Kapitel 10

Der Tag verging für Eadulf quälend langsam. Fidelma ruhte und schlief die meiste Zeit. Ab und zu schritt Eadulf im Zimmer auf und ab und versuchte damit die Spannung zu mindern, unter der er litt. Nur die Tatsache, daß Bruder Higbald ihm einen Fluchtweg gezeigt hatte, bewahrte ihn davor, daß sein Ärger in unbezähmbare Wut umschlug. Bruder Higbald und Bruder Redwald waren die einzigen Besucher im Laufe des Tages. Bei diesen Gelegenheiten war Fidelma wach, stellte sich aber schlafend, wenn sie eintraten, damit ihre fortschreitende Genesung nicht dem Abt Cild gemeldet wurde.

Bruder Redwald, der ihnen die Mahlzeiten brachte, blieb gerade lange genug, um die dampfenden Schüsseln mit Brühe und die Teller mit kaltem Fleisch, Käse und Brot abzustellen oder die leeren Tabletts mitzunehmen. Bruder Higbald war bei seinem Besuch lok-kerer und mitteilsamer, was die Ereignisse in der Abtei anging. Er berichtete Eadulf, daß Abt Cild Vorbereitungen für das Gericht traf, vor dem Fidelma der Geisterbeschwörung angeklagt werden sollte. Der Abt würde sowohl als Ankläger als auch als Richter auftreten. Er hatte Bruder Willibrod gesagt, er gebe Fidelma nur noch einen Tag, sich von ihrer Krankheit zu erholen. Danach habe sie, ganz gleich in welcher Verfassung, vor ihm zu erscheinen und sich zu verantworten. Bruder Higbald riet ihnen nochmals dringend, die Abtei so bald wie möglich zu verlassen.

Eadulf hörte aufmerksam zu, nickte zustimmend, doch er legte sich nicht fest. Fidelma hatte ihm empfohlen, sich nicht zu äußern, niemandem in der Abtei zu trauen, auch nicht Bruder Higbald. Als Eadulf meinte, Bruder Higbald habe sein volles Vertrauen, hatte Fidelma ihn getadelt.

»Unter diesen Umständen solltest du niemandem trauen. Woher weißt du, daß er nicht vom Abt geschickt wird, um uns zum Handeln zu verleiten?«

Eadulf befolgte ihren Rat, und als der Apotheker wissen wollte, zu welcher Zeit sie aufbrechen würden, wich Eadulf aus und meinte, das hänge davon ab, wann Fidelma sich hinreichend erholt habe.

Eadulf verbrachte die Nacht in unbequemer Stellung. Er hatte sich entschlossen, in Fidelmas Zimmer zu bleiben und auf dem Stuhl am Feuer zu schlafen. Er nickte immer nur für eine kurze, unruhige Zeit ein und schaute inzwischen nach Fidelma, die in einem ungestörten Schlummer lag; ihre Temperatur war normal.

Er erwachte schließlich, als das graue Morgenlicht ins Zimmer drang. Im Winter kam die Dämmerung spät, und nach den Geräuschen ringsum zu urteilen, hatten die Mitglieder der Abtei ihre Morgenandacht bereits beendet und waren bei der Arbeit. Es klang ungewöhnlich geschäftig. Dann fiel ihm ein, welcher Tag heute war: der Heilige Abend, der Vorabend der Geburt des Heilands. Er fühlte sich schuldig, weil er nicht früher daran gedacht hatte.

Besorgt stand er auf und stellte zu seiner Überraschung fest, daß Fidelma sich schon gewaschen und angezogen hatte.

»Du mußt vorsichtig sein«, sagte er ohne Vorrede. »Wenn Abt Cild dich so sähe, würde er merken, daß du vollständig genesen bist.«

»Deo favente geht es mir gut.« Fidelma lächelte. »Mach dir keine Sorgen. Ich meine, ich bin nun kräftig genug für die Reise, und es wird Zeit, daß wir deinen Fluchtweg erproben.«

Eadulf wollte gerade zu dem Wandteppich gehen, um ihn ihr zu zeigen, da klopfte es zaghaft an der Tür. Gleich darauf trat Bruder Redwald ein. Er brachte wie üblich ein Tablett mit Essen.

