine Autorität benötige, um sie zum Beantworten meiner Fragen zu zwingen, wenn sie versuchen, sich auf eure Bräuche zu berufen, die Frauen kein Recht dazu geben.«
Sigeric blinzelte heftig. »Wir betrachten Frauen nur als .« Er hielt inne und zuckte die Achseln. »Das ist viel verlangt von meinen Landsleuten.«
»Wenn ich die Untersuchung abgeschlossen habe«, fuhr Fidelma fort, als habe er sie nicht unterbrochen, »dann und erst dann wirst du die verurteilen, die schuldhaft gehandelt haben. Ich möchte aber, daß Leute frei in die Abtei kommen und sie frei wieder verlassen können, wenn sie in der Angelegenheit, die wir untersuchen, nicht schuldig sind.«
Es herrschte Schweigen, während Sigeric ihren Vorschlag überdachte.
»Du stellst mir eine Falle, Fidelma«, sagte er schließlich. »Du deutest damit an, daß du Leute vorladen wirst, die möglicherweise anderer Verbrechen schuldig sind.«
»Schuldig keiner Verbrechen, von denen ich weiß, aber vielleicht schuldig in deinen Augen«, erklärte sie.
»Wer zum Beispiel?«
»Ich denke an Aldhere.«
Sigeric staunte. »Der frühere Than von Bretta’s Ham? Der Geächtete? Den würdest du hierher vorladen? Er ist schuldig genug, um für seine anderen Taten gehängt zu werden.«
»Trotzdem brauche ich ihn hier, und zwar mit freiem Geleit. Ihn und seine Frau Bertha.«
Wieder zögerte Sigeric. Es war klar, daß es ihm widerstrebte, die Entscheidung zu treffen, die er treffen mußte. Schließlich hob er leicht resignierend die Arme.
»Du hast mein Wort. Ich nehme deine Bedingungen an.«
»Natürlich müssen wir auch Gadra und seine Gefolgsleute ersuchen, hier zu erscheinen. Das ist ganz wesentlich. Dein König sieht sie vielleicht nicht gern in seinem Reich. Doch sie sind nun einmal hier, und sie müssen ebenfalls mit freiem Geleit kommen und gehen können.«
»Möchtest du noch jemanden einladen? Vielleicht Si-gehere von den Ost-Sachsen? Oder Wulfhere von Mer-cia?« fragte Sigeric spöttisch. »Ich vermute, das freie Geleit erstreckt sich auf alle, die irgendwie schuldig sind.«
»Ich muß jedem sagen können, daß er frei herkommen kann, doch wenn ihm Mord oder verräterische Verschwörung gegen dieses Königreich nachgewiesen wird, daß er dann nicht frei gehen kann. Wer unter dieser Bedingung die Reise nicht antritt und lieber wegbleibt, dessen Abwesenheit kann gegen ihn ausgelegt werden.«
Sigeric kniff einen Moment die Augen zusammen und brach plötzlich in ein Gelächter aus.
»Bei Wotans Schwert, du bist eine kluge Frau, Fidelma . Es tut mir leid, daß ich nicht früher auf dich gehört habe.«
»Habe ich deine Zustimmung dafür?«
»Die hast du.«
»Dann brauche ich Reiter, die Aldhere und Gadra aufsuchen.«
Sie blickte in das düstere Gesicht des Apothekers, der sich im Hintergrund hielt, und rief ihn heran.
»Bruder Higbald, ich möchte, daß du mit Bruder Laisres Mann draußen vor der Abtei Verbindung aufnimmst ...«
Dem Apotheker sank die Kinnlade herunter.
»Das weißt du?« keuchte er.
»Ich weiß, daß du gegen deinen Willen der Verbindungsmann zu Gadra, Garb und Bruder Laisre bist. Ich brauche sie morgen mittag hier in der Kapelle. Sag ihnen, daß ich ihnen freies Geleit zusichere.«
Bruder Higbald zögerte noch.
Sigeric hatte zweifellos viele Fragen, doch er machte nur eine ungeduldige Geste.
»Tu, was sie sagt. Du kannst noch meine Garantie für Schwester Fidelmas Geleit hinzufügen.«
»Wenn wir jetzt noch Mul finden könnten ...«, überlegte Fidelma, während der Apotheker davoneilte.
»Den Bauern Mul? Den sie hier den verrückten Mul nennen?«
Überrascht wandte sich Fidelma zu Sigeric um. »Kennst du ihn?«
»Meine Männer haben ihn in der Abenddämmerung aufgegriffen, als er sich Eingang in die Abtei verschaffen wollte. Ich werde ihn sofort freilassen.«
Fidelma sah Eadulf erstaunt an.
Sigeric lächelte. »Als er bis zur verabredeten Zeit in der Schmiede nichts von euch hörte, befürchtete er, daß euch etwas zugestoßen sei, und versuchte, in die Abtei zu gelangen und euch zu befreien. Ein tollkühner Mensch, aber offensichtlich einer, der euch treu ergeben ist. Ihr könnt ihm sagen, wie er sich weiter verhalten soll.«
»Daß Mul herkam, ist ein Glücksfall«, meinte auch Fidelma. »Morgen mittag können wir alle Beteiligten hier in der Kapelle versammeln und ein merkwürdiges Geheimnis enträtseln. Doch zuvor möchte ich dir gern noch eine Frage stellen.«
Der Alte lachte kurz auf.
»Wie könnte ich dir das jetzt noch verweigern? Frag nur, Fidelma.«
»Zu welchem Zweck bist du in die Abtei gekommen? Was bringt den Oberhofmeister in diese entlegene Ecke des Königreichs?«
Sigeric schmunzelte. »Eine gute Frage und eine, die ich erwartet hatte.«
»Erhält sie auch eine Antwort?«
»Ja. Ich kam her, weil Bruder Botulf an König Ealdwulf appelliert hatte, über Aldheres Ächtung erneut zu verhandeln.«
»Und sollte es eine neue Verhandlung geben?«
Sigeric schüttelte den Kopf. »Es sollte bei dem ersten Urteil bleiben. Außerdem gab es noch Beschwerden von Abt Cild, der Than von Bretta’s Ham werden wollte.«
»Und was solltest du ihm sagen?« fragte Fidelma.
»Ich sollte Cild raten, sich mit dem Spruch seines Königs abzufinden. König Ealdwulf wurden seine Beschwerden lästig.«
»Er hatte das ursprüngliche Urteil des Königs nicht annehmen wollen«, erinnerte ihn Eadulf. »Warum sollte er das jetzt tun?«
»Das hat möglicherweise den Teufel in ihm geweckt.« Sigeric überlegte einen Augenblick. »Ich bin kein Christ, aber ich bin alt genug, um zu erkennen, wenn der Teufel in einem Menschen steckt. Ich glaube, der König hat einen Fehler gemacht, als er ihn als Abt dieser Abtei bestätigte. Ich werde ihn nach meiner Rückkehr ersuchen, die Angelegenheit mit seinem Bischof zu besprechen. Cild ist für dieses Amt hier nicht geeignet.«
»Es erscheint mir eigenartig, daß der König seinen Oberhofmeister den ganzen weiten Weg hierher schickt, nur um das festzustellen«, bemerkte Eadulf. »Dafür hätte auch ein Abgesandter niederen Ranges genügt.«
Sigeric lächelte ihm zu, und seine hellen Augen funkelten.
»Du beobachtest gut, Eadulf. Das war nicht der einzige Grund, weshalb ich hergeschickt wurde. Nun gut, ich werde es euch sagen. Bruder Botulf war vielleicht im Irrtum, als er sich für Aldhere einsetzte, aber er war ein guter Mann. Er hatte berichtet, daß es in den letzten Monaten in wachsender Zahl Überfälle durch Kriegerbanden gegeben hatte, die seiner Ansicht nicht Aldhere anzulasten waren. Er glaubte, daß Cild dafür verantwortlich sei, aber er konnte es nicht beweisen. Ich kam her, um das zu untersuchen.«
»Und was ist mit Aldhere?« fragte Fidelma.
»Aldhere? Morgen ist er sicher. Ob die Überfälle und Brandschatzungen nun von ihm oder von seinem Bruder ausgingen - und das werde ich schon herausbekommen -, so bleibt Aldhere doch geächtet und wird vom König nicht begnadigt.«
»Meinst du, daß das Urteil gegen ihn gerecht war?«
Wieder lächelte Sigeric dünn. »Du hast zweifellos mit Aldhere gesprochen?«
»Natürlich.«
»Er ist eine beeindruckende und überzeugende Erscheinung. Sagen wir, das Urteil des Königs war gerecht entsprechend dem, was ihm vorgetragen wurde. Der König wird seinen Spruch nicht ändern.«
Fidelma nickte gedankenvoll. »Na, dann können wir an unsere Hauptaufgabe gehen und versuchen, das Übel zu entlarven, das alle diese Mauern zu durchdringen scheint.«
Die Kapelle war voll besetzt, nicht nur mit Mitgliedern der religiösen Gemeinschaft der Abtei, sondern auch mit Gadra und Garb und ihren Gefolgsleuten, mit Bruder Laisre und seinen Mitbrüdern, mit dem spöttischen Aldhere samt Bertha und einigen seiner Schar von Geächteten, die er zu seinem persönlichen Schutz mitgebracht hatte, wie er behauptete. Ferner war der Bauer Mul anwesend, der am Vormittag als Fidelmas Bote fungiert hatte. Lord Sigeric hatte den gewohnten Platz des Abts vor der Gemeinde eingenommen. Er trug eine Amtskette und hatte seinen Amtsstab bei sich.
Als Fidelma die Kapelle betreten hatte, mit Eadulf an ihrer Seite, war ihr aufgefallen, daß von Abt Cild nichts zu sehen war, und sie hatte sich sofort bei Sige-ric nach ihm erkundigt.
»Der Mann ist geistig umnachtet, Schwester. Er lebt nicht mehr in dieser Welt«, erklärte ihr der Oberhofmeister. »Der Mord an dem, was er für den Geist seiner schon lange verstorbenen Frau hielt, hat sein Gemüt völlig verstört. Er sitzt in seinem Zimmer, murmelt und kichert vor sich hin und hat sich in seine eigene Welt zurückgezogen. Es wäre sinnlos, ihn vor diese Versammlung zu bringen.«
Diese Nachricht überraschte sie nicht. Sie hatte gesehen, in welchem Zustand Abt Cild war, als er in sein Zimmer geführt wurde. Davon, dachte sie, würde er sich nicht so schnell erholen, wenn überhaupt jemals. Das war auch eine Art von Gerechtigkeit, wenn es auch besser gewesen wäre, er hätte sich vor dieser Versammlung für seine Sünden verantworten können.
Sie schaute sich unter den Versammelten um und erblickte Bruder Willibrod auf einem hervorgehobe-nen Platz. Er wirkte nun wieder gefaßt und hielt sich aufrecht. Sein eines ruheloses Auge war gerötet vom Weinen. Neben ihm saß der junge Bruder Redwald mit blassem, verstörtem Gesicht. Ab und zu erschauerte er.
Sigeric räusperte sich und flüsterte Fidelma zu: »Bist du nun bereit, uns über diese Angelegenheit aufzuklären, Schwester?«
»Ja«, antwortete sie fest.
Sogleich erhob sich Sigeric, und es trat eine erwartungsvolle Stille in der Kapelle ein. Obwohl es nicht erforderlich war, klopfte er mit seinem Amtsstab auf den Boden.
»Die meisten von euch kennen mich«, begann er in einem schroffen Tonfall, der ihm die Aufmerksamkeit aller sicherte. »Ich bin Lord Sigeric, Oberhofmeister Ealdwulfs, des Königs der Ost-Angeln. Ich bin hierher gesandt, um nach dem Gesetz der Wuffingas Recht zu sprechen. Ihr alle seid auf mein Wort hin sicher hergekommen, und ihr könnt in Sicherheit wieder gehen, sofern nicht jemand unter euch ist, der sich eines Verbrechens schuldig gemacht hat im Zusammenhang mit den Todesfällen, die sich in dieser Abtei ereignet haben, oder des Verrats an diesem Königreich schuldig ist. Ich nehme an, ich habe mich klar genug ausgedrückt?«
Er hielt inne, und da ihm niemand antwortete, wies er mit der Hand auf Fidelma.
»Ihr alle mögt wissen, daß dies Fidelma ist, die Schwester des Königs von Muman im Lande Eireann.
Man hat mir berichtet, daß sie in ihrer Heimat eine angesehene Anwältin ist. Auch außerhalb der Grenzen ihres eigenen Landes ist sie, so von König Oswy von Northumberland, zu Rate gezogen worden, auch von dem Oberhaupt eurer christlichen Religion, der im fernen Rom lebt. Obwohl ich das Gesetz der Wuf-fingas vertrete, das Frauen keine amtliche Stellung zugesteht, und ich dem alten Glauben anhänge, habe ich mich damit einverstanden erklärt, daß Fidelma von Cashel unter meinem Vorsitz die Vollmacht erhält, die Wahrheit über die Dinge zu erforschen, die sich in der Abtei ereignet haben. Niemand hier darf sich dieser Vollmacht widersetzen, denn damit widersetzt er sich meiner Amtsgewalt und der des Königs, den ich vertrete. Ist das klar?«
Wieder trat Schweigen ein, während sich alle überrascht ansahen, doch niemand etwas sagte. Die Angeln und Sachsen waren im ersten Moment entsetzt über das, was Sigeric verkündete. Daß eine Frau vor ihnen einen Prozeß führte, widersprach allen ihren Erfahrungen. Sigeric faßte ihr verblüfftes Schweigen einfach als Zeichen ihrer Zustimmung auf. Er setzte sich wieder und winkte Fidelma, seinen Platz vor der Versammlung einzunehmen.
Fidelma hatte schon vor größeren und hochrangigeren Zusammenkünften plädiert und hatte keine Scheu, zu einer Zuhörerschaft zu reden, die zugleich überrascht und feindselig war.
Anscheinend waren nur Gadras Gruppe und die irischen Mönche nicht verwirrt dadurch, daß Fidelma aufgefordert wurde, die Verhandlung zu führen. Viele von ihnen lächelten, erfreut darüber, daß eine Vertreterin ihres eigenen Rechtssystems den Fall vortragen sollte.
»Ein Sprichwort meines Volkes sagt«, begann Fidelma, »daß ein Übel wie eine Nadel eindringt und wie eine Eiche wächst. Es hat wahrlich ein großes Übel innerhalb dieser Mauern gegeben.«
Diese nachdrückliche Eröffnung fesselte die Aufmerksamkeit aller, und das Gemurmel, das sich bei den Angeln und Sachsen erhoben hatte, als sie vortrat, ebbte langsam ab. In der eintretenden Stille war nur das Flüstern Bruder Laisres zu hören, der es übernommen hatte, die Reden für Gadra aus dem Sächsischen ins Irische zu übersetzen. Garb verstand die Sprache anscheinend gut genug, um der Verhandlung folgen zu können.
»Es ist angemessen, daß wir heute, am Tag des Festes der Unschuldigen Kinder, hier versammelt sind. An diesem Tag erinnern wir uns an die Kinder von Bethlehem, die auf Befehl des Königs Herodes getötet wurden, der damit das Kind Jesus vertilgen wollte. An diesem Tag gedenken wir des unschuldigen Blutes, das vergossen wurde. Welcher Tag wäre besser geeignet, Rechenschaft zu fordern für das unschuldige Blut, das hier vergossen wurde?«
Sie hielt inne und sammelte ihre Gedanken.
»Es hat verschiedene Mordtaten gegeben, die innerhalb dieser Mauern geschahen oder von ihnen ausgingen. Diese Mauern sind fast vom Blut getränkt. Das ziemt sich nicht für ein Haus religiöser Andacht. Ich habe schon bald nach meiner Ankunft hier erfahren, daß die ursprünglichen Brüder verjagt und einige von ihnen hingerichtet worden sind. Bruder Pol zum Beispiel wurde als Ketzer vor dem Tor gehängt. Wir haben gehört, daß auch die Frau des Abts, einsam und unglücklich, zu Tode kam. Manche behaupten, sie habe durch die Hand ihres Gatten den Tod gefunden, andere meinen, sie sei in einen nahen Sumpf geraten und habe ein tragisches Ende genommen.
Man hat uns berichtet, daß in den letzten sechs Monaten die Menschen dieser Gegend Überfällen auf ihre Bauernhöfe und Heimstätten ausgesetzt waren. Der hiesige Bauer Mul, der heute anwesend ist, verlor seine Frau und seine beiden Kinder durch die Waffen dieser Räuber.
Bruder Eadulfs Freund, Bruder Botulf, bat uns herzukommen, weil er Hilfe brauchte. Am Vormittag des Tages, an dem wir eintrafen, wurde er ermordet. Vor zwei Tagen wurden Botulfs Vetter, einer von Aldhe-res Geächteten, und mehrere andere seiner Männer getötet. Es gibt Anzeichen dafür, daß sie von Brüdern dieser Abtei umgebracht wurden, und Mul kann ebenfalls berichten, daß Spuren auf seinem Hof darauf hindeuten, daß der Überfall von Mönchen dieser Abtei verübt wurde.«
Das rief ein erstauntes Gemurmel bei vielen der Brüder hervor, während die Männer Aldheres und Gadras den Mönchen der Abtei zornige und drohende Blicke zuwarfen.
Fidelma hob die Hand und forderte Ruhe.
»Während all dieser Gewalttaten behauptete der Abt, er werde vom Geist seiner Frau Gelgeis verfolgt.«
»Gottes Gerechtigkeit!« rief Bruder Tola aus den Reihen der irischen Mönche dazwischen. »Der Schatten einer gequälten und ermordeten Frau. Möge er ihn bis in die Hölle verfolgen!«
Ein unruhiges Murren erhob sich, und wieder mußte Fidelma mit erhobenen Händen Ruhe schaffen.
»So besessen war Abt Cild davon, daß er mich sogar beschuldigte, ich hätte dieses Gespenst heraufbeschworen, das nun anscheinend in der Abtei umging. In der letzten Nacht begegnete ihm eine junge Frau, die er für diesen Geist hielt, und in seinem Wahn zog er ein Messer und erstach sie.«
Sie sah Bruder Redwald dasitzen und zittern.
»Sie war es«, flüsterte er so laut, daß man ihn verstand. »Es war Lady Gelgeis. Ich habe sie gesehen.«
Gadra sprang mit zornerfülltem Gesicht auf, als er die Übersetzung vernahm.
»Was soll dieser Unsinn?« rief er. »Meine Tochter wurde schon vor Monaten von Cild ermordet. Wer sagt da, sie wäre in der letzten Nacht erstochen worden?«
»Still, Gadra von Maigh Eo«, erwiderte Fidelma. »Die Sache wird aufgeklärt, aber alles zu seiner Zeit. Unser Geheimnis besteht aus mehreren Fäden - getrennten Fäden, die sich wie nach einem vorbestimmten Muster verwickeln und an diesem düsteren Ort zusammenkommen. Ich werde einen nach dem anderen aufrollen, oder es jedenfalls nach besten Kräften versuchen. Ich habe das Wort des Oberhofmeisters Sigeric, daß niemand dieses Verfahren zu fürchten braucht, wenn er nicht direkt des Verrats oder gewaltsamer Tötung schuldig ist.«
Sigeric nickte von seinem Sitz aus.
»Ich habe meine Absicht klar ausgedrückt«, verkündete er mit Bestimmtheit. »Mach weiter.«
»Beginnen wir mit einem Gebiet, auf dem ich mich recht gut auskenne, Gadras troscud. Gadra.« Sie sprach ihn direkt an.
Der alte Fürst von Maigh Eo erhob sich wieder von seinem Sitz.
»Du kennst die Bedingungen des rituellen Fastens sehr gut, Schwester Fidelma. Du kannst es mir nicht ausreden.«
»Allerdings nicht. Aber du hast gehört, daß Abt Cild geistesgestört ist. Das Gesetz im Text Do Brethaibh Gaire, das dazu gedacht ist, die Gesellschaft vor den Geisteskranken zu schützen und die Geisteskranken vor der Gesellschaft, legt fest, daß du nicht gegen jemanden fasten kannst, der geisteskrank ist.«
Während sie zu ihm sprach, war sie ins Irische gewechselt, und Eadulf übersetzte für die Zuhörer, die kein Irisch verstanden.
Gadra ließ sich nicht beirren.
»Sollte es sich erweisen, daß Cild geisteskrank geworden ist - und das Gesetz verlangt diesen Beweis -, dann berührt das nicht mein Bestreben, Gerechtigkeit zu erlangen.«
»Inwiefern?« erwiderte Fidelma, die das sehr gut wußte, es ihm aber überlassen wollte, den Versammelten das Gesetz zu erklären.
»Weil das Verbrechen an meiner Tochter Gelgeis begangen wurde, als er noch geistig gesund war. Deshalb ist er vor dem Gesetz weiterhin verantwortlich dafür, und die Entschädigung für den Tod meiner Tochter muß trotzdem gezahlt werden.«
»Aber ein dasachtarch« - Fidelma benutzte den juristischen Begriff für einen Geisteskranken mit gewalttätigen und zerstörerischen Launen - »ist nicht haftbar.«
»Nein, aber seine Verwandtschaft ist es«, erwiderte der alte Fürst verbittert. »Da es sich um einen Mönch handelt, gilt die Gemeinschaft dieser Abtei als seine Verwandtschaft, und sie muß mich für den Tod meiner Tochter entschädigen. Tut sie es nicht, richtet sich mein Fasten gegen diese Abtei, und ich führe es durch bis zu meinem Tode.«
Fidelma schüttelte traurig den Kopf.
»Nie habe ich einen Mann gesehen, der so eifrig seinen Tod betreibt, Gadra«, kritisierte sie.
Aldhere stand auf und lächelte mit seiner gewohnten spöttisch-belustigten Miene.
»Ein Gutes hat mein Bruder Cild wenigstens getan, Schwester. Er trat in die Kirche ein, und damit wurde die Kirche seine Familie. So bin ich nach euren Gesetzen von der Zahlung einer Entschädigung für seine Taten befreit.«
»Das Gesetz lautet so, wie Gadra es sagt«, erklärte sie.
»Also, Gadra, du bist entschlossen, am troscud festzuhalten, mit allen Folgen, die daraus entstehen?«
Garb war aufgesprungen, um seinen Vater zu unterstützen.
»Das hat mein Vater gesagt«, grollte er. »Nur weil der Mörder jetzt Zuflucht in den dunklen Bereichen seines Hirns sucht, hebt das nicht seine Verantwortlichkeit auf.«
»Aber wenn nun das Mädchen, das der Abt gestern abend in seinem Verfolgungswahn erstach, Gelgeis war, was dann?« schaltete sich Eadulf ein, sehr zu Fidelmas Mißvergnügen. »Das würde bedeuten, daß Gelgeis vor einigen Monaten ihren Tod vorgetäuscht hat und inzwischen ihr eigenes Spiel spielte.«
Einen Moment herrschte überraschtes Schweigen. Dann lachte Garb.
»Wenn diese lächerliche Behauptung stimmte, wolltest du damit beweisen, daß Cild nach dem Gesetz nicht verantwortlich wäre?«
Bevor Fidelma eingreifen konnte, antwortete Eadulf, der ihre mißbilligende Miene bemerkt hatte: »Ich sprach nur eine Vermutung aus, Garb.«
Zorniges Murren erhob sich, wurde jedoch von Garbs Stimme übertönt: »Eine grausame Vermutung, während wir doch die Tatsachen kennen! Aber ich will dir darauf antworten. Es würde immer noch bedeuten, daß Cild meine Schwester ermordete, ob die Tat nun im vorigen Jahr oder in der vorigen Nacht geschah! Eine Entschädigung wäre so oder so fällig.«
Die Unruhe verstärkte sich.
»Willst du so argumentieren?« fragte Sigeric dazwischen. »Behauptest du, daß Gelgeis bis gestern abend noch am Leben war und an einer Verschwörung beteiligt? Was war deren Zweck? Cild in den Wahnsinn zu treiben?«
»Ich will beweisen, daß eine lebende Person in dieser Abtei umging und nicht ein Gespenst«, antwortete Fidelma gelassen. »Was ich noch nicht genau weiß, ist, wer diese Person war. Ich bin überzeugt, daß Cild, ob im Wahn oder im Ernst, glaubte, es sei seine Frau. Der nächste Schritt in diesem Verfahren besteht darin, festzustellen, wer das tote Mädchen war.«
Sigeric sah etwas verwirrt aus, und Fidelma fuhr fort.
»Zweifellos sah der Abt eine Person, die er für den Geist seiner Frau hielt, und das verstärkte seinen Wahn«, erklärte sie. »Vom Beginn seines Lebens an war Cild geistig nicht normal veranlagt. Aldhere sprach die Wahrheit, als er die Wutanfälle seines Bruder im Jugendalter schilderte, die der Grund dafür waren, daß sein Vater ihn enterbte. Der wußte, daß sein ältester Sohn geisteskrank war. Wie diese Krankheit begann, das weiß ich nicht. Welches Übel in ihm steckte, ist schwer zu sagen. Ein einzelnes Blatt einer Eiche wird nicht von selbst braun, verwelkt und fällt ab. Wenn das passiert, weiß es der ganze Baum. Wenn wir nach diesem Grund forschen, müssen wir uns Cilds Familie zuwenden.«
Aldhere lachte laut auf. »Bei mir wirst du keinen Wahnsinn feststellen, Schwester.«
»Das glauben wir dir aufs Wort - jedenfalls vorerst.« Fidelma lächelte frostig. »Doch darum geht es im Augenblick nicht. Es geht um Cilds Verhalten. Es wurde mit der Zeit immer absonderlicher. Als er anfing, das zu sehen, was er für die Geistererscheinung seiner Frau hielt, trieb ihn das nur noch weiter, noch schneller in den Abgrund des Wahnsinns.«
Sigeric nickte anerkennend. »Und als er dann die Gelegenheit fand, schlug er bei dem Mädchen zu?«
»So war es. Er traf in der Kapelle auf Lioba, und in der Dunkelheit verlor er den Verstand. In seiner Angst und Wut stach er sie nieder.« Sie schaute sich in der Versammlung um. »Aber dabei gibt es noch etwas Wichtiges zu beachten.«
»Nämlich?« fragte Sigeric, als Fidelma innehielt.
»Jemand hat das Auftauchen dieser Erscheinungen in die Wege geleitet. Ich habe erfahren, daß in der jetzigen Jahreszeit, die ihr vor der Einführung der christlichen Feiertage die Julzeit nanntet, die Toten sich an den Lebenden rächen konnten. Ich meine, daß die Erscheinungen auf diese Zeit abgestimmt waren. Jemand hatte vor, Cild in den Wahnsinn zu treiben.«
Plötzlich trat eine erwartungsvolle Stille ein.
Langsam wandte sich Fidelma dorthin, wo Bruder Higbald saß. Er merkte, daß ihr Blick an ihm hängenblieb und ein leichtes Lächeln ihre Mundwinkel umspielte, und er erwiderte ihren Blick mit einem Stirnrunzeln. Bald hüstelte er nervös.
»Warum starrst du mich so an, Schwester?« fragte er gepreßt.
»Lioba kam gestern abend in die Abtei, um sich mit jemandem zu treffen«, sagte sie. »Sie wollte sich mit dir treffen, Bruder Higbald.«
Der Apotheker kniff leicht die Augen zusammen. »Wieso denkst du das?«
»Das denke ich nicht, Higbald. Ich weiß es. Du kanntest Lioba gut ...«
»Das taten viele Leute«, entgegnete der Apotheker heftig. »Viele kannten sie sehr gut. Sie verkaufte ihren Körper für jeden Preis ...«
Für einen Mann seines Umfangs und mit seiner Sehbehinderung bewegte sich Bruder Willibrod mit einer Schnelligkeit, die die meisten überraschte. Eadulf schaffte es, sich dazwischenzuwerfen, bevor der dominus den Apotheker erreichte. Er packte ihn mit festem Griff an einem Arm und schob ihn auf seinen Platz zurück.
»Beherrsche dich, Willibrod«, zischte er ihn an. »Unser Ziel ist es, die Wahrheit zu ergründen, auch wenn sie uns nicht gefällt. Setz dich und verhalte dich ruhig, sonst wirst du von dieser Verhandlung ausgeschlossen.«
Als die Ordnung wiederhergestellt war, nahm Fidelma erneut das Wort: »Lioba mag wohl ihren Körper verkauft haben, aber nicht an dich, Higbald. Zu dir hatte sie anscheinend eine besondere Beziehung. Wie kam das?«
Der Apotheker zuckte mit gespielter Gleichgültigkeit die Achseln. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Dann will ich es dir sagen. Du hast Eadulf und mich überredet, aus der Abtei zu fliehen, indem du uns erklärtest, eine Kriegerschar wäre im Anmarsch auf die Abtei. Das stimmte nicht. Lioba und ein Trupp Krieger warteten an der Stelle, an der wir, wie sie glaubten, aus dem Geheimgang auftauchen würden. Du hattest es uns beschrieben. Nur weil Eadulf sich irrte, kamen wir an anderer Stelle heraus.«
Higbald antwortete nicht, sondern sah sie finster an.
»Zudem war Lioba unter den Kriegern, mit denen du dich neulich nachts mit Cild und Willibrod treffen wolltest. Cild hatte den vereinbarten Ort aber schon früher verlassen. Dort hast du auch die Verabredung mit Lioba für gestern abend in der Abtei abgesprochen.«
Sigeric beugte sich in seinem Sessel vor. »Das mußt du mir erklären, Fidelma, denn das geht weit über mein Verständnis hinaus. Ich kann dir nicht mehr folgen.«
»Das werde ich jetzt ganz genau erklären«, versicherte ihm Fidelma.
In diesem Augenblick flog die Tür der Kapelle krachend auf, und einer der Mönche der Abtei kam atemlos hereingestürzt. Er rang die Hände so sehr, daß es fast komisch wirkte.
»Der Abt! Der Abt ist aus seinem Zimmer geflohen!«