In seiner momentanen Verwirrung begriff Eadulf nur eins. Jetzt wußte er, warum ihm Aldheres Gesicht so bekannt vorgekommen war. Er schaute in das Ebenbild der Züge Abt Cilds.
Aldhere lachte über seine Verblüffung. »Du siehst überrascht aus, heiliger gerefa.«
Eadulf nahm seine Gedanken zusammen. »Ich bin entsetzt, daß Cild so wütend ist auf seinen eigenen Bruder - so sehr, daß er ihn umzubringen trachtet.«
Der Geächtete verzog das Gesicht. »Brudermord ist unserem Volk nicht fremd, mein Freund, vor allem nicht unter denen, die nach Macht streben.«
»Das mußt du mir erklären.«
»Das läßt sich leicht erklären. Cild und ich sind beide die Söhne von Bretta. Cild ist der ältere .«
»Aber du wurdest Than von Bretta’s Ham«, warf Eadulf ein.
»Eben. Unser Vater Bretta mochte meinen Bruder nicht. Als Kind bekam Cild oft Wutanfälle. Einmal ging er so weit, eine schwarze Katze, die unserer Mutter gehörte, auf dem Altar unserer Kapelle zu schlachten mit der Begründung, er glaube an Wotan und nicht an Christus. Auch als Halbwüchsiger konnte er sein schreckliches Temperament nicht beherrschen. Er wurde Krieger und verließ sich in seinen Kämpfen und Siegen auf die Kraft seiner Streitaxt und nicht auf seinen Verstand. Er war ein Einzelgänger, er konnte keine Truppen ordnen und keine Pläne machen. Bretta war der Meinung, ihm fehlten die Eigenschaften, unser Volk mit Gerechtigkeit zu führen. Er enterbte ihn und verkündete, daß nach seinem Tode ich ihm als Than nachfolgen sollte.«
»Und Cild haßte dich deswegen?«
»Natürlich. In unserer Jugendzeit war Cild davon ausgegangen, daß er Than würde. Da wurde ich ihm vorgezogen, sein jüngerer Bruder, vor dem er nun das Knie beugen mußte. Er war wütend auf unseren Vater und auf mich. Das war nicht gleich zu spüren, denn Cild verkündete, er schließe sich den Brüdern im Glauben an.«
»Kam das überraschend?«
»Völlig überraschend. Cild interessierte sich nur für Kämpfe, Trinkgelage, Frauen und Macht. Mein Vater hatte recht - Cild wäre ein schlechter Than gewesen. Jedenfalls verließ er Bretta’s Ham, und das nächste, was wir von ihm hörten, war, daß er nach Connacht im Lande Eireann gegangen sei, um in den Dienst des Glaubens zu treten. Unser Vater starb, während er fort war, er fiel im Kampf für den König gegen die Streitkräfte des Königs Wulfhere von Mercia. Darauf wurde ich Than. Das war vor drei Jahren.«
»Wann kehrte Cild zurück?«
Aldhere rieb sich die Nase und überlegte.
»Ich glaube, das war kurz vor der großen Ratsversammlung im Königreich Northumbria .«
»Der Synode von Whitby?« fragte Eadulf.
»Richtig, der Ratsversammlung in Hildas Abtei.«
»Wann hast du erfahren, daß er zurück war?«
»Als ich hörte, daß er zum Abt ernannt worden war. Nachdem seine Frau gestorben war, vertrieb er die meisten Brüder aus Aldreds Abtei und erklärte sie zur geschlossenen Gemeinschaft.«
»Deinem Ton entnehme ich, daß du sein Vorgehen als unrechtmäßig ansiehst«, meinte Eadulf.
»Nein, heiliger gerefa, denn er hatte die Unterstützung unseres Königs Ealdwulf, der sich Oswy von Northumbria anschloß mit seiner Erklärung, er werde künftig der Regel Roms folgen und nicht der Regel Columbans.«
Eadulf erinnerte sich, daß der heilige Colmcille von den Angelsachsen Columban genannt wurde.
»Aber du vermutetest ... was?«
»Was ich vermutete? Ich glaube nicht, daß ein Fuchs sich in ein Lamm verwandeln kann.«
»Ebensowenig, wie dein Bruder seine Persönlichkeit in die eines friedliebenden, von christlicher Nächstenliebe erfüllten Menschen verwandeln könnte«, murmelte Eadulf.
Aldhere grinste breit, sagte aber nichts.
»Er muß dich sehr hassen, wenn er dir den Tod wünscht«, bemerkte Eadulf. »Bist du ihm seit seiner Rückkehr begegnet?«
»Nur einmal. Als ich hörte, daß er Abt von Aldreds Abtei geworden war, suchte ich ihn auf.«
»Sonst kam es zu keinem Treffen?«
»Er machte sich allerdings auf, um meine Entehrung durch König Ealdwulf mitanzusehen.« Aldhere lachte. »Doch ich enttäuschte ihn, weil ich nicht dazu erschien.«
»Hast du seine Frau kennengelernt?«
»Die hatte er nicht verdient«, meinte Aldhere ruhig. »Sie war ein sanftes junges Geschöpf. Sie hieß Gelgeis. Ja, ich habe sie gesehen. Das war damals, als ich zur Abtei ging. Cild trug noch keine römische Tonsur und hatte sich noch nicht fürs Zölibat entschieden. Gelgeis war noch am Leben. Sie kamen zusammen in Aldreds Abtei.«
»Wie ist sie gestorben? Weißt du das?«
Ein seltsamer Ausdruck huschte über Aldheres Gesicht.
»Warum interessierst du dich für Gelgeis, heiliger gerefa?«
Eadulf berichtete ihm, was sich in der Nacht zuvor in der Kapelle zugetragen hatte.
Aldhere lehnte sich mit einem leichten Lächeln zurück.
»Wenn ich dich in dieser Sache mit dem rituellen Fasten richtig verstanden habe«, meinte er schließlich, »dann haben diese armen Narren keine Chance, Cild zu zwingen, sich einem Gericht zu stellen. Wer weiß denn hierzulande etwas von diesem Ritual? Die Leute meines Bruders werden sie einfach umbringen, wenn sie eine Gelegenheit dazu bekommen.«
Eadulf beugte sich vor. »Glaubst du, daß Gelgeis von deinem Bruder ermordet wurde?«
Aldhere zögerte. »Möglich wäre es. Ich kann es nicht sagen. Sie verschwand eines Tages auf dem Wege durchs Moorland in der Nähe der Abtei.«
»Hat Botulf jemals davon gesprochen? Er soll das Mädchen gut gekannt haben.«
»Botulf? Davon hat er mir nie etwas gesagt.«
Eadulf lehnte sich enttäuscht zurück. »Was weißt du von ihrem Tod?«
»Sehr wenig. Als ich hörte, daß Cild aus Connacht zurückgekehrt war, wollte ich ihn als lange verschollenen Bruder willkommen heißen. Wie gesagt, ich ging zur Abtei. Cilds Frau erwies mir mehr Freundlichkeit und Höflichkeit als er. Sie war sehr lieb und reizend, aber zart und sanft. Ich verstand nicht, wie es mein Bruder fertiggebracht hatte, solch eine Frau zu gewinnen ...«
Er schwieg eine Weile, in Erinnerung versunken, dann fuhr er fort: »Als ich meinen Bruder gesehen und erkannt hatte, welche Feindschaft er weiterhin gegen mich hegte, beschloß ich, daß ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Dann kamen die Schlacht und mein Sturz. Nachdem ich geächtet worden war, ging mein Bruder zum König und forderte meinen Rang und meine Besitzungen für sich. Eald-wulf ist ein verschlagener Herrscher. Er äußerte sein Verständnis, bestätigte die Ernennung meines Bruders zum Abt, sagte aber, er könne ihn nicht zum Than von Bretta’s Ham machen und ihm auch nicht alle meine Besitzungen überlassen. In Wahrheit wollte Ealdwulf sie für sich, aber er gab Cild ein Achtel des Erbes meines Vaters. Damit war Cild nicht zufrieden, doch er konnte sich nicht weiter mit dem König darum streiten.«
Aldhere hielt inne, langte nach der Kanne Met auf dem Tisch, goß sich einen Becher ein und leerte ihn mit zwei raschen Zügen.
»Das, heiliger gerefa, ist meine unselige Geschichte, und es ist zugleich die unselige Geschichte meines Bruders.«
Eine Weile schwiegen beide.
»Daraus ergeben sich noch ein paar Fragen«, meinte Eadulf.
»Nämlich welche?«
»War es Cilds oder Botulfs Anwesenheit in der Abtei, die dich veranlaßte, dein Lager in diesem Moorland aufzuschlagen?«
Aldhere lachte. »Ehrlich gesagt, es war eine Mischung aus beidem.«
»Wie könnte man Garb und seinen Vater Gadra von Maigh Eo finden? Denn daß Garb gestern abend im Schneesturm in die Abtei kommen und dieses rituelle Fasten verkünden konnte, deutet darauf hin, daß sich die irischen Krieger in der Nähe aufhalten müssen. Ich möchte mit ihnen sprechen und sie vielleicht vor Cilds Zorn bewahren.«
Der geächtete Than preßte nachdenklich die Lippen zusammen.
»Eine Schar irischer Krieger kann sich in dieser Gegend schlecht verbergen. Aber es gibt noch ein paar Klöster, in denen die irischen Missionare sich geweigert haben, sie den römischen Klerikern zu übergeben. Das könnte die Antwort auf deine Frage sein.«
Eadulf schöpfte plötzlich Hoffnung.
»Kennst du solche Klöster?«
Aldhere nickte langsam.
»Aber ich verstehe nicht, was dich das alles angeht, heiliger gerefa«, entgegnete er. »Dir sind doch diese Dinge sämtlich fremd - welches Interesse hast du daran?«
»Ich habe ein Interesse daran«, erwiderte Eadulf, »den oder die Mörder meines Freundes Botulf vor Gericht zu bringen. Wenn ich zu diesem Zweck ein ganzes Knäuel Fäden aufräufeln muß, dann muß das eben sein, und ich werde es tun.«
»Du klingst entschlossen, mein Freund. Bist du es auch? Und hast du keine Furcht?«
»Du kannst sicher sein, daß ich dazu entschlossen bin, und du sollst selbst beurteilen, ob ich Furcht habe oder nicht.«
»Nicht ich habe das zu beurteilen. Ich meine, du nimmst es mit einigen seltsamen Geheimnissen auf, mein Freund. Mit seltsamen Geheimnissen und bösen Menschen. Laß dich warnen.«
»Die nächstgelegenen Klöster mit irischen Missionaren - du wolltest mir sagen, wo ich sie finde?«
»Ich habe gehört, es gebe ein paar ältere Missionare aus Eireann nördlich von hier in Domnoc’s Wic, aber das könnte zu weit entfernt sein . « Aldhere hielt inne, dann lächelte er. »Da ist noch der Wald von Tunstall, dem Bauernhof, der liegt viel näher, gleich südlich vom Fluß. Dort sollen sich ein Mönch namens Laisre und noch ein paar Brüder versteckt halten.«
Eadulf horchte auf.
»Den Wald von Tunstall kenne ich. Er liegt in Reichweite der Abtei, aber er ist groß und von einem allein nicht zu durchkämmen. Das ist, als wollte man eine Nadel im Heuhaufen suchen.«
»Es gibt nur einen Ort in dem Wald, an dem sich Laisre aufhalten könnte, und das ist der alte Bauernhof selbst. Der ist leicht zu finden. Das ist aber keine Gewähr dafür, daß auch die irischen Krieger dort sind. Doch es ist der nächstgelegene Ort, wo sie Unterschlupf finden könnten.«
»Es ist einen Versuch wert«, meinte Eadulf zuversichtlich. »Ich denke, Garb und sein Vater könnten viel über das Geheimnis der Frau deines Bruders wissen. Und ich glaube, damit hängt der Mord an meinem Freund Botulf zusammen.«
»Wirst du meinem Bruder erzählen, daß du mich getroffen hast?«
»Es gibt ein altes Sprichwort«, überlegte Eadulf laut. »Laß dir von deiner Zunge nicht die Kehle durchschneiden.«
Aldhere lächelte trübe. »Du hast recht. Ich nenne dir noch einen anderen alten Spruch unseres Volkes, an den du denken solltest, solange du dich in der Abtei meines Bruders aufhältst: Fürchte dich, dann bist du sicher.«
Eadulf blickte durch das offene Fenster zum Himmel auf. Die Dunkelheit setzte früh ein in diesen Wintermonaten, und er schätzte, daß sie in weniger als einer Stunde hereinbrechen werde.
»Da wir gerade von Sicherheit reden, es wird Zeit, daß ich zur Abtei zurückkehre.«
Er erhob sich und Aldhere mit ihm.
»Ich gebe dir Wiglaf mit, der bringt dich auf den richtigen Weg. Wenigstens ist der Himmel klar, und der Schneefall hat aufgehört. Dein Rückweg wird leicht.«
»Wenn ich wieder mit dir in Verbindung treten möchte ...?« Eadulf ließ die Frage unbeendet.
Aldhere lächelte. »Ein paar hundert Meter flußaufwärts von der Abtei steht eine Baumgruppe. Dort lasse ich Wiglaf auf Posten, und der weiß, wo ich zu finden bin. So hielten wir auch die Verbindung zum armen Botulf. In dem Wäldchen sollte ich mich gestern mit Botulf treffen.«
Eadulf streckte die Hand aus. Der Geächtete gefiel ihm, und er traute ihm.
»Gott sei mit dir, Than von Bretta’s Ham.«
»Und das Glück folge dir auf deinem Wege, heiliger gerefa.«
Der Rückweg zog sich länger hin, als Eadulf gedacht hatte, und Wiglaf, der einstige Honigdieb, erwies sich als ein geschwätziger Reisegefährte. Er plauderte unentwegt. In einem verzweifelten Versuch, das Gespräch von müßigem Tratsch zu etwas Wesentlicherem zu lenken, unterbrach ihn Eadulf und fragte ihn, wie er zu Aldheres Schar gekommen sei.
Er lachte schallend, beugte sich zu Eadulf hinüber und öffnete seinen Kragen. Leichte rötliche Male waren an seinem Hals zu erkennen.
»Siehst du das? Solche Male hinterläßt ein Sklavenhalsband, gerefa. Das war der Lohn für den Weg, den ich in meiner Jugend eingeschlagen habe. Ich fürchte, deine Prügelstrafe hat mich nicht dazu gebracht, mich zu ändern. Ich trieb es so weiter, wurde gefaßt und zum Sklaven gemacht. Als Aldhere die Burg des Königs an der Mündung des Yar überfiel, um seine Männer zu befreien, war ich zufällig auch dort und mit einem von ihnen zusammengekettet. Deshalb bin ich jetzt hier. Er konnte seinen Mann nicht wegholen, ohne mich mitzunehmen.«
Eadulf schaute ihn mißtrauisch an. »Und du bereust nicht, was du früher getan hast? Bist du immer noch ein Dieb?«
Der Mann grinste über das ganze Gesicht. »Und immer noch ein geschickter. Aldhere braucht keine Mönche, er braucht Diebe, die ihm helfen, in diesem Moorland zu überleben. Es hört sich gut an, wenn man sich gegen Unrecht wehrt, aber solange man für gesetzlos erklärt ist, muß man eben ohne Gesetze leben.«
Er lachte schallend über seinen eigenen Witz.
»Hast du denn keine Grundsätze, Wiglaf?« fragte Eadulf mißbilligend.
»Na klar, gerefa. Am Leben bleiben und sich nicht noch mal erwischen lassen«, erwiderte der Dieb unverfroren.
»Aldhere ist zwar ein Geächteter, allem Anschein nach aber ein anständiger Mensch. Ich frage mich, wieso er sich trotzdem mit dir abgibt.«
Wiglaf wandte sich ihm zu. In der Dunkelheit des hereinbrechenden Abends verschwamm alles, aber Eadulf war sich sicher, daß er ihm zublinzelte.
»Anschein? Denk daran, daß nicht alle Heilige sind, die Weihwasser benutzen, gerefa.«
Eadulf schüttelte traurig den Kopf. »Ich wünschte, du hättest die Lektion gelernt, die ich dir geben ließ, als ich noch gerefa war, Wiglaf.«
»Ich mache mir keine falschen Vorstellungen darüber, wer ich bin und was mein Schicksal sein wird«, erwiderte der Dieb.
»Wirklich nicht? Das frage ich mich. Du mußt doch wissen, daß der Weg des Verbrechens nur zu einem Ende führen kann? Es gibt keinen Sonnenschein ohne Schatten.«
»Gut gesagt, gerefa«, pflichtete ihm Wiglaf humorvoll bei. »Aber es gibt ein Sprichwort, wonach einer, der zum Gehängtwerden geboren ist, nicht ertrinken kann. Ich zweifle nicht daran, daß ich wahrscheinlich mal gehängt werde, doch vorher werde ich nicht ertrinken.«
»Dann sei es so. Du sagtest, du wurdest von Aldhere und seinen Männern nur deshalb befreit, weil du mit einem, den er retten wollte, zusammengekettet warst. Stimmt das?«
»Du hast es richtig erfaßt, gerefa.«
»Wie hast du es fertiggebracht, ihn davon zu überzeugen, daß er dich in seine Schar aufnimmt? Ich hätte gedacht, er überließe dich deinem Schicksal, da er doch ein anständiger Mensch ist und darum kämpft, seinen Ruf und den seiner Leute wiederherzustellen.«
Wiglaf kicherte. Sein Sinn für schwarzen Humor war immer wach.
»Du hast einen guten Verstand, gerefa. Genau das hatte er vor.«
»Wieso hat er dann ...?«
»Ich hatte das Glück auf meiner Seite. Er ließ sich überreden.«
»Und wie kam das?«
»Mein Vetter überredete ihn dazu, denn er wußte, er würde jemanden brauchen, der diese Moore gut kennt und sich in ihnen schnell bewegen kann, also jemand mit meinen besonderen Talenten.«
»Ich verstehe. Dein Vetter war also Aldhere bekannt?«
»Und dir ebenfalls, gerefa. Hast du vergessen, daß ich auch aus Seaxmund’s Ham stamme?«
Diese Logik leuchtete Eadulf nicht ein, und er sagte das.
»Na, mein Vetter ist ... vielmehr war«, verbesserte sich Wiglaf mit trauriger Miene, »Botulf.«
Eadulf fuhr überrascht auf und riß dabei an den Zügeln, worauf sein Maultier unwillig schnaubte.
»Botulf war dein Vetter?« fragte er ungläubig.
»Habe ich das nicht gesagt?« antwortete der Dieb belustigt.
Eadulf versuchte verzweifelt, sich in seine Jugendzeit in Seaxmund’s Ham zurückzuversetzen. Schwache Erinnerungen stellten sich ein. Botulf hatte von einem Vetter gesprochen, den seine Familie ausgestoßen hatte. Wiglaf war auf einem Bauernhof außerhalb des kleinen Dorfes aufgewachsen und selten ins Dorf gekommen.
»Du weißt, daß ich Botulfs enger Freund war, nicht wahr?« sagte Eadulf schließlich.
»Er sprach oft von dir, gerefa, und bedauerte es, daß du das Land des Südvolks verlassen hattest und auf Reisen gegangen warst.«
»Weißt du auch, daß ich seinetwegen zurückgekommen bin?«
»Ja. Ich habe seine Botschaft auf dem ersten Teil ihres Weges nach Canterbury befördert. Botulf freute sich, als er hörte, daß du dort warst. Ich brachte die Botschaft zum Hafen von Domnoc’s Wic und vertraute sie einem Schiffskapitän an, den ich kannte.«
»Du wußtest also, daß es dringend war? Botulf hat dir gesagt, daß er mich unbedingt sprechen wollte?«
»Ich wußte, daß er dich dringend sprechen wollte und Aldhere ebenfalls. Ich habe auch Aldhere seine Botschaft gebracht. Aber alles hat mir Botulf nicht anvertraut. Von dem, was er mir gesagt hat, weiß ich nicht mehr viel.«
»Doch warum wollte er Aldhere sprechen? Und warum wollte er mich sprechen?« rief Eadulf verzweifelt.
»Wenn ich das wüßte, gäbe es kein Geheimnis. Eins hat er gesagt, und du mußt sehen, was du daraus machen kannst: Er sagte, in der Abtei lauere eine große Gefahr für das Königreich. Er sagte, es sei ein Übel, dem man entgegentreten müsse, sonst gingen wir alle unter.«
Eadulf runzelte die Stirn. »Ein Übel?« Es war das Wort »Übel«, das ihn erschauern ließ. »Und Gefahr für das Königreich - für Ealdwulfs Königreich? Von wem?« Er seufzte resigniert. »Das wird ja immer verwirrender.«
Sie ritten eine Weile schweigend weiter, während sich die Dunkelheit über das Moorland senkte.
»Es ist nicht mehr weit, gerefa. Bald siehst du den Fluß und zur Rechten den schwarzen Schatten von Aldreds Abtei.«
An einer Wegbiegung kam ihnen eine Gestalt entgegengeeilt. Sie tauchte so plötzlich aus der Finsternis auf, daß ihre Reittiere scheuten. Als Eadulf sein Maultier wieder unter Kontrolle hatte, war sie vom Weg weggeglitten und zwischen den Bäumen zu ihrer Linken verschwunden, fort vom Moorland. Eadulf hörte noch ihr Keuchen und das Knacken der Zweige, als sie sich den Weg durchs Unterholz bahnte.
»Im Namen von .!« rief er aus.
Er hatte eine schlanke Gestalt erkannt, eine Frau mit langem Haar, aber sonst nichts weiter.
Wiglaf kicherte vor sich hin.
»Was findest du daran so komisch?« fragte Eadulf. »Wer war das?«
»Das war Lioba. Sie ist eine . eine Freundin von Aldhere und anderen, wenn du verstehst, was ich meine.« Er grinste obszön. »Ein Mädchen aus dieser Gegend.« Nach kurzer Pause fuhr er fort. »Wie gesagt, wir sind nicht mehr weit von der Abtei entfernt.«
Eadulf nickte zerstreut. Seine Gedanken kehrten zu ihrem vorigen Gespräch zurück. Er wollte es weiterführen, bevor er sich von Wiglaf verabschiedete.
»Wann hast du Botulf zuletzt gesehen?« fragte er, während sie weiterritten.
»Vor ein paar Tagen. Ich war Aldheres Zwischenträger und brachte Botschaften zur Abtei und zurück. Aber mein Vetter war nicht blöd. Er behielt solche Sachen für sich. Ich war nichts weiter als der Bote. Wie ich dir schon sagte, ich weiß nur, daß in der Abtei Gefahr lauerte.«
»Aber du mußt doch irgendeine Ahnung gehabt haben, was in der Abtei vor sich ging?« drängte ihn Eadulf. »Dein Vetter ist tot, Wiglaf, und ich will seine Mörder vor Gericht bringen.«
»Das verstehe ich ja. Ich glaube, du brauchst die Mauern der Abtei nicht zu verlassen, um seinen Mörder zu finden.«
»Meinst du damit, daß du den Abt für den Mörder deines Vetters hältst?«
»Abt Cild ist ein rücksichtsloser Mensch, und wenn er den Verdacht hatte, daß Botulf sich gegen ihn verschworen hätte ...« Er schloß mit einem Achselzucken.
»Aber er muß doch gewußt haben, daß Botulf mit Aldhere in Verbindung stand? Das ist offenkundig.«
Wiglaf gab keine Antwort. Es war jetzt zu dunkel, um das Gesicht des anderen deutlich zu erkennen. Die Nacht würde finster werden, bewölkt, und weder Sterne noch Mond würden sich in der weißen Schneedecke spiegeln und so ein wenig Licht geben.
»Noch vor Tagesanbruch wird es wieder schneien«, bemerkte Wiglaf zerstreut. Dann setzte er hinzu: »Ich glaube nicht, daß Cild von Botulfs Verbindung zu Aldhere wußte. Das war nicht der Grund für ihre Feindschaft. Es gab da noch etwas anderes. Was es war, weiß ich nicht genau.«
»Bei dem Begräbnis gestern nacht behauptete Cild, er sei Botulfs enger Freund gewesen, und er beklagte seinen Tod. Meinst du, daß er damit log?«
Wiglaf beantwortete Eadulfs Frage mit einem Hohnlachen.
»Bist du sicher, daß du weiter nichts beisteuern kannst, was Licht in die Sache bringt?« drängte ihn Eadulf verzweifelt.
»Einen Rat gebe ich dir noch, gerefa. Das Sprichwort sagt, daß die Kutte noch keinen Mönch macht .«
Wiglaf brach ab. Eadulf sah, wie sich sein Körper spannte, als er über das flache Moorland starrte, und folgte seinem Blick.
Mehrere hundert Meter entfernt in dem dunklen schneebedeckten Moorland erhob sich ein seltsames schillerndes Leuchten. In seiner Mitte schien ein blaues Licht, das sich über ein Stück Land verbreitete und bald schwächer und bald heller flackerte. Eadulf spürte, daß ihn ein Schauer durchlief, und er bekreuzigte sich rasch.
Wiglaf bemerkte seine Geste und lachte laut auf.
»Du brauchst den Schutz des Allmächtigen nicht anzurufen, gerefa«, spottete er. »Das ist bloß ...«
»Ich weiß, was es ist«, fauchte Eadulf ärgerlich. »Ignis fatuus ...«
»Ja, ein Irrlicht. Wir nennen es Feuerdrache.«
»Ich sagte schon, ich weiß, was es ist. Aber kannst du auch erklären, woher es kommt?«
»Die Moorlandbewohner erzählen viele Geschichten vom Feuerdrachen«, erwiderte Wiglaf. »Ich glaube keine davon. Sonst würde ich mich überhaupt nicht ins Moor wagen, geschweige denn mitten in der Nacht hindurchreiten. Schau mal, es ist schon wieder verschwunden.«
Eadulf erschauerte noch einmal und hätte sich beinahe wieder bekreuzigt, aber er wollte seinem Begleiter keine Gelegenheit geben, ihn auszulachen. In seiner Jugend nannte man das ignis fatuus Leichenfeuer, denn es hieß, der Geist unruhiger Toter erhebe sich als blaue Flamme und zeige sich denen, die ihnen zur Gerechtigkeit verhelfen sollten. Gerade zu dieser Zeit, zu Beginn des Julfests, erlaubten die Götter und Göttinnen den Geistern, denen Unrecht geschehen war, sich an den Lebenden zu rächen.
»Jedenfalls«, meinte Wiglaf, »wirst du von den Bäumen da vorn aus die Laterne sehen, die draußen am Tor der Abtei hängt. Nur noch ein kurzer Ritt. Hab Mut, gerefa!«
Eadulf öffnete den Mund, um den unverschämten Dieb zu schelten, aber Wiglaf hatte sein Pferd schon gewendet und trabte in der Dunkelheit davon.
Eadulf blickte wieder über das Moor, sah aber nichts mehr von dem schillernden blauen Licht. Ihm war unheimlich zumute, als er sein Maultier antrieb. Es schien zu spüren, daß sein Stall nahe war, denn es bewegte sich mit einer Geschwindigkeit, die ihn überraschte. Schnell erreichte er die Bäume und erblickte zuerst den Fluß und dann ein Stück weiter die dunklen Mauern der Abtei. Die Laterne flackerte am Tor. Er spürte, wie ihn eine Welle der Erleichterung überlief.
Es war noch früh am Abend. Wenn er die Zeit richtig schätzte, hatte noch nicht einmal die Glocke zum Angelusgebet geläutet, doch ihm schien es so kalt und dunkel, als wäre es Mitternacht.
Es war der dominus, Bruder Willibrod, der Eadulf das Tor der Abtei öffnete, nachdem dieser am Glockenstrang gezogen hatte. Dankbar glitt Eadulf von seinem Maultier und streckte die schmerzenden Glieder.
»Gott sei gelobt, daß du heil zurückgekehrt bist, Bruder Eadulf«, begann der dominus sofort, und sein eines dunkles Auge blinzelte heftig. »Heute früh bist du aufgebrochen, und jetzt ist es schon spät. Wir haben befürchtet, daß dir ein Unfall zugestoßen wäre oder noch Schlimmeres .«
»Noch Schlimmeres?« wiederholte Eadulf.
»Aldheres Geächtete treiben sich im Moorland herum, wie du weißt. Der Abt kam nach der Mittagsglocke zurück, er hatte es aufgegeben, sie zu suchen. Er sagte, du hättest ihn nicht eingeholt, und zürnte mit mir, weil ich dich hatte gehen lassen.«
Eadulf bemühte sich, ein ausdrucksloses Gesicht zu machen.
»Wie du siehst, Bruder Willibrod, bin ich heil wieder hier.«
Bruder Willibrod winkte einen vorbeikommenden Mönch heran und gab ihm die Anweisung, Eadulfs Maultier abzusatteln, zu füttern und zu tränken. Eadulf ging über den Haupthof. Zu seiner Überraschung eilte ihm der dominus nach. Eadulf hatte den Eindruck, er sei nicht nur wegen Eadulfs später Rückkehr besorgt. Anscheinend suchte der dominus nach den richtigen Worten, sein Thema anzusprechen. Zuerst wollte Eadulf es ihm nicht erleichtern, doch dann erfaßte ihn Mitleid. Als sie die andere Seite des Hofes erreicht hatten, fragte Eadulf: »Hast du etwas auf dem Herzen, Bruder?«
»Etwas Seltsames hat sich ereignet, Bruder Eadulf.«
»Etwas Seltsames?«
Die Besorgnis im Ton des dominus war unverkennbar. Plötzlich kam Eadulf ein Gedanke.
»Schwester Fidelma ... Ihre Krankheit hat sich doch nicht verschlimmert?«
Zu seiner Erleichterung schüttelte Bruder Willibrod sofort den Kopf.
»Nein, ihre Krankheit hat sich nicht verschlimmert. Es ist der Bruder Redwald, der .«
Eadulf stutzte. »Wer ist Bruder Redwald?«
»Der junge Mann, der die Arbeiten im Gästehaus erledigt.«
»Ach ja, ich erinnere mich an ihn. Was ist mit ihm?«
»Er mußte in seine Zelle eingesperrt werden und ein starkes Getränk erhalten, damit er sich beruhigte.«
Eadulf wartete noch einen Moment und seufzte dann erbittert.
»Um Himmels willen! Muß ich denn die Geschichte Satz für Satz aus dir herausholen? Du bist anscheinend erregt wegen etwas, das Bruder Redwald passiert ist, obgleich ich nicht weiß, was das mit mir zu tun hat, und es geht mich wohl auch nichts an, wenn du mir nicht erklärst, wieso.«
»Setz dich einen Augenblick, Bruder«, sagte der dominus und wies auf eine Steinbank, »dann erzähl ich’s dir.«
Eadulf verbarg seinen Ärger, wurde zu der Bank geführt und setzte sich hin. Bruder Willibrod ließ sich neben ihm nieder. Sein Gesicht wurde von der flak-kernden Sturmlaterne über ihnen erhellt. Es bot einen unheimlichen Anblick.
»Es ereignete sich gleich nach Anbruch der Dunkelheit«, begann er. Als Eadulf stöhnte, streckte Bruder Willibrod die Hand aus. »Geduld, Bruder. Redwald ist krank und zu seinem eigenen Schutz eingeschlossen. Sein Geist ist völlig verstört.«
Eadulf bezwang sich. Der dominus fuhr fort.
»Redwald ging in das Zimmer von Schwester Fidelma , um zu sehen, ob sie etwas brauchte. Am Bett deiner Gefährtin sah Bruder Redwald eine Frau stehen. Bruder Redwald erkannte sie.«
Bruder Willibrod legte eine dramatische Pause ein.
»Und wer war die Person, die Bruder Redwald erkannte?« fragte Eadulf müde.
»Redwald kam in unsere Gemeinschaft, als Abt Cilds Frau Gelgeis noch am Leben war. Redwald erkannte diese Frau - es war Gelgeis oder der Schatten von Gelgeis. Er wurde irre vor Furcht, weil er wußte, daß sie tot ist. Aber dort stand sie, blaß, aber sonst wie zu ihren Lebzeiten. Sie streckte eine Hand nach ihm aus, und er rannte schreiend aus dem Zimmer. Wir konnten uns seine Worte kaum zusammenreimen .«
Eadulf fühlte, wie es ihm kalt den Rücken hinunterlief. Er erinnerte sich an die Frau, die er am Abend zuvor nahe der Kapelle gesehen hatte, und daran, wie jeder darauf reagiert hatte.
»Diese . diese Erscheinung stand in Fidelmas Zimmer?«
»Ja.«
»Aber du sagtest, ihr ginge es gut?« Eadulf erhob sich hastig.
»Sie lag im Fieberschlaf, wir konnten sie nicht wek-ken, als wir den Fall untersuchten. Von der Frau fanden wir keine Spur.«
Eadulf wollte fort. »Sicher willst du dich um Bruder Redwald kümmern, aber ich möchte nun auch sehen, ob Schwester Fidelma durch diesen Zwischenfall nichts zugestoßen ist - was auch immer ihn verursacht haben mag.«
»Warte noch, Bruder«, rief der dominus und stand auf, um ihn zurückzuhalten. »Warte, ich habe dir noch nicht alles gesagt.«
Eadulf fuhr herum, von plötzlichen Befürchtungen gepackt.
»Was hast du mir noch nicht gesagt?«
»Abt Cild untersuchte die Angelegenheit. Er erklärte mir, daß du ebenfalls eine Frau nahe der Kapelle gesehen haben willst und sie ihm als Gelgeis beschrieben hast. Mir hast du auch davon erzählt. Jetzt hat sie Bruder Redwald gesehen. Der Abt ist beinahe außer sich vor Angst, wenn ich dir das auch nicht sagen sollte. Cild behauptete, er habe diese Gestalt bereits mehrmals erblickt. Nun erscheint sie anderen. Das ist offensichtlich schwarze Magie.«
Eadulf schnaubte verächtlich. Innerlich empfand er freilich eine Furcht, die von dem uralten Glauben seines Volkes herrührte.
»Das ist Abt Cilds Problem«, sagte er ärgerlich und wandte sich zum Gehen.
»Abt Cild glaubt, es sei der Geist seiner toten Frau«, rief der dominus. »Außerdem glaubt er, daß diese Magie in die Abtei gelangte, als du und deine Gefährtin in diesem Königreich ankamen. Es gibt dafür nur eine einzige Erklärung.«
Eadulf fuhr herum und stand Bruder Willibrod mit klopfendem Herzen gegenüber.
»Eine einzige Erklärung? Was meinst du damit?«
»Der Abt glaubt, daß deine Gefährtin den Geist seiner toten Frau durch bösen Zauber heraufbeschworen hat. Wir haben Schwester Fidelma in ihrem Zimmer eingeschlossen, wo sie ihre Bestrafung wegen Hexerei zu erwarten hat.«