Er machte große Augen, als er Fidelma aufrecht und angezogen sah.

»Es ist schön, daß du wieder gesund bist, Schwester«, murmelte er verlegen und setzte das Tablett ab.

»Bruder Redwald, nicht wahr?« Fidelma lächelte den jungen Mann sanft an. »Ich fürchte, in den letzten beiden Tagen habe ich meine Umwelt kaum wahrgenommen, aber ich erinnere mich an deine Freundlichkeit an dem Abend, als ich in der Abtei eintraf.«

Der junge Mann errötete heftig.

»Schwester, ich muß gestehen, daß ich dir einen schlechten Dienst erwiesen habe.«

»Bruder Eadulf sagte mir, daß du lediglich berichtet hast, was du gesehen hast, als du neulich in dieses Zimmer kamst«, antwortete Fidelma. »Andere haben daraus falsche Schlüsse gezogen, das ist nicht deine Schuld. Kannst du mir beschreiben, was du wirklich gesehen hast?«

Der junge Mann trat von einem Fuß auf den anderen und schaute Bruder Eadulf an.

»Ich sagte zu ihm .«

Fidelma unterbrach ihn mit einer leichten Handbewegung und einem Lächeln.

»Das ist nicht dasselbe, als wenn du es mir sagst. Beschreibe, was du gesehen hast.«

»Dem ist nicht viel hinzuzufügen. Ich kam ins Zimmer und wollte schauen, ob ich dir irgend etwas bringen könnte. Du lagst im Schlaf oder im Fieber. Eine Gestalt stand an deinem Bett und beugte sich über dich. Es war eine Frau. Als ich eintrat, richtete sie sich auf und wandte sich mir zu. Sie blickte mir gerade ins Gesicht. Ich erkannte sie, denn als ich in diese Abtei kam, war Abt Cilds Frau noch am Leben. Das war sie, Lady Gelgeis, von der es heißt, sie sei im Moor nicht weit von hier untergegangen.«

Fidelma betrachtete ihn nachdenklich.

»Wie sah sie aus? Ich meine, war sie so körperlich vorhanden wie ich jetzt? Verstehst du, wenn sie tatsächlich ein Geist gewesen wäre, wie anscheinend alle glauben, dann wäre sie sicher eine Gestalt ätherischer Art gewesen. Sie hätte etwas an sich gehabt, was nicht von irdischer Natur wäre.«

Der junge Mann schwieg und überlegte.

»Sie war wirklich körperlich vorhanden. Aber sie war ein Geist. Was sollte sie sonst sein, da sie doch tot ist? Jedenfalls war es klar, daß sie ein Geist war trotz ihrer Körperlichkeit.«

»Woher weißt du das?«

»Weil ihr Gesicht geisterhaft weiß war. Selbst im flackernden Kerzenlicht erschien ihr Gesicht blaß, bleich ... Wahrhaftig, sie war nicht von dieser Welt.«

Fidelma preßte die Lippen zusammen. Sie merkte, daß Bruder Redwald leicht zitterte und daß es nicht klug wäre, mehr aus ihm herausholen zu wollen. Sie wollte ihn schon entlassen, da waren draußen eilige Schritte zu hören. Bruder Higbald öffnete die Tür, ohne anzuklopfen. Er sah erregt aus. Sein Blick fiel zuerst auf Schwester Fidelma. Er lächelte und wollte etwas sagen, als er Bruder Redwald bemerkte.

»Geh in deine Zelle, ich komme dir gleich nach. Beeil dich.« Sein Ton war schroff.

Eadulf und Fidelma tauschten erstaunte Blicke.

»Was ist los?« fragte Eadulf, während der junge Mönch gehorsam davoneilte.

Bruder Higbald sah Bruder Redwald nach, als wolle er warten, bis der außer Hörweite war. Darauf sprach er leise und dringend, erst zu Fidelma und dann zu Eadulf.

»Bring dich in Sicherheit, Schwester Fidelma; bring dich in Sicherheit, Bruder Eadulf«, sagte er in unheilverkündendem Ton. »Schreckliche Nachrichten ...!«

»Nachrichten? Was für Nachrichten?« erkundigte sich Eadulf.

»Krieger der Ost-Sachsen sind an der Küste gelandet, nicht weit von hier. Es heißt, sie marschieren in unsere Richtung.«

Eadulf nahm das nicht ernst. »Das sind wahrscheinlich die Leute aus dem Langschiff, die ich vor zwei Tagen traf. Das waren nur ein paar Mann. Die können uns doch nicht gefährlich werden?«

Bruder Higbald blieb beunruhigt.

»Die Nachricht besagt, daß es viele Langschiffe sind, und es könnten sehr wohl Sigeheres Leute sein, die alle christlichen Häuser zerstören wollen, die seinen Vetter Sebbi unterstützen. Sie sollen auf dem Wege hierher sein. Folgt meinem Rat und bringt euch in Sicherheit! Du weißt, was zu tun ist, Bruder. Ich muß mich um unsere Verteidigung kümmern.«

Er warf ihnen noch einen bittenden Blick zu, ehe er eilig davonging.

Mit besorgter Miene wandte sich Eadulf Fidelma zu.

»Das sind schlechte Neuigkeiten. Aber sie könnten auch von Vorteil für uns sein. Ich meine, wir müssen tun, was er uns rät. Bist du stark genug für die Reise?«

Fidelma zögerte, dann nickte sie in stummem Einverständnis.

»Ich schlage vor, wir brechen sofort auf, bevor Abt Cild behauptet, du hättest eine Armee von Ost-Sachsen zum Überfall auf seine Abtei herbeigezaubert«, sagte Eadulf.

»Vielleicht hast du recht.« Fidelma lächelte leise. »Das scheint die richtige Zeit für unsere Abreise zu sein.«

Eadulf packte das Brot und das kalte Fleisch, das Bruder Redwald ihnen gerade gebracht hatte, in seine Reisetasche. In Gedanken sprach er ein kleines Dankgebet dafür, daß er so klug gewesen war, seine Sachen in Fidelmas Zimmer zu räumen, als er ihre Pflege übernahm. Er half ihr, den Mantel anzuziehen, und warf sich seinen Mantel um.

Ihre Schritte waren noch unsicher vor Schwäche, doch Eadulf stützte sie. Fragend sah sie ihn an.

»Wo ist nun dieser Fluchtweg? Bei all der Aufregung würde man uns sofort bemerken, wenn wir die Abtei auf anderem Wege verlassen wollten.«

Eadulf ging zu der Wand hinter ihrem Bett und schob den Wandbehang beiseite.

Fidelma machte große Augen, als die kleine Tür zum Vorschein kam. Eadulf zog sie nach innen auf.

»Ein geheimer Gang?« fragte sie.

»Er soll nach draußen führen.«

»Wenn unser Geist eine lebendige Frau ist, dann ist sie zweifellos auf diesem Wege ins Zimmer gekommen und hat es wieder verlassen, ohne von jemandem außer Redwald gesehen zu werden.«

Daran hatte Eadulf noch nicht gedacht, erkannte es aber als eine logische Folgerung an. Doch jetzt hatten sie keine Zeit für Vermutungen. Sie betraten den Gang. Gleich vorn fanden sie ein Bord mit einer Talg-kerze darauf. Eadulf lief ins Zimmer zurück, entzündete die Kerze an der Glut des Kaminfeuers, zog den Wandteppich wieder vor und schloß die Tür. Der dunkle Felsengang war feucht und muffig, und während sie vorsichtig weiterschritten, hörten sie das erschrockene Piepsen vor ihnen davonflitzender Mäuse.

Eadulf merkte, daß sie sich nicht in einem einzelnen Gang befanden, sondern daß er Teil eines Netzwerks war, das sich wohl unter der ganzen Abtei erstreckte. Er versuchte sich an die Anweisung zu erinnern, die ihm Bruder Higbald gegeben hatte. War es zweimal nach rechts und einmal nach links oder umgekehrt? Er fluchte im stillen, weil er es nicht mehr wußte. Jetzt konnte er nur noch seinem Glück vertrauen. Er wagte nicht, Fidelma zu gestehen, daß er solche einfachen Vorschriften vergessen hatte.

Sie kamen zu einer Gabelung, und Eadulf entschied sich nach kurzem Zögern für den Weg nach rechts. Der Gang wurde etwas enger. An der nächsten Gabel schlugen sie wieder den Weg nach rechts ein. Es wurde jetzt sehr feucht, Wasser tropfte von den Wänden. Fidelma mußte husten. Diese Luft war nicht gut für sie nach ihrer Krankheit. Eadulf schritt so schnell aus, wie es ging.

»Da vorn ist ein Licht«, flüsterte Fidelma hinter ihm. Eadulf hatte das flackernde Leuchten schon erblickt. Es kam anscheinend von einer Fackel in einem Nebenraum. Er wandte sich rasch um.

»Wir müssen leise weiter«, flüsterte er. Es war eine überflüssige Instruktion.

Schweigend gingen sie auf den Raum zu, aus dem das Licht fiel. Vor dem offenen Eingang blieb Eadulf stehen und spähte vorsichtig hinein. Eine Fackel erleuchtete den Raum hinter dem Torbogen. Zum Glück war er leer - jedenfalls von Menschen. An einer Seite gab es Bänke und an der Wand Holzpflöcke, an denen eine erstaunliche Ansammlung von Schilden, Schwertern und Lanzen hing. Eadulf trat einen Schritt vor und betrachtete verblüfft diese kriegerische Ausrüstung. Alles war blank geputzt und in bester Ordnung.

»Merkwürdig«, flüsterte er.

Fidelma schaute ihm über die Schulter.

»Hat nicht jemand gesagt, dies wäre eine alte Festung gewesen, bevor das Gebäude zur Abtei wurde?« Sie sprach gereizt, verärgert über einen neuerlichen Hustenanfall.

»Fackeln brennen keine hundert Jahre, und Waffen und Schilde behalten nicht ihren Glanz«, erinnerte sie Eadulf.

Fidelma wollte endlich aus der feuchten Luft heraus und sich nicht länger hier aufhalten.

»Na, du hast mir erzählt, Abt Cild sei früher Krieger gewesen. Vielleicht kommt er nicht von der Gewohnheit weg. Los, gehen wir, mir wird kalt.«

»Aber die Schilde tragen Zeichen der Iclingas und . « Eadulf verstummte plötzlich, und er ging in den Raum hinein. Auf dem Boden unter einer Reihe von Schilden hatte er etwas entdeckt. Es war eine kleine dunkle Ledertasche, rechteckig und mit einem einge-brannten Muster verziert, das in ihm eine alte Erinnerung weckte. Er nahm sie auf und bemerkte, daß sie offensichtlich mit erheblicher Gewalt von einem Gürtel abgerissen worden war, denn die Lederriemen waren überdehnt und durchtrennt.

»Barmherziger Gott!« stöhnte er, als er sie untersuchte.

Fidelma stand ungeduldig an der Tür. »Was ist das?«

Er wandte sich um und hielt ihr die Tasche so hin, daß sie sie in dem schwachen Licht sehen konnte. Unter dem symbolischen Muster war mit einer glühenden Nadel oder einem ähnlichen spitzen Gegenstand ein Name in das Leder eingebrannt. Er lautete »Bo-tulf«.

»Sie ist leer«, sagte Fidelma, die rasch hineingeschaut hatte. »Was tut die Tasche deines Freundes hier?«

Eadulf hatte sich inzwischen die Fundstelle genauer angesehen. Dort gab es dunkle Flecken. Er verfolgte ein paar Spritzer bis zu Stufen, die aufwärts führten und an einer alten Holztür endeten, die von innen verriegelt war.

Fidelma hatte die Flecken erkannt.

»Blut. Ich vermute, dein Freund Botulf könnte hier sein Ende gefunden haben?« meinte sie leise.

Eadulf erschauerte, aber nicht vor Kälte. Er merkte, daß sie wieder hustete.

»Ich wette, die Tür führt durch die Krypta zu dem kleinen Hof an der Kapelle. Dort hat man den Leichnam des armen Botulf entdeckt. Das hier behalte ich«, sagte er und steckte die Tasche in seinen sacculus.

»Gehen wir lieber weiter. Wir können später darüber nachdenken.«

Der Gang schien endlos, und Eadulf kam zu dem bedrückenden Schluß, daß er sich in den Anweisungen geirrt hatte. Vielleicht sollte es doch zweimal links und einmal rechts heißen? Er wollte schon vorschlagen, sie sollten umkehren, da sah er vorn Licht.

Es war das Ende des Tunnels. Der Ausgang war von Pflanzen verdeckt, deren Ranken wie ein Vorhang darüber hingen. Eadulf schob sie mühsam auseinander und hielt sie fest, damit sich Fidelma hindurchzwängen konnte. Hier war offensichtlich seit längerer Zeit niemand durchgekommen.

Vorsichtig schlich er weiter. Die Dumpfigkeit und Kälte des Ganges hatten sie auf die eisige Luft draußen vorbereitet. Der Himmel war zwar klar und blau, aber der Schnee lag wie eine knirschende Decke auf jeder offenen Stelle.

Sie waren ungefähr zwanzig Schritt von den Mauern der Abtei entfernt an die Oberfläche gelangt, im Schutze einer Anhöhe, auf der Bäume eine dünne Deckung vor spähenden Augen boten.

Eadulf schaute sich aufmerksam um.

»Runter!« zischte er plötzlich.

Fidelma gehorchte wortlos.

Dicht an der Südmauer der Abtei standen ein halbes Dutzend Männer zusammen. Bei ihnen saß zu Pferde eine schlanke Gestalt mit langem rotem Haar, anscheinend ein Mädchen. Einer der Männer sprach mit ihr. Dann hob sie bestätigend die Hand und trieb ihr Pferd an, geradewegs auf das Versteck zu. Der Pfad führte dicht daran vorbei, doch der Rappe preschte vorüber, ohne daß sie gesehen wurden. Nachdenklich schaute Eadulf Pferd und Reiterin hinterher.

»Was ist?« fragte Fidelma, der seine erstaunte Miene auffiel.

»Ich könnte schwören, daß es dieselbe Frau war, die ich neulich abends gesehen habe und über die sich alle so aufregen.« Er blickte zurück zu den Männern an der Abteimauer. »Ich frage mich, was die da zu tun haben?«

Fidelma folgte seinem Blick.

»Sind es Männer aus der Abtei, die sich gegen den Angriff der Sachsen rüsten?«

Eadulf schüttelte den Kopf.

»Ein merkwürdiger Ort für eine Verteidigungsposition«, meinte er. »Jeder Angriff von See her müßte von Osten kommen.« Er hielt inne und lauschte. Es war nichts zu hören, weder von einer anmarschierenden Kriegerschar noch von Verfolgern, die nach ihnen suchten. Vorsichtig schaute er sich um. »Ich fürchte, es wird ein langer Weg nach Tunstall. Ich wünschte, wir hätten uns Pferde besorgen können.«

Fidelma fühlte sich viel besser, seit sie aus dem dunklen, engen, feuchten Gang heraus war, und wurde mutwillig.

»Ich dachte, du reitest nicht gern?«

Eadulf lächelte kurz. Ihr Humor war ein Zeichen, daß sie fast wieder die alte war.

»Ich mache mir Sorgen um dich. In deiner Verfas-sung durch den Schnee stapfen läßt den Weg lang werden.«

»Keine Sorge, Eadulf. Es stimmt, ich würde lieber mit einem heißen Getränk an einem schönen Feuer sitzen, aber wir dürfen nicht wählerisch sein. Je eher wir uns auf den Weg machen, desto eher kommen wir an.«

Eadulf nickte, bestand aber darauf, ihre beiden Reisetaschen zu tragen, um Fidelma zu entlasten. Sie gingen tiefer in den Wald hinein, und Eadulf bemühte sich, Wege zu finden, auf denen kein Schnee lag und auf denen sie keine Spuren für etwaige Verfolger hinterließen. Er schritt langsam und gleichmäßig aus, dennoch mußte Fidelma ab und zu Pausen einlegen, denn ihr Atem ging flach und schnell. Offensichtlich machte ihr die Krankheit noch zu schaffen.

Vorsichtig suchte Eadulf den Weg durch den Wald und das Unterholz. Nach einiger Zeit erblickte er eine Holzfällerhütte ein Stück oberhalb am Hang eines Hügels. Eine dünne Rauchfahne schlängelte sich aus dem Schornstein. Sie waren zwar noch nicht weit von der Abtei entfernt, doch Eadulf glaubte, es könnte ein geeigneter Ort sein, an dem Fidelma sich ausruhen konnte. Sie hatte ihn gerade wieder eingeholt.

»Ich sehe mal nach, ob man uns in dieser Holzfällerhütte aufnimmt«, erklärte er ihr. »Am besten, du setzt dich solange auf den Baumstamm hier.«

Fidelma ließ sich dankbar auf den Baumstamm sinken, um wieder zu Atem zu kommen. Sie schaute hoch zu der Hütte.

»Sind wir nicht noch zu dicht bei der Abtei, um länger zu rasten? Wenn die Abtei überfallen wird, könnten die Angreifer auch diese Richtung einschlagen.«

Eadulf schüttelte den Kopf. »Ich glaube, eine Weile sind wir noch sicher.«

»Ich würde lieber eine möglichst große Entfernung zwischen uns und die Abtei bringen, aber ...« Sie zuckte die Achseln. Sie war zu schwach, um sich mit ihm zu streiten.

Eadulf machte sich auf den Weg zur Holzfällerhütte. Von außen sah sie verlassen aus, denn es waren weder Hunde noch andere Tiere zu sehen. Doch der Rauchfaden bewies, daß innen ein Feuer brannte, also mußte es auch jemand geben, der es schürte. Zuversichtlich ging er auf die Tür zu. Dann erblickte er ein gesatteltes Pferd, das an einem Pfahl in der Nähe angebunden war. Es schnaubte ein wenig wie nach einem scharfen Ritt. Es war eine schwarze Stute.

Er näherte sich der Hütte und wollte schon an die Tür klopfen, als ein Schrei ihn innehalten ließ. Es war der Schrei einer Frau, der in ein Gelächter auslief. Dann begann die Frau zu sprechen, von Quietschen und Stöhnen unterbrochen.

»Komm, mein Schatz . Aaah, das ist gut . guut . aaah .«

Es war klar, was da drinnen vor sich ging, und Eadulf ließ den Arm sinken. Peinliche Verlegenheit überkam ihn. Da wurde ihm plötzlich mit schmerzlicher Verwunderung bewußt, daß die Frauenstimme irisch gesprochen hatte.

Er zögerte und wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Halb wollte sich schamhaft abwenden, halb war er neugierig, wer da drin war.

Er unterdrückte sein Schamgefühl und ging vorsichtig die Wand entlang zu einem Fenster. Es hatte kein Glas, und der Vorhang war eingerissen. Er schob sich nahe heran und warf einen Blick in die Hütte. Er achtete darauf, daß er von den Leuten drinnen nicht gesehen werden konnte, und wagte einen längeren Blick. Er kam sich dabei wie ein abnormer Spanner vor.

Er sah, was er erwartet hatte: ein Mann und eine Frau beim Liebesakt. Die Frau schien dabei der aktivere Teil zu sein, sie sprach und stöhnte immerzu. Sie war jung und schlank mit einer rotblonden Mähne. Auf ihrem nackten Körper lag ein untersetzter Mann in mittleren Jahren. An ihm fiel Eadulf sofort auf, daß er die Tonsur des heiligen Petrus trug. Da hob der Mann den Kopf, doch zum Glück für Eadulf war sein eines gesundes Auge im Sinnenrausch geschlossen. Das andere bedeckte eine Lederklappe.

Es war Bruder Willibrod, der dominus von Aldreds Abtei.

Eadulf wandte sich rasch ab und schluckte schwer. Er blieb einen Moment stehen und holte Atem, dann ging er den Hügel hinab und durch den Wald zu der Stelle, an der Fidelma ihn geduldig erwartete.

»Dort finden wir keine Aufnahme«, antwortete er kurz auf ihren fragenden Blick. »Wir müssen gleich weiter.«

Fidelma bemerkte seine Verwirrung, stellte aber keine Fragen. Eadulf würde ihr zu gegebener Zeit berichten, was ihn bedrückte.

Sie schritten so schnell aus, wie Fidelma es vermochte, und bald stellten sie fest, daß sie auf ihrem Weg in südlicher Richtung nach Tunstall den Fluß Alde überqueren mußten. Mit starker Strömung und eiskalt, war er zu tief, um ihn zu durchwaten. Eadulf hatte nicht bedacht, daß sie ja die Brücke nahe der Abtei nicht benutzen konnten, also am Fluß entlang wandern müßten, bis sie eine geeignete Furt fänden, was einen Umweg von Meilen bedeuten konnte.

Sie hatten, wie er schätzte, gut zwei Meilen zurückgelegt, als Fidelma sagte: »Es tut mir leid, Eadulf, aber ich muß mich wieder eine Weile ausruhen.«

Eadulf sah, daß sie erschöpft war. Ihm war klar, daß sie eine Unterkunft finden mußten, und zwar bald. Er blieb stehen, und war dann froh darüber, denn sonst hätte er das Geräusch wohl nicht gehört. Es war ein Knarren und Quietschen von Holz, und dann ein tiefes Schnauben.

»Ein schwerer Wagen«, meinte Fidelma, die ein scharfes Gehör besaß.

»Warte hier«, brummte Eadulf und lief eilig zu dem Fahrweg, von dem die Töne herkamen. Er war nahe und führte hinunter zum Fluß. Ein schwerer vierrädriger Frachtwagen, von zwei Maultieren gezogen, schwankte auf ihm heran, von einem Mann in einem Lederkoller gelenkt. Er hatte ein gerötetes Gesicht und schwere Wangen. Neben ihm saß ein zweiter Mann mit dunklem Teint. Der Fahrer lenkte den Wagen den Abhang zum Fluß hinunter, den er offensichtlich überqueren wollte.

Ohne weiter zu überlegen, ergriff Eadulf die Gelegenheit. Er trat aus den Büschen heraus und beinahe vor den Wagen.

»Guten Tag, Brüder!«

Erschrocken zog der Fahrer die Zügel an und brachte den Wagen zum Stehen. Sein Begleiter langte nach dem Messer in seinem Gurt. Als beide sahen, daß es ein Mönch war, der sie angeredet hatte, beruhigten sie sich etwas.

»Guten Tag, Bruder«, antwortete der Fahrer mit einem fremden Akzent.

Eadulf hob die Stimme, damit Fidelma ihn hören und herbeikommen konnte.

»Verzeiht, Brüder, aber fahