Kapitel 16

Eadulf war völlig erstarrt vor Schreck beim Anblick dessen, was er zu sehen meinte. Da merkte er, daß Fidelma aufgesprungen war und eilig vom Hügel hinab auf den nun leeren Weg zulief. Einen Moment stand er unentschlossen da, dann stieß er einen Angstruf aus und rannte hinter ihr her.

»Was hast du vor?« keuchte er und versuchte sie zu erreichen und zurückzuhalten.

»Ich will näher an das heran, was da ist«, antwortete Fidelma, sprang über den Weg und stürzte in die Dunkelheit auf der anderen Seite in Richtung auf das in der Ferne flackernde blaue Licht zu.

»Bleib stehen! Um Himmels willen, bleib stehen! Das ist Hob’s Mire«, rief Eadulf verzweifelt.

Sie achtete nicht auf seinen Warnruf, dachte nicht an die Gefahr und stürmte weiter, Eadulf in vollem Lauf hinter ihr her. Sie hörten das erschrockene Wiehern eines Pferdes, und dann war die seltsam glühende Gestalt plötzlich verschwunden. Fidelma eilte trotzdem weiter. Eadulf versuchte sie einzuholen, glitt aber aus und sank in dem Morast ein, der unter der Schneedecke verborgen lag.

»Hilf mir!« rief er in Panik aus, als er den Boden unter den Füßen verlor.

Fidelma zögerte, schaute sich um und sah, wie er sich im Dunkeln abmühte, und packte ihn am Arm. Er war nur bis zu den Knöcheln eingesunken, und es war leicht, ihn wieder auf den Weg zu ziehen. Er schaffte es mehr aus eigener Kraft, doch Fidelma gab ihm den Schwung dabei und nahm ihm die Angst. Der Zwischenfall machte ihr aber klar, daß sie im Bestreben, sich der geisterhaften Gestalt zu nähern, ihr Gespür für Gefahr mißachtet hatte. Im stillen schalt sie sich wegen ihrer Torheit.

»Alles in Ordnung, Eadulf?« fragte sie besorgt, als er, keuchend von der Anstrengung, auf dem festen Boden des Moorpfades saß.

»Ich glaube, ja«, meinte er unsicher.

»Es tut mir leid. Ich habe mich töricht benommen. Es bleibt uns weiter nichts übrig, als zu dem Weg zurückzugehen. Es hat keinen Zweck, zu versuchen, die zu verfolgen, die es heute abend war.«

Eadulf blickte auf, doch in der Dunkelheit konnte sie seine verwirrte Miene nicht erkennen.

»Die es war?« fragte er. »Meinst du nicht vielmehr, was es war?«

»Ich meine, die es war. Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, den Pfad bis zu jenem Ort zu beleuchten. Ich frage mich, ob wir bei Tageslicht den Weg bis zu dem ignis fatuus finden würden. Ich möchte den Boden dort untersuchen.«

Eadulf erhob sich und schüttelte langsam den Kopf.

»Im Augenblick würde ich lieber sicher wieder aus diesem Moor herausgelangen, statt weiterzugehen auf der Suche nach einem Irrlicht.« Er sah sich um und erschauerte.

Die Dämmerung war in Dunkelheit übergegangen, und die Landschaft schien zu einer unfreundlichen Kulisse drohender Schatten zusammenzufließen. Sie konnten nur wenige Anhaltspunkte für den Rückweg ausmachen. Der Pfad, auf dem sie ins Moor gelangt waren, verlief nicht gerade.

Eadulf ging voran, tat langsam und vorsichtig einen Schritt nach dem anderen und prüfte immer erst die Festigkeit des Bodens. So dauerte es einige Zeit, bis sie wieder auf dem Hauptweg waren. Sie wollten sich gerade auf dem sicheren Boden erschöpft ausruhen, als Hufschlag an ihre Ohren drang.

»Vielleicht kommt Cild zurück«, flüsterte Eadulf. »Rasch! Wir verstecken uns hinter den Felsen unter den Bäumen.«

Fidelma gehorchte, doch sie hatte erkannt, daß sich die Reiter aus der Richtung näherten, die der Abtei entgegengesetzt war.

Atemlos eilten sie den Hügel hinauf und warfen sich hinter den Felsen nieder. Kaum waren sie dort, da parierten unten ein halbes Dutzend Reiter geräuschvoll ihre Pferde. Einer von ihnen hielt eine Fackel hoch, doch gab sie nicht genügend Licht, um die Gesichter zu erkennen.

»Niemand hier!« rief eine Frauenstimme. »Bist du sicher, daß dies der Ort ist, an den du sie bestellt hast?«

»Natürlich«, kam Bruder Higbalds Stimme aus der Dunkelheit. »Hast du die Botschaft auch richtig ausgerichtet, Arwald?«

Eine Männerstimme antwortete empört: »Wort für Wort so, wie du sie mir aufgetragen hast, Lord Hig-bald. Ich habe sie Wort für Wort an Bruder Willibrod weitergegeben.«

Lord Higbald! Im Dunkeln zogen sich Eadulfs Augenbrauen empor.

»Er hat auch keinen Verdacht gefaßt?« fragte Hig-bald wieder. Doch die Frauenstimme unterbrach ihn mit einem wollüstigen Kichern.

»Der alte Trottel? Dem kommt doch gar nichts verdächtig vor. Der hat doch nur das eine im Sinn.«

»Trotzdem, war er mißtrauisch, als du ihm die Botschaft brachtest, Arwald?« beharrte Higbald.

»Überhaupt nicht«, lautete die Antwort.

»Dann soll Gott sie verderben! Vermutlich sind sie zur Abtei zurück, statt auf uns zu warten.«

»Höchstwahrscheinlich, Higbald.« Das war wieder die Frauenstimme mit festem, sicherem Ton.

»Dann soll Gott sie verderben!« wiederholte Higbald.

Die Frau kicherte noch einmal. »Das ist aber keine anständige Ausdrucksweise für einen frommen Bruder, Higbald. Gib dir mal Mühe, deinen geistlichen Stand noch eine Weile beizubehalten. Außerdem hast du keinen Grund, dich zu ärgern. Ich denke, wir haben genug getan, um die Räder in Gang zu setzen.«

»Aber wenn ich jetzt zur Abtei zurückkehre, Lio-ba, dann muß ich mir irgendeine Entschuldigung wegen Gadra ausdenken.«

»Das ist doch leicht«, erklärte Lioba. »Außerdem hätten wir heute vielleicht den Bogen überspannt.«

»Na gut«, kam wieder Higbalds Stimme. »Ich gehe in die Abtei zurück und bringe meine Ausreden an. Wir werden ja sehen, ob der alte Sigeric wirklich so scharfsinnig ist, wie man behauptet. Wir treffen uns morgen abend in der Kapelle.«

»Ist das klug?«

»Niemand hat Verdacht geschöpft. Rühren wir den Topf noch etwas mehr um, und dann ist König Eald-wulf gezwungen, gegen Aldhere zu Felde zu ziehen, da bin ich mir sicher.«

Die Reiterschar setzte sich in Trab und verschwand auf dem Weg zur Abtei.

Eadulf erhob sich und half Fidelma auf.

»Kannst du dir das irgendwie zusammenreimen? Es wird anscheinend von Stunde zu Stunde geheimnisvoller.«

»Im Gegenteil, Eadulf, ich sehe zum erstenmal etwas Licht. Wir werden noch einen anderen Besuch machen, ehe wir uns in die Abtei schleichen. Wie weit ist es von hier bis zu Muls Bauernhof?«

»Muls Bauernhof?« Eadulf war verblüfft. »Wieso . ?« Er hielt inne. Zwar konnte er Fidelmas Gesicht in der Dunkelheit nicht erkennen, aber er wußte, es würde ihren Ärger über seine halb formulierte Frage spiegeln. »Es ist weniger als eine Stunde zu reiten. Es geht noch schneller, wenn die Wolken den Mond freigeben und wir besser sehen können. Den Weg von hier nach Frig’s Tun kenne ich gut.«

»Das ist ausgezeichnet«, sagte Fidelma. »Meinst du, Mul kennt die Pfade durch Hob’s Mire so gut, daß er uns bei Tageslicht führen könnte?«

»Das weiß ich nicht. Ich nehme an, daß er Wege durchs Moor kennt. Warum soll er uns da hindurchführen?«

»Das habe ich dir schon gesagt. Ich möchte mir die Stelle genauer anschauen, an der wir das ignis fatuus gesehen haben. Ich fange an, Stücke zusammenzusetzen, und wenn dieses besondere Stück paßt - nun, ich glaube, dann habe ich das vollständige Bild von dem, was hier vor sich geht.«

»Wahrhaftig?« Eadulf staunte.

»Wahrhaftig«, erwiderte Fidelma fest. »Aber zuerst müssen wir Mul dazu überreden, daß er uns noch eine Nacht Gastfreundschaft gewährt.«

»Für eine Münze läßt sich Mul wahrscheinlich zu allem überreden«, meinte Eadulf spöttisch. »Dann hast du also nicht vor, zur Abtei weiterzureiten und mit Sigeric zu reden?«

»Noch nicht. Ich denke, was sich hier so etwa in der letzten Stunde ereignet hat, verleiht unserem Problem eine neue Dimension, und ich brauche noch dieses endgültige Beweisstück, um Sigeric eine glaubhafte Version vorzutragen.«

»Sollten wir es nicht vorher besprechen?« Eadulf klang beinahe verärgert über ihre rätselhafte Ankündigung.

»Wann habe ich denn etwas nicht mit dir besprochen?« konterte sie gereizt. »Natürlich reden wir darüber. Aber brechen wir lieber zu Muls Hof auf, statt hier herumzustehen und Zeit zu vertrödeln.«

Der Morgen war schon vor einer Stunde angebrochen, doch der Tag war grau und düster, fast wie eine Abenddämmerung. Weiße Wolken mit grauen Rändern hingen niedrig und fast bewegungslos am Himmel. Es bestand keine Hoffnung, daß die blasse Wintersonne jemals dieses Gewölk durchdringen würde, das mit der grauen Schneedecke auf der Landschaft zu verschmelzen schien. Es war ein trübseliger Anblick.

Mul ritt voraus auf einem seiner Maultiere, auf dem er auch ohne Sattel locker saß. Ihm folgten Fidelma und Eadulf auf ihren geliehenen Ponys. Die Gegend, die sie durchquerten, erschien ihnen wie ein phantastisches Traumland. Die schneebedeckte Umgebung war größtenteils flach mit gelegentlichen kleinen dunklen Flecken immergrüner Waldstücke und einem grauen, gezackten Berggipfel in der Ferne, der sich jäh aus der Ebene erhob, als hätte die Riesenhand eines Gottes einen Felsklotz mitten ins Land hineingeworfen. Es war ein düsterer und wilder Anblick, und die einzige Bewegung war das Strömen eines vom Schmelzwasser geschwollenen Baches über ihren Weg. Die kahlen, blattlosen Bäume wirkten fast unheimlich in der finsteren Landschaft. Kaum etwas hob sich ab in diesem flachen Stück Moorland. Außer den dunklen Schatten ab und zu vorbeifliegender unerkennbarer Vögel schien es keine Tiere zu geben, es waren auch keine zu hören.

Mul hielt sein Maultier an, drehte sich um und wartete, bis Fidelma und Eadulf zu ihm aufgeschlossen hatten.

»So, das hier ist Hob’s Mire.« Er machte eine ausholende Armbewegung. »Da vorn seht ihr die Reihe von Bäumen. Die stehen am Fluß, am Alde. Ungefähr eine Meile weiter, hinter dem baumbestandenen Hügel, liegt Aldreds Abtei.«

Eadulf runzelte die Stirn.

»Wir nähern uns dem Sumpf aus der falschen Richtung«, beklagte er sich. »Ich kann nicht abschätzen, wo sich das ignis fatuus befand.«

Mul verzog spöttisch das Gesicht. »Ich führe euch auf dem sichersten Weg in den Sumpf, gerefa. Wenn ihr euch das Leben nehmen wollt, ist das eure Sache. Ihr habt mich gebeten, euch in den Sumpf zu bringen, und das tue ich, aber verlangt nicht von mir, daß ich mich irgendeiner Gefahr aussetze.«

Fidelma lächelte beruhigend. »Das würden wir nie von dir verlangen. Wir müssen uns aber zurechtfinden. Es ist wichtig, daß wir genau zu der Stelle gelangen.«

Mul schnaubte angewidert und wies mit dem Finger auf eine Reihe von Bäumen in der Ferne.

»Seht ihr die Bäume da? Dort verläuft der Weg, der zum Flußufer und weiter zur Holzbrücke über den Alde und zur Abtei führt. Ich denke, das ist der Weg, auf dem ihr gestern abend wart, wie ihr sagt.«

Eadulf kniff die Augen zusammen und musterte das entfernte Gelände.

»Ich glaube, ich erkenne die Stelle jetzt«, gab er langsam zu. »Siehst du den kleinen Hügel mit den Bäumen darauf? Dort waren wir gestern abend.«

Fidelma folgte seinem Blick.

»Dann müssen wir unsere Schritte dorthin richten. Mul, gibt es einen Pfad von hier aus hinüber zu diesem Punkt?«

»Keinen direkten, aber ich kann euch hinüberbringen. Es ist aber ein ganz schmaler Pfad. Es hat immer nur ein Pferd Platz. Wollt ihr es versuchen?«

Sie neigte bejahend den Kopf.

»Deswegen sind wir schließlich zu dir gekommen«, antwortete sie ernst.

Der Bauer verzog das Gesicht. Er schaute Eadulf an.

»Bist du bereit, gerefa?«

»Natürlich«, knurrte Eadulf.

»Dann kommt einzeln hinter mir her und weicht nicht von dem Pfad ab, auf dem ich reite. Ein falscher Schritt, und du verschwindest samt Pferd in diesem tückischen Sumpf. Habt ihr verstanden?«

Er ritt in die weiße Landschaft hinein. Fidelma merkte, daß unter der Schneedecke die weichen grünen Riedgrasstellen und die Sumpflöcher verborgen lagen und gierig darauf warteten, ihre Opfer zu pak-ken und in die Vergessenheit hinabzuziehen. Sie beugte sich über die Schulter ihres Ponys vor und achtete aufmerksam auf den Weg, den das Maultier des Bauern für sie suchte.

Hier und dort stachen die dünnen Halme absterbender Binsen durch den Schnee, und ab und zu hörte man einen eigenartigen dumpfen Laut, wenn eine Luftblase aus unbeschreiblicher Tiefe durch den Morast brach, die vielleicht von den vermodernden Überresten eines Tieres aufstieg, das im Moor versunken war.

Plötzlich gab es eine Bewegung, etwas flog von einem Schilfbüschel vor ihr auf. Erst dachte sie, es wäre eine Eule, doch dann sah sie das schwarzbraun gestreifte Federkleid und die grünen Beine, die normalerweise eine wirksame Tarnung bildeten vor Blicken, die weniger scharf waren als Fidelmas. Dann erklang ein hallender, dröhnender Ton.

»Eine Rohrdommel!« rief sie aus.

»Du hast ein gutes Auge, Schwester«, meinte Mul anerkennend.

»Weißt du etwas über das ignis fatuus, Mul?« fragte sie zurück.

»Worüber?«

»Sie meint den Feuerdrachen«, rief Eadulf.

»Ach so, den.« Mul zuckte lässig die Achseln. »Den kann man hier im Moorland ganz regelmäßig sehen. Leichenfeuer nennen es die Leute. Es ist ein fahles, flackerndes Licht, das über dem Moor erscheint. Viele Leute mögen’s nicht, aber ich bin im Moor großgeworden. Es gibt keinen Grund, sich davor zu fürchten. Ihr habt es gestern abend gesehen?«

»Allerdings«, antwortete Fidelma.

»Das hättet ihr mir sagen sollen. Wenn ihr wissen wolltet, was es ist, hätte ich’s euch erklären können. Deswegen brauchten wir nicht den ganzen Weg bis hier draußen ins Moor zu machen.«

Fidelma schüttelte den Kopf. »Nein, es war nicht nur das ignis fatuus, was ich sehen wollte ...«

Mul unterbrach sie. »Man erkennt es nur richtig im Dunkeln, weil die Flamme zu hell ist, als daß man sie bei Tageslicht sehen könnte. Diesen Ritt machen wir völlig vergebens.«

»Durchaus nicht, ich muß den Boden an der Stelle prüfen«, beharrte Fidelma. »Aber sag uns, wodurch entsteht es?«

»Was das Leichenfeuer verursacht? Ihr kennt doch die Gase, die aus Tierleichen entweichen - und den Geruch, den sich zersetzende Pflanzen und Tierkadaver verbreiten? Der Geruch ist das Gas. Manchmal entzündet es sich von selbst, und dann sieht man dieses Licht. Es ist das brennende Gas. Es ist eine unheimliche Erscheinung, und man kann verstehen, wenn sich manche Leute davor fürchten.« Er wies mit der Hand über das flache Moor. »Viele Tiere sind in diesem Sumpf versunken, deshalb liegen da unten zahllose verrottende Kadaver, die dieses Leichenfeuer erzeugen. Wollt ihr immer noch weiter?«

Fidelma schaute auf und maß mit den Augen die Entfernung zu dem Weg, dem sie inzwischen näher gekommen waren.

»Ist es möglich, daß wir uns noch ein bißchen weiter nach rechts vorarbeiten?« fragte sie, ohne auf seine Frage direkt einzugehen.

Mul blickte in die angegebene Richtung und zuckte die Achseln.

»Ja, aber bleibt dicht bei mir«, ordnete er an.

Sie bewegten sich noch ein Stück weiter, und als Mul stehenblieb, fanden sie sich auf einer großen Insel fe-sten Bodens wieder, einer leichten Erhebung inmitten der ebenen Fläche des Sumpfes. Die dünne Schneedek-ke verhüllte die Umgebung nur unvollständig, und sie sahen den dunklen, bedrohlichen Morast darunter.

»Halt!« rief Fidelma plötzlich und glitt von ihrem Pony. »Keinen Schritt weiter.«

Mul schaute sie an, als sei sie plötzlich übergeschnappt.

»Schon gut«, sagte er, »hier ist der Boden ebenso fest wie .«

Aber das hatte Fidelma nicht gemeint.

Sie ging rasch nach vorn und ließ sich auf ein Knie nieder. Der Schnee lag hier auf dem festen Boden dik-ker als auf den wärmeren morastigen Flächen und war an dieser Stelle aufgewühlt. In dem gefrorenen Schnee gab es Abdrücke, die erst jetzt in der milderen Morgenluft tauten.

Eadulf war ebenfalls abgestiegen und trat hinter sie.

»Was ist?« fragte er.

Sie zeigte auf den Boden.

»Hier hat jemand gestanden, sowohl zu Fuß als auch zu Pferde. Ein Pferd - hier siehst du die Hufabdrücke. Eine Person. Kleine Fußspuren. Was verrät uns das?«

»Ein kleiner Mann oder .«

»Eine Frau. Sie standen hier dicht am Rande des Sumpfes. Sie wußten genau, was sie taten. Ein falscher Schritt, und eine Leiche mehr wäre im Sumpf verrottet.«

Mul wartete geduldig und hielt ihre Tiere am Zügel.

»Ich verstehe nichts. Wonach sucht ihr?« wollte er wissen.

»Ich hab’s gefunden«, antwortete Fidelma befriedigt und wandte sich zu ihm um. Dann sagte sie zu Eadulf: »Dies ist das Geheimnis des sogenannten Geists, der gestern abend erschien. Irgend jemand ist offensichtlich zu Pferde hierher gelangt. Das war die Gestalt, die wir alle sahen.«

Eadulf schaute über das Moor zu dem Hügel, auf dem sie sich am vorigen Abend versteckt und Abt Cild beobachtet hatten.

»Aber wie konnte sie in diesem schimmernden Licht erscheinen? Was ist mit dem Feuerdrachen? Das ist doch schwierig zu machen.«

Fidelma schnüffelte in der Luft. »Riechst du was?«

Eadulf schnupperte vorsichtig und spürte einen widerlichen Gestank. Er hatte oft genug mit Toten zu tun gehabt und erkannte ihn sofort.

»Das ist der Gasgeruch von verwesenden Leichen«, gestand er.

Fidelma sah Mul an. »Was meinst du, Mul? Hat er recht?«

Der Bauer schien verwirrt von ihren Reden.

»Es gibt hier genügend Stoff für den Feuerdrachen«, sagte er. »Und eure scharfen Augen hätten auch schon die Flamme erkennen können. Sehr ihr?«

Er zeigte nach vorn.

Ein Stück entfernt sahen sie ein eigenartiges Schimmern vor dem Hintergrund des weißen Schnees, wie aufsteigende Hitzewellen. Genau das war es auch.

»Wenn ihr dort die Hand hineinhalten könntet«, bemerkte Mul, »würdet ihr euch verbrennen. Das ist eine Flamme, aber sie ist so schwach, daß ihr sie erst erkennen könnt, wenn es Nacht wird, und dann seht ihr das unheimliche blaue Licht, das die Leute Leichenfeuer nennen.«

Fidelma atmete tief aus.

»Also dieses Licht brennt bei Tage und bei Nacht, aber wir sehen es erst richtig, wenn es dunkel genug ist, um den Kontrast zu bilden?«

»Genauso ist es.«

Eadulf stand auf und blickte sich um, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Ich verstehe deine Überlegungen, Fidelma. Aber eine Erklärung steht noch aus.«

»Nämlich welche?« fragte Fidelma.

»Gestern abend hast du mir gesagt, du meintest, die Gestalt, die wir bemerkten, sei keine Geistererscheinung, sondern eine wirkliche Frau. Jetzt hast du bewiesen, daß der Feuerdrache einfach eine Naturerscheinung ist. Na schön. Aber wie erklärst du es, daß wir nicht nur den Feuerdrachen sahen, sondern daß auch die Umrisse der Frau glühten? Daß sie - und nicht nur der Feuerdrache - einen solchen geisterhaften Anblick bot? Das war es nämlich, was Abt Cild und seinen Männern so einen Schrecken einjagte, und nichts anderes.«

Auch Fidelma hatte sich erhoben und ging zurück zu ihrem Pony. Sie streichelte ihm das Maul, bevor sie antwortete.

»Vor ein paar Jahren, Eadulf, es war auch mitten im Winter wie jetzt, war ich auf meinem Heimweg nach Cashel. Ich kam über die tief verschneiten Berge und mußte eine Nacht in einem Gasthaus verbringen. Der Gastwirt und seine Frau glaubten, sie würden von einem Geist verfolgt. Sie hatten etwas Ähnliches gesehen. Es stellte sich heraus, daß jemand versuchte, ihnen Angst einzujagen. Auch dieser Mensch konnte sich mit einer seltsamen glühenden Ausstrahlung umgeben.«

»Wie denn?« fragte Eadulf. »Wie macht man so etwas?«

»In meinem Land gibt es einen gelben, dem Ton ähnlichen Stoff, von dem ein merkwürdiges Leuchten ausgeht. Er wird von Höhlenwänden abgekratzt. Bei uns heißt er mearnail. Er glüht in der Dunkelheit. Ich weiß nicht, wie man ihn hier nennt. Aber ich glaube, die Frau, die hierherkam, hatte ihn auf ihre Kleidung gestrichen, und da die flackernde Flamme des Feuerdrachens vor ihr brannte, wurde ihr Licht von dem Ton, mit dem sie sich beschmiert hatte, zurückgeworfen, und dadurch erblickten wir das geisterhafte Bild.«

Eadulf spitzte die Lippen zu einem lautlosen Pfiff.

»Du meinst, daß Cild >von Geistern verfolgt< wird, dient irgendeiner Verschwörung?«

»Das denke ich.«

»Und Botulf wußte davon? Er hatte herausgefunden, was dahinter steckte? Das hat zu seinem Tode geführt?«

»Es dauert noch ein bißchen, bis wir das klar überblicken«, wehrte Fidelma ab.

Mul hatte ihnen mit einer Miene zugehört, die sein völliges Unverständnis verriet. Fidelma wandte sich lächelnd an ihn.

»Du warst uns eine große Hilfe, Mul. Es könnte sein, daß wir dir zur Belohnung eine größere Summe verschaffen können als die paar Münzen, die wir dir geben konnten. Wenn meine Auffassung sich als richtig erweist, wird auch der Mord an deiner Frau und deinen Kindern gesühnt.«

Mul schenkte ihr ein düsteres Lächeln.

»Um der Rache für meine Familie willen bin ich bereit, das wenige, was ich in der Welt besitze, restlos herzugeben«, sagte er ruhig.

»Dann möchte ich dich bitten, uns noch einen Gefallen zu tun, Mul. Wir wollen zur Abtei und diesen Herrn aufsuchen, diesen . « Sie sah Eadulf fragend an.

»Lord Sigeric«, ergänzte er.

»Sigeric. Er ist gestern zur Abtei gefahren, und falls Bruder Eadulf richtig vermutet, ist er der einzige, der uns helfen kann. Wenn er dazu bereit ist, brauchen wir noch einmal deine Unterstützung. Gibt es irgendwo in der Nähe der Abtei einen Ort, wo du warten kannst, bis wir dich benachrichtigen?«

»Ja«, stimmte er zu. »Dicht südlich der Brücke steht eine Schmiede. Da warte ich auf ein Wort von euch. Wenn es darum geht, Cild zu verderben, warte ich bis zum Weltuntergang. Dort findet ihr mich.«

Fidelma blickte zum Himmel auf. Es gab noch keine Sonne, an deren Stand man die Tageszeit ablesen konnte, aber sie schätzte, daß es nur noch zwei Stunden bis zum Mittag waren.

»Wenn du bis Mitte des Nachmittags nichts von uns gehört hast, kannst du davon ausgehen, daß wir Sigeric nicht überreden konnten, uns zu helfen.« Sie hielt inne und verzog das Gesicht. »Und jetzt, Mul, kannst du uns aus diesem Sumpf herausführen und uns auf den richtigen Weg zur Abtei bringen.«

Während Mul ein wenig später in Richtung auf die Brücke weiterritt, bogen Fidelma und Eadulf ab durch den Wald hinter den Abteigebäuden. Sie fanden den Weg, den sie bei ihrer Flucht aus der Abtei benutzt hatten, und entdeckten nun ein Wäldchen, in dem sie ihre Ponys ließen, angebunden für den Fall, daß sie sie schnell brauchten.

Eadulf ging voran zu dem Eingang des unterirdischen Ganges. Er erinnerte sich besser an den Weg als Fidelma, die noch krank gewesen war, als sie die Abtei auf diese Weise verließen. Der Eingang war von immergrünen Pflanzen überwachsen, doch Eadulf fand ihn ohne große Mühe.

Fidelma war überrascht, als Eadulf draußen stehenblieb und aus seinem Tragebeutel eine Kerze hervorholte, die er mit Hilfe seines Feuersteins und Zunders anzündete. Er schaute auf und lächelte.

»Ich hatte das Gefühl, daß wir vielleicht durch diesen Gang zurückkehren würden, deshalb nutzte ich die Gelegenheit, mir in Muls Bauernhaus eine Kerze einzustecken.«

Er schob sich in den feuchten und kalten Gang hin-ein. Schon nach wenigen Schritten hüllte sie eine bedrückende Dunkelheit ein. Die Kerze gab nicht viel Licht, und das war so flackernd und unsicher, daß man nicht weit sehen konnte.

»Merkwürdig«, sagte Fidelma nach einer Weile. »Ich dachte, wir kämen bald zu dem Raum voller Waffen. Den wollte ich mir noch einmal anschauen.«

»Wir sind an ein paar dunklen Eingängen vorbeigegangen«, antwortete Eadulf vor ihr. »Vielleicht hat man das Licht in dem Raum gelöscht, und wir sind schon daran vorbei.«

Fidelma gestand ein, daß diese Vermutung wahrscheinlich richtig war.

»Findest du den Weg zurück zum Gästezimmer? Ich denke, dort könnten wir Sigeric antreffen.«

Eadulf beantwortete ihre Frage mit einem Brummen. Er schritt langsam weiter und versuchte, sich an die Abzweigungen, die sie benutzt hatten, in umgekehrter Reihenfolge zu erinnern. Als er kurz darauf um eine Ecke bog, sah er vor sich einen schwachen Lichtschein, der durch ein hängendes Tuch fiel. Es war ein Wandvorhang.

Er blieb stehen und flüsterte Fidelma zu: »Ich glaube, wir kommen zu dem Gästezimmer, in dem wir waren. Es ist wahrscheinlich hinter dem Wandvorhang.«

»Das hast du gut gemacht, Eadulf«, sagte sie und trat zu ihm.

Er hielt sie am Arm zurück.

»Als wir das Zimmer verließen«, flüsterte er, »habe ich die Tür hinter dem Wandvorhang geschlossen, das weiß ich noch. Jemand muß sie geöffnet haben.«

Sie ließ sich nicht beunruhigen. »Sicherlich hat Bruder Higbald den Fluchtweg geprüft, als wir fort waren.«

»Vielleicht«, erwiderte er zögernd.

»Bist du bereit?«

»Ich denke schon.«

»Dann laß uns hineingehen!«

Eadulf ging voran bis zu dem Vorhang. Er konnte nicht hindurchsehen. Das Licht, das hindurchdrang, mußte wohl von einer Kerze auf der anderen Seite kommen. Ohne zu zögern, zog er den Vorhang beiseite und betrat das Zimmer. Fidelma folgte ihm auf dem Fuße.

In dem Zimmer, in dem Fidelma während ihres Aufenthalts in Aldreds Abtei eingeschlossen gewesen war, saß ein älterer Mann. Er wandte ihnen den gebeugten Rücken zu und war anscheinend in einige Pergamentblätter vertieft, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Mehrere Kerzen erhellten das Zimmer. Der Alte machte sich mit einer kratzenden Feder Notizen.

Es war wohl der Zug vom Gang her, der die Kerzen auf dem Tisch flackern ließ, denn der Inhaber des Zimmers drehte sich um und fuhr auf, als seine hellgrauen Augen sie erblickten.

Offensichtlich war er in seiner Jugend ein schöner Mann gewesen. Er hatte ausgeprägte Gesichtszüge und ein energisches Kinn. Das weiße Haar war dicht. Seine Haltung war die eines Mannes, der zu befehlen gewohnt ist, seine Statur die eines Kriegers, wenn auch das Alter den Rücken etwas gebeugt hatte und seine Hand leicht zitterte, doch so gering, daß es erst bei genauem Hinsehen auffiel.

Er schaute von einem zum anderen, und seine Augen verengten sich leicht.

»Wer seid denn ihr, die ihr euch an mich heranschleicht wie Diebe in der Nacht?« fragte er. Dann, ohne Vorwarnung, donnerte er: »Wache zu mir!« Seine Stimme war trotz seines Alters kräftig und volltönend.

Kaum waren die Worte gesprochen, da flog die Tür auf, und zwei Krieger stürmten mit gezogenen Schwertern herein. Einen Augenblick später schaute der muskulöse, aber stumme Bruder Beornwulf herein und verschwand. Weiter hinten im Gang begann eine Glocke wild zu läuten.

Der Alte erhob sich langsam und musterte sie.

»Wen haben wir denn hier?« Seine Stimme war jetzt ruhig, aber mit einem stählernen Unterton. »Meuchelmörder? Diebe?«

Eadulf setzte zur Antwort an, als auf dem Gang heftige Bewegung entstand.

Abt Cild marschierte ins Zimmer, gefolgt von einem besorgt dreinschauenden Bruder Willibrod, dessen dunkles Auge funkelte. Hinter ihnen stand Bruder Beornwulf und hielt noch die Glocke in der Hand, mit der er die anderen herbeigerufen hatte.

Bei ihrem Anblick setzte Abt Cild ein triumphierendes Lächeln auf.

»Nehmt sie fest!« rief er. »Bevor sie Lord Sigeric ermorden! Jetzt brauchen wir keine Gerichtsverhandlung mehr. Wir führen sie hinaus und hängen sie sofort auf.«

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