Fidelmas Befürchtungen wegen der zweiten Möglichkeit erwiesen sich als unbegründet, denn die Nacht verlief in Tunstall einigermaßen friedlich. Sie hatte geschlummert, bis sie zu der mitternächtlichen Feier der Geburt Christi geweckt wurde.
Wie es in der Kirche, die den Regeln Colmcilles folgte, üblich war, wurde der Gottesdienst in Griechisch, der Sprache der Evangelien, gehalten. Bruder Laisre vollzog die Darbringung, wie das genannt wurde, was bei den römischen Geistlichen die Messe hieß.
Bruder Laisre stand dem Altar gegenüber, nicht hinter ihm, während er das Abendmahl, Brot und Wein, vorbereitete. Gebete wurden gesprochen, und die Gemeinde beteiligte sich an den Psalmen und Re-sponsorien und sang die Antwortstrophen eifrig mit. Bei der Segnung der Gemeinde erhob Bruder Laisre den ersten, dritten und vierten Finger als Symbol der heiligen Dreieinigkeit, im Gegensatz zur römischen Art, bei der der Priester den Daumen und den ersten und zweiten Finger hob.
Eadulf hielt es für bemerkenswert, daß Bruder Lais-re als Hauptlied des Gottesdienstes eine traditionelle Bitte um Gerechtigkeit gewählt hatte.
Ich will mein Gesicht baden In den neun Strahlen der Sonne,
So wie Maria das heilige Kind badete in köstlicher gegorener Milch.
Liebe erfülle mein Antlitz,
Wohlwollen meinen Sinn,
Honigtau sei auf meiner Zunge
und mein Atem wie sänftigender Weihrauch.
Schwarz mag jene Festung sein,
Schwarz auch die darin wohnen.
Doch ich bin wie ein weißer Schwan und erhebe mich über sie.
Ich reise dorthin im Namen Gottes In Gestalt eines Hirsches, in Gestalt eines Pferdes, In Gestalt von Vögeln, mit der Haltung eines Königs. Stärker werde ich sein als das Böse, dem ich begegne.
Nach Schluß der Darbringung ging Fidelma sofort wieder zu Bett. Auch Eadulf zog sich bald danach zurück, denn er hatte ebenfalls seit Tagen nicht mehr eine Nacht durchgeschlafen. Er hatte mit einer weiteren unruhigen Nacht gerechnet, doch war er so erschöpft, daß es ihm schien, er habe sich kaum niedergelegt, als ihn die fahle Wintersonne weckte. Zu seiner Überraschung stellte er fest, daß Fidelma schon auf war. Sie war draußen mit Bruder Laisre.
»Der Segen des Heilands Christus sei mit dir an diesem freudevollen Morgen und an jedem folgenden Tag, Bruder Eadulf«, begrüßte ihn der Leiter der Gemeinschaft.
Als Eadulf ihm gedankt hatte, wandte sich Bruder Laisre wieder Fidelma zu. Er wollte ihr offensichtlich eine Frage beantworten.
»Allerdings, Schwester, hatten wir die ganze Nacht Posten an allen Zugängen aufgestellt. Es bewegte sich nichts. Anscheinend ist euch niemand hierher gefolgt.«
Fidelma schien erleichtert. »Es sieht also so aus, als stimmte meine zweite Vermutung nicht. Hat Bruder Higbald einen falschen Alarm wegen einer sächsischen Kriegerschar benutzt, um uns zur Flucht aus der Abtei zu zwingen? Wollte er uns in einen Hinterhalt treiben?«
Eadulf schüttelte den Kopf. »Ich sehe nicht ein, was das für einen Zweck haben sollte. Warum so viele Umstände, um uns zu töten? Wie du schon sagtest, der Abt war finster entschlossen, das sowieso zu tun, und zwar lieber früher als später. Warum sollte Hig-bald seine Energie darauf verschwenden, wenn das andere für ihn erledigen würden? Vielleicht ist die Antwort ganz einfach: Man lieferte Higbald eine falsche Information, in der Erwartung, daß er sie an uns weitergeben würde.«
Fidelma schaute ihn überrascht an. »Manchmal sieht man den Wald vor Bäumen nicht. Gut gemacht, Eadulf. Das ist eine Möglichkeit, die mir entgangen war.« Sie wandte sich wieder an Bruder Laisre. »Es gibt keine neue Nachricht von einer Kriegerschar, die an der Küste brandschatzt?«
»Nichts dergleichen«, bestätigte der Leiter der Gemeinschaft. »Noch vor Sonnenaufgang habe ich einen meiner Brüder zu dem nächstgelegenen Küstenort geschickt, um Erkundigungen einzuziehen. In den letzten achtundvierzig Stunden haben an der ganzen Küste keine Überfälle stattgefunden. Und wenn ich dir einen Rat geben darf: Vergiß die Sache für eine Weile und beginne den Tag mit dem Frühstück. Ernste Gedanken sind oft besser mit einem gesättigten Magen zu fassen als unter den Klauen nagenden Hungers.«
Fidelma lächelte. »Du bist klug, Bruder Laisre. Diesen Rat nehme ich gern an. Doch hast du vergessen, daß heute der Tag von Aoine ist, den die Angelsachsen Frigs Tag nennen und der als Tag des Fastens und der Enthaltsamkeit vor dem morgigen Sabbat gilt?«
»Aber es ist auch Christi Geburtstag, und wir dürfen ihn feiern.«
Bruder Laisre führte sie zu dem kleinen Speisehaus.
Während der Mahlzeit fragte sie der Leiter der irischen Gemeinschaft von Tunstall: »Was plant ihr nun, nachdem ihr aus Aldreds Abtei entkommen seid? Wollt ihr nach Canterbury zurückreisen?«
Fidelma schüttelte sofort den Kopf. »Ich hätte meine Absichten gestern abend deutlicher aussprechen sollen. Eine dalaigh kann sich nicht einfach einer Situation entziehen, in der ein Fürst das Ritual des tros-cud begonnen hat und weiter kein juristischer Zeuge anwesend ist.«
Eadulf stellte mit Erleichterung und Befriedigung fest, daß sie jetzt anscheinend ihre ganze frühere Kraft und Entschlossenheit zurückerlangt hatte. Sie war wieder ihr altes energisches Selbst.
»Heißt das, daß ihr hierbleiben wollt?« fragte Bruder Laisre.
»Ich habe versucht, Gadra von Maigh Eo von dem Weg abzubringen, den er eingeschlagen hat. Er ist aber dazu entschlossen. Also muß ich bleiben und darauf achten, daß das Ritual in gesetzlich vorgesehener Form durchgeführt wird. Meine Ehre als dalaigh steht auf dem Spiel.«
Eadulf sah sie einigermaßen überrascht an, doch es war Bruder Laisre, der seine Gedanken aussprach.
»Aber was ist mit Cild? Er ist sicher nicht gut auf dich zu sprechen, weil du heimlich aus seiner Abtei entwichen bist. Er wird darauf aus sein, dich zu vernichten.«
Fidelmas Kinn hob sich leicht.
»Das haben schon ganz andere Männer und Frauen als Cild versucht«, sagte sie leise, und dann in normalem Ton: »Es ist richtig, daß wir uns vor Cild in acht nehmen müssen. Aber in dieser Abtei gibt es ein Geheimnis, mit dem nicht nur das Schicksal Gadras und seines troscud zusammenhängt, sondern auch der Tod von Eadulfs Freund Botulf. Wir können uns nicht davonstehlen, ohne den Versuch zu unternehmen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Also müssen wir bleiben und uns bemühen, diese Wahrheit zu ergründen.«
Bruder Laisre schüttelte verwundert den Kopf.
»Doch diese Wahrheit liegt in der Abtei. Ihr könnt nicht dorthin zurückkehren und diejenigen befragen, die euch zu ihr führen würden. Wie wollt ihr sie dann herausfinden?«
Fidelma lächelte rasch. »Du hast einen scharfen Verstand, Bruder Laisre.«
Bruder Laisre wartete noch einen Moment, und als sie nichts weiter sagte, erhob er sich.
»Nun«, meinte er mürrisch, »ihr braucht mir ja eure Pläne auch nicht zu erzählen.«
Fidelma nickte wie zur Zustimmung. »Je weniger Leute sie kennen, desto besser ist es vielleicht.«
Bruder Laisre war sichtlich der Meinung, daß er in ihre Absichten eingeweiht sein sollte, und er verließ sie mit verletztem Stolz.
Eadulf schnitt Fidelma ein Gesicht. »Er ist gekränkt.«
»Doch ich habe recht. Je weniger die Leute davon wissen, desto weniger können sie ausplaudern.«
»Aber du hast einen Plan. Ich kenne dich.«
Fidelma schaute ihn an. »Laisre wies auf das Offen-kundige hin, als er sagte, ich könne nicht in die Abtei zurückkehren, um die Wahrheit zu finden, die dort verborgen liegt.«
»Das ist einfachste Logik«, stimmte ihr Eadulf zu.
»So einfach, daß jeder darauf kommt. Deshalb kehre ich zurück in die Abtei. Schließlich kennen wir einen geheimen Zugang durch diese merkwürdigen Gänge.«
Eadulf starrte sie entsetzt an.
»In die Abtei zurückkehren?« stotterte er. »Das kann doch nicht dein Ernst sein.«
»Im Gegenteil, es ist mein voller Ernst. Ich mag es nicht, wenn man mein Leben bedroht, und ich gehe nicht gern fort und lasse unaufgeklärte Verbrechen und Geheimnisse zurück. Ich bin entschlossen, dieses zu enthüllen.«
»Aber wie ...?« Eadulf hob die Arme mit einer Geste der Hoffnungslosigkeit.
»Wenn eine andere Frau die Gänge und Zimmer der Abtei unerkannt durchschreiten kann, dann kann ich das auch.«
»Aber ...«, wollte Eadulf protestieren.
Fidelma sah ihn verächtlich an. »Komm, Eadulf, du glaubst doch wohl nicht an Erscheinungen und Phantome?«
Eadulf errötete, denn im tiefsten Innern mußte er zugeben, daß er daran glaubte.
»Ich sage, wenn du zurückgehst, setzt du dich unnötigen Gefahren aus«, beharrte er.
»Aber wenn ich nichts tue, lasse ich die Dinge ihren unvermeidlichen und tragischen Lauf nehmen. Du mußt ja nicht mit mir zurückgehen«, setzte sie mutwillig hinzu, denn sie wußte sehr gut, daß diese Worte ihn anstacheln würden.
Eadulf schluckte den Köder sofort.
»Wenn du gehst, komme ich natürlich mit.«
»Dann ist es beschlossen.« Fidelma lächelte honigsüß. »Aber vorher haben wir noch einiges andere zu erledigen.«
Eadulf wurde nervös. »Anderes? Was denn?«
»Meinst du, daß Bruder Laisre und seine Gemeinschaft uns mit Pferden versorgen können?«
Eadulfs Nervosität wuchs.
»Wozu brauchen wir denn Pferde?« fragte er. »Wenn du zur Abtei zurück willst, gehen wir lieber zu Fuß, damit uns keiner bemerkt.«
»Bevor wir das tun, haben wir noch ein oder zwei Reisen zu machen. Es wäre besser, wenn wir sie verhältnismäßig bequem absolvieren könnten und schneller, als es bei diesem unwirtlichen Wetter zu Fuß möglich wäre.«
»Reisen wohin?«
»Ich möchte Cilds Bruder Aldhere kennenlernen. Du hast mir zwar einen ausgezeichneten Bericht über ihn gegeben, aber ich möchte ihn gern persönlich einschätzen, bevor ich zu Folgerungen gelange.«
Eadulf seufzte tief und resigniert.
»Das setzt voraus, daß ich den Weg zurück zu seinem Versteck finde und daß er es nicht inzwischen gewechselt hat.«
»Ich bin sicher, du kannst das, Eadulf. Du hast gesagt, du kennst die Gegend hier wie deine Handfläche.«
In dem Moment trat Garb ein und begrüßte sie knurrig. Er ließ sich auf eine Bank fallen, langte nach einem Krug Met, der noch auf dem Tisch stand, und leerte einen Becher mit einem Zug.
»Was Neues?« erkundigte sich Fidelma.
»Es gibt kein Anzeichen dafür, daß euch jemand von der Abtei gefolgt ist, wenn es das ist, was du meinst«, brummte Garb.
»Ich war mir ziemlich sicher, daß wir es schon eher gemerkt hätten, wenn uns jemand gefolgt wäre«, meinte Fidelma und blieb freundlich. »Ich fragte mehr danach, ob du irgend etwas von Überfällen an der Küste gehört hättest?«
Garb schüttelte den Kopf. »Die Gegend ist ziemlich ruhig. Ich denke, du kannst davon ausgehen, daß die einzigen Gefahren, die uns drohen, ihren Ursprung in der Abtei haben.«
»Da hast du zweifellos recht«, erwiderte sie. »Sag mal, Garb, kann man hier zwei Pferde bekommen? Bruder Eadulf und ich haben ein paar kurze Reisen zu machen, und das ginge leichter und schneller zu Pferde als zu Fuß.«
Garb sah sie prüfend an.
»Wenn du die kleinen wilden Ponys reiten kannst, die man in diesem Land züchtet, von denen haben wir ein paar übrig. Wir konnten unsere Pferde nicht mitbringen, deshalb haben wir mehrere einheimische Ponys gekauft, die haben kurze Beine, eine breite Brust und sind nicht hoch.«
»Wenn sie einem Pferd ähnlich sind, kann ich sie reiten«, erklärte Fidelma zuversichtlich.
Garb schien belustigt. »Es sind keine Renner, aber robuste kleine Tiere, gerade richtig für dieses Wetter, mit einem dichten, festen Fell, das sie schützt. Von denen kann ich euch gern zwei leihen.«
»Das ist ausgezeichnet.« Sie zögerte etwas und fragte dann: »Wie geht es deinem Vater heute?«
Garb schaute sie einen Moment forschend an.
»Wenn du meinst, ob er weiterhin entschlossen ist, das Ritual durchzuführen: Ja, das ist er.«
Fidelma seufzte leise. »Ich glaube, daran habe ich auch nicht gezweifelt.«
»Das Wort eines Fürsten ist das äußere Merkmal seiner Ehre. Es wird nicht leichtfertig gegeben. Als sein tdnaiste, sein Thronfolger, habe ich die traurige Pflicht, dafür zu sorgen, daß er seinen Vorsatz ausführt, sonst wäre er entehrt in Maigh Eo und darüber hinaus.«
Fidelma stutzte. »Ich hatte nicht mehr daran gedacht, daß der Thronfolger beim troscud eines Fürsten dabei sein muß. Wer regiert denn in Maigh Eo, solange ihr, dein Vater und du, hier seid?«
»Mein jüngerer Bruder.«
»Seid ihr eine große Familie?«
»Meinem Vater wurden drei Söhne und drei Töchter geboren.«
»Und mit Ausnahme von Gelgeis sind alle am Leben?«
Garb schüttelte den Kopf. »Ein Sohn fiel im Krieg gegen die Ui Neill des Nordens, und meine Schwester Mella wurde von angelsächsischen Sklavenjägern gefangengenommen.«
Eadulf hüstelte und scharrte verlegen mit den Füßen, doch Fidelma achtete nicht auf ihn.
»Mella?« Sie überlegte. »War das nicht die Schwester, die Gelgeis zu überreden versuchte, Cild nicht zu heiraten?«
»Ja, das war sie. Du hast ein gutes Gedächtnis, Fidelma. Mella war ein paar Stunden jünger als Gelgeis und .«
Fidelma machte große Augen.
»Ein paar Stunden? Das heißt, Mella und Gelgeis waren Zwillinge?«
Garb nickte kurz.
»Erzähl mir, was mit Mella passierte«, drängte ihn Fidelma.
»Das ist eine traurige Geschichte, aber eine, die sich heutzutage in den Gemeinschaften an der See häufig ereignet. Es gab einen Überfall durch ein sächsisches Langschiff, und an dem Tag wurde ein halbes Dutzend junger Frauen weggeschleppt. Mella gehörte auch dazu.«
»Habt ihr versucht herauszufinden, woher das sächsische Sklavenjägerschiff kam?« fragte Eadulf.
Garb wandte sich ihm zu. »Natürlich. Es war ein Schiff aus Mercia.«
»Und habt ihr etwas über ihr Schicksal erfahren?«
»Kaufleute, die mit Mercia Handel trieben, wurden gebeten, Erkundigungen einzuziehen, und man ließ verlauten, daß Gadra, der Fürst von Maigh Eo, den Sühnepreis für seine Tochter zahlen würde, wenn sie unversehrt heimkehrte. Leider erhielten wir keine Nachricht.«
»Wann geschah das alles?« fragte Fidelma nachdenklich.
»Ungefähr zur selben Zeit, als wir vom Tod Gelgeis’ erfuhren, vielleicht etwas eher.«
»Und ihr habt nichts mehr von ihr gehört?«
»Doch. Der Kapitän des Schiffes, das uns herbrachte, berichtete uns, was man sich in den Häfen von Mercia erzählte. Dieses Sklavenschiff, das wohl an den Zeichen auf den Segeln kenntlich war, soll einem gewissen Octha gehört haben. Es soll auf der Rückfahrt von Eireann mit der ganzen Besatzung untergegangen sein.«
Fidelma schwieg einen Moment und fragte dann: »Ist das jemals bestätigt worden?«
Garb zuckte die Achseln. »Es hätte wenig Zweck, eine solche Geschichte zu erfinden. Wäre Octha noch am Leben, hätte er erfahren, daß mein Vater ein Lösegeld für die Rückkehr Mellas anbot. Es hätte sich für ihn gelohnt, sie für den Sühnepreis freizugeben. Aber wir hörten nur, daß Octha und seine Männer und alle Gefangenen, die sie gemacht hatten, bei dem Schiffbruch untergegangen seien.« Er seufzte. »Deshalb beklagten und betrauerten wir die arme Mella. Meinen Vater bestärkte das in seinem Vorsatz, Wiedergutmachung für den Tod von Gelgeis zu fordern.«
»Hast du das Schicksal Mellas mit irgend jemandem erörtert, seit ihr hier seid?«
»Botulf kam von sich aus darauf zu sprechen.«
»Woher wußte Botulf von Mella?«
»Er sagte, in der Nacht, in der Gelgeis starb, habe er sie draußen vor der Abtei getroffen und sie habe ganz blaß ausgesehen. Sie erzählte, sie habe gerade einen Wandermönch getroffen und der habe ihr berichtet, was sich ereignet hatte. Sie ging hinaus in die Nacht, und Botulf sah sie nie wieder.«
»Also wußte Gelgeis von Mellas Geschick, bevor sie selbst verschwand?« forschte Fidelma. »Hast du Botulf gefragt, ob er das gegenüber anderen erwähnt hat?«
Garb verneinte es mit einer Geste. »Botulf sagte uns, daß er über Gelgeis’ Tod die Geschichte ihrer Schwester vergessen habe, bis wir kamen. Erst dann fiel sie ihm wieder ein.«
»Ich verstehe.« Fidelma blieb nachdenklich. »Waren deine Schwestern sich sehr ähnlich? Als Zwillinge, meine ich?«
Garb lächelte wehmütig.
»Manche Leute konnten sie nicht auseinanderhalten. Sie ähnelten sich wie ein Ei dem anderen. Nur die nächsten Angehörigen konnten sie unterscheiden.«
»Das kann ich mir vorstellen. Deine Familie hat wohl viel Kummer und viele Schicksalsschläge erlitten.«
»Das mag so sein. Aber wir haben ein Sprichwort, daß der Wald die Blätter erneuert, die er abwirft.«
»Darin liegt viel Weisheit, Garb. Man darf sich nicht der Verzweiflung hingeben, denn auf jeden Sturm folgt wieder Sonnenschein.«
Sie hatten in ihrer gemeinsamen Sprache gesprochen, und Eadulf war der Unterhaltung gefolgt, denn er beherrschte die Sprache von Eireann. Ihm fiel auf, daß sie über mehr Möglichkeiten der Übertreibung und Ausschmückung verfügte als die einfachere Ausdrucksweise seiner eigenen Sprache.
Sie schwiegen eine Weile, dann erhob sich Fidelma langsam und blickte Eadulf bedeutungsvoll an. Sie wandte sich wieder an Garb.
»Es sind nun noch fünf Nächte, bis Gadra sein rituelles Fasten beginnt. Das läßt uns nicht viel Zeit.«
Garb lehnte sich zurück und nickte.
»Willst du Cild wirklich dazu bringen, daß er seine Schuld bekennt und meinem Vater Genugtuung leistet?«
»Nur, wenn Cild schuldig ist«, entgegnete Fidelma.
»Und wie willst du beweisen, daß er nicht schuldig ist?«
»Das ist eine Frage, die ich jetzt noch nicht beantworten kann«, stellte Fidelma trocken fest. »Nun möchten wir uns die Ponys ansehen, von denen du gesprochen hast. Je eher wir aufbrechen, desto eher sind wir zurück.«
Inzwischen war die Sonne aufgegangen, wenn auch eine äußerst fahle, durchsichtige Sonne an einem pa-stellfarbenen Himmel, und Fidelma und Eadulf konnten zum erstenmal die Umgebung in Augenschein nehmen, denn am Vortag waren sie in der Dämmerung angekommen und hatten vor dem Dunkelwerden nicht mehr viel gesehen.
Tunstall lag auf einer weiten Lichtung in einem Wald, der sich seit Jahren ungehindert hatte entwik-keln können. Die Bäume in ihrem Winterkleid wuchsen dicht nebeneinander, und da es zumeist immergrüne Bäume waren, bildeten sie ein Bollwerk gegen die Außenwelt, das noch undurchdringlicher war als die Steinmauern von Aldreds Abtei.
Auf der Lichtung standen etwa ein halbes Dutzend Gebäude, große Holzhäuser, ähnlich denen, die Fidelma aus Eireann kannte und von denen sie deshalb annahm, sie seien von Mönchen aus ihrem Land erbaut worden. Wohngebäude, ein Speisehaus, Vorratshäuser, eine Kapelle, Scheunen und Ställe fürs Vieh, das Fidelma um die Gebäude herum sah.
Abgesehen von dem inneren Bereich, wo die Bewegungen der Menschen und Tiere den Schnee und die Erde in Schlamm verwandelt hatten, lag noch eine dichte Schneedecke auf den Gebäuden und der Lichtung. Trotz der fahlen Sonne und dem klaren Himmel war es nicht warm genug, den Schnee zu schmelzen, der körnig den Boden bedeckte. Jeder Mensch und jedes Tier stieß draußen den Atem in einer warmen Dampfwolke aus, die einen Moment in der kalten Morgenluft hing, bis sie sich auflöste.
Nach dem, was Fidelma bei der mitternächtlichen Feier gesehen hatte und jetzt erkennen konnte, schätzte sie, daß die Siedlung etwa ein Dutzend Mönche und ein halbes Dutzend Krieger beherbergte.
»Eine starke Verteidigung hat der Ort nicht aufzubieten, sollte er mal angegriffen werden«, murmelte sie.
»Du hast einen Blick für solche Dinge, Schwester?« fragte Garb.
»Ich kenne mich ein bißchen aus«, antwortete sie kurz, ohne weiter darauf einzugehen. »Denkt daran, daß Abt Cild euch auch aufspüren kann, wenn es uns so leicht gelungen ist.«
»Das stimmt«, gab Garb zu. »Aber Bruder Laisre lebt mit dieser Drohung schon seit König Ealdwulf von Ost-Angeln sich den Beschluß der Synode von Whitby zu eigen machte. Ealdwulf ging noch einen Schritt weiter und befahl allen Mönchen, die sich an die Regel von Colmcille hielten, sein Königreich zu verlassen. Bruder Laisre und seine kleine Schar haben überlebt trotz aller Versuche, sie zu vernichten.«
»Doch jetzt ist die Gefahr größer«, meinte Fidelma. »Cild müßte eigentlich wissen, daß ihr, du und dein Vater, bei Laisre untergekommen seid.«
Garb umschrieb mit einer ausholenden Armbewegung die ganze Lichtung.
»Sieh dir die Bäume an, Schwester. Es sind gute Wachposten.«
»Das habe ich schon getan. So gut sie auch sind, es gibt Pfade zwischen ihnen, und auf solchen Pfaden können Männer und Waffen hindurchgelangen.«
»Deshalb hat Laisre eine Reihe von Beobachtungsposten an den Zugängen aufgestellt und Rückzugswege geplant. Mach dir keine Sorgen, Schwester. Dieses Lager läßt sich nicht leicht überraschend einnehmen. Nun will ich dir die Ponys zeigen.«
Er führte sie zu einem der Ställe, in dem mehrere Ponys der einheimischen Art standen, die sie schon gut kannte. Es waren robuste, kurze kleine Tiere. Sie musterte sie mit sachkundigem Blick, denn sie war mit Pferden aufgewachsen und hatte beinahe eher reiten als laufen gelernt.
»Ich nehme das dunkelbraune, das mit der haferfar-benen Schnauze.«
Garb nickte anerkennend. »Eine gute Wahl. Das ist kräftig und ermüdet nicht so leicht. Und du, Bruder? Welches suchst du dir aus?«
Eadulf schaute ratlos drein, denn er war kein Pferdekenner.
»Ich habe bemerkt, daß dir das kastanienbraune gefiel«, warf Fidelma diplomatisch ein. »Ich glaube, da hast du einen guten Griff getan.«
Eadulf dankte ihr mit einem raschen Lächeln.
Garb wandte sich an einen seiner Männer und beauftragte ihn, die beiden Ponys zu satteln.
»Wie lange werdet ihr fortbleiben? Braucht ihr Proviant?«
»Es wäre gut, etwas mitzunehmen, obwohl ich nicht länger als ein paar Tage weg sein will. Jedenfalls will ich zurück sein, bevor das troscud beginnt.«
Garb schien hier das Sagen zu haben, trotz Bruder Laisre, denn er gab Befehle, ohne den Leiter der Gemeinschaft vorher zu fragen. Einer der Brüder eilte davon, um den Reiseproviant zu besorgen, ohne daß er Garbs Autorität in Zweifel zog.
Fidelma legte Wert darauf, Bruder Laisre aufzusuchen und sich von ihm zu verabschieden, wie es unter Mönchen und Nonnen üblich war, wenn man die Gastfreundschaft des anderen genossen hatte. Bruder Laisre hatte seine Verärgerung vom Morgen anscheinend überwunden und nahm höflich ihre Versicherung entgegen, daß sie und Eadulf bald zurückkehren würden.
Eine Weile später verließen Fidelma und Eadulf auf ihren robusten kleinen Ponys die Lichtung und die religiöse Gemeinschaft von Tunstall und ritten nach Osten durch den Wald. Der schloß sie sofort so dicht ein, als hätte sich ein dunkler Schleier um sie gelegt. Die Pferde konnten auf dem engen Pfad nur hintereinander gehen, deshalb hatte Fidelma aus dem einfachen Grunde Eadulf die Führung überlassen, weil er die Gegend kannte.
»Ich nehme an, wir wollen zu Aldheres Lager?« rief Eadulf über die Schulter zurück, sobald sie die Gemeinschaft verlassen hatten.
»Das ist das Ziel«, antwortete Fidelma.
»Dann reiten wir nach Osten durch diesen Wald. Die Küste ist nur vier oder fünf Meilen entfernt, aber vorher kommen wir noch an eine kleine Siedlung an einem Bach. Früher nannte man ihn den Südbach. Dahinter gibt es einen bequemen Weg nach Norden, über eine Furt durch den Bach und um die Abtei herum, der wir uns nicht zu nähern brauchen.«
»Die Wahl des Weges überlasse ich dir, Eadulf. Es ist dein Land«, erwiderte sie ernst.
Eine Weile ritten sie schweigend weiter. Es war noch ziemlich kalt, und Fidelma war froh, daß sie sich einen weiteren Mantel von Bruder Laisre geborgt hatte. Sie spürte, daß sie sich zwar erholt hatte, aber noch geschwächt war.
Sie ließ ihrem Pony die Zügel locker, saß entspannt im Sattel und versenkte sich in das dercad, eine Meditationsübung, die ruhevoller und weniger anstrengend war als das Nachdenken über die Probleme, vor denen sie standen. Es war beinahe ein Schlummern, ein sanftes Einschlafen, bis ...
Sie fing sich gerade noch ab, sonst wäre sie von ihrem Pony gefallen. Es schnaubte unwillig, als sie sich an seiner Mähne festhielt.
Eadulf blickte sich um.
»Ist dir was?« fragte er besorgt.
»Nein!« fauchte sie zornig zurück. Mit diesem Ausbruch wollte sie nur ihren Ärger über sich selbst verbergen. Sie war eingeschlafen. Dazu sollte die Meditation nicht führen, sie sollte den Geist erfrischen und nicht in den Schlaf lullen, in dem Träume das seelische Gleichgewicht ebenso stören konnten. Das war ihr vorher noch nie passiert. Vielleicht war es ein Anzeichen dafür, wie sehr die Krankheit sie geschwächt hatte. Sie bereute ihre Reaktion auf Eadulfs Besorgnis.
»Es tut mir leid«, rief sie ihm zu.
Eadulf wandte sich im Sattel halb um.
»Was denn?« fragte er harmlos. Er kannte sie zu gut, um ihr den Ärger übelzunehmen.
Sie zögerte einen Moment und sagte dann: »Ich wollte dich nicht anschreien.«
Er zuckte die Achseln und wandte sich wieder nach vorn. Vor ihnen hörte man Wasser rauschen, das über Felsen schoß.
»Ist das der Südbach, von dem du gesprochen hast?« fragte sie.
»Ja, und bald kommen wir an eine Lichtung, auf der sich ein paar Häuser zusammendrängen. Wenn ich mich recht erinnere, liegt dort ein Bauernhof. Wollen wir den umgehen? Willst du ihn vermeiden?«
»Könnten wir dort etwas Heißes zu trinken bekommen, ohne daß wir in Schwierigkeiten geraten?« fragte sie.
Sie hatte Durst, und die Kälte des Wintermorgens drang durch die Kleidung. Sie wollte nicht wieder krank werden. Kaltes Wasser würde da nicht genügen.
»Ich bin sicher, der Bauer wird uns gastfreundlich aufnehmen«, erwiderte Eadulf.
»Dann reiten wir hin.«
Eadulf ritt weiter voran durch den Wald in die Richtung des rauschenden Wassers. Nach kurzer Zeit erreichten sie das Ufer eines mittelgroßen Baches, der schäumend über Steine und Kiesel strömte, und erblickten dahinter Streifen welligen, bebauten Ackerlandes. Von der Anhöhe, auf der sie hielten, konnte man in der Ferne sogar die See erspähen.
In einem Einschnitt in den Hügeln nicht weit von ihnen stieg leichter Rauch auf, und bald kamen auch Dächer von Gebäuden in Sicht.
»Das ist der Bauernhof«, rief ihr Eadulf zu.
Plötzlich drang Geschrei zu ihnen herüber, und sie sahen Leute durcheinander laufen.
»Was ist denn das?« wollte Fidelma wissen.
Eadulf verzog das Gesicht.
»Sie haben uns gesehen, das ist alles«, erwiderte er. »Wir sind in der Nähe der Küste, und wenn es hier tatsächlich ab und zu Überfälle von den Ost-Sachsen gibt, dann haben die Leute schon recht, wenn sie anrückenden Fremden mißtrauen.«
Ein untersetzter Mann kam ihnen auf dem Weg entgegen.
»Haltet an, Fremde, und sagt, wer ihr seid!« rief er mit rauher Stimme und blieb breitbeinig stehen, die Hände an den Hüften und in einer Hand einen langstieligen Hammer.
»Friede, mein Freund«, rief Eadulf und zügelte sein Pony. »Ich bin Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham und reise mit meiner Gefährtin. Wir bringen euch den Segen Christi an diesem heiligen Tag.«
Fidelma fiel auf, daß Eadulf sie nicht vorstellte. Es war wohl besser, nicht zu verraten, daß sie Ausländerin war.
Der Mann schien etwas freundlicher zu werden.
»Von Seaxmund’s Ham, sagst du?«
»Ja.«
»Wo wollt ihr jetzt hin?«
»Wir bitten nur um einen heißen Trunk an diesem Wintertag, dann wollen wir weiter nach Norden.«
Der stämmige Mann blickte von Eadulf zu Fidelma und zurück.
»Dann erwidern wir euren Segen am Festtag unseres Heilands. Verzeih unsere Vorsicht, Bruder Eadulf, doch wie du weißt, leben wir in unsicheren Zeiten.«
»Du meinst die Überfälle von Sigehere?«
»Ja, die meine ich. Es gibt ständig Gerüchte, daß seine Kriegertrupps an der Küste landen. Aber kommt herein. Genießt unsere Gastfreundschaft und seid willkommen.«
Der Mann wandte sich um und winkte den Leuten zu, die sich in einiger Entfernung gesammelt hatten, und auf dieses Signal hin zerstreuten sie sich. Er führte sie zu dem Bauernhaus.
»Frau«, rief er der großen, schlichten Bäuerin zu, die in der Tür stand, »ein Mönch und eine Nonne auf dem Rückweg nach Seaxmund’s Ham. Ein Becher heißer Met erfrischt sie und hilft ihnen weiter.«
»Das tut er sicher«, meinte Eadulf und stieg ab. »Meine Gefährtin hat die Stimme verloren, und der Met wird ihrer Kehle wohltun.«
Fidelma begriff, daß er das gesagt hatte, damit sie sich nicht mit ihrem Akzent als Ausländerin verriet und Verdacht erweckte. Sie lächelte nur und nickte der Bauersfrau zu, die besorgt wie eine Henne herbeieilte und ihr beim Absteigen half.
»Ach, die arme Frau. Wir werden gleich sehen, was wir tun können. Eine schlimme Kehle? Armes Kind.
Tretet ins Haus, und ich mache euch gleich einen Becher Met heiß. Es bringt Glück, wenn gerade an diesem Feiertag ein Mönch und eine Nonne in unser Haus kommen.«
Fidelma brummte und nickte und folgte der Frau gehorsam in die Küche.
Der Bauer führte Eadulf hinein.
»Seid ihr jetzt direkt auf dem Wege nach Seaxmund’s Ham, Bruder?« erkundigte er sich.
Eadulf nickte.
»Warum fragst du?« sagte er und sah zu, wie die Bauersfrau Met in zwei Becher goß, einen rotglühenden Schürhaken vom Feuer nahm und ihn erst in den einen, dann in den anderen Becher hielt, bis der Met zischte und aufwallte.
»Hast du den Himmel im Westen gesehen, Bruder?«
Eadulf hätte zugeben können, daß er auf dem Ritt durch den Wald in jeder Richtung nur sehr wenig vom Himmel gesehen hatte, begnügte sich aber mit einer einfachen Verneinung.
»Dort ballen sich schwere graue Wolken zusammen. Ich fürchte, wir kriegen in den nächsten paar Stunden eine neue dicke Schneedecke, jedenfalls noch vor der Nacht.«
»Bis dahin sollten wir es bis über den Fluß Alde schaffen.«
»Ja, wenn ihr euch nicht zu lange aufhaltet.«
Eadulf hob den Becher und nahm einen langen Zug.
»Sobald wir diesen köstlichen Nektar genossen und dies Haus gesegnet haben, werden wir uns auf den Weg machen.«
Der Bauer schmunzelte anerkennend.
»Gott gebe euch einen guten Weg, Bruder. Möge Er euch vor den Geächteten schützen, die im Moorland leben, und vor Sigeheres Kriegern.«
»Dazu sage ich Amen«, antwortete Eadulf inbrünstig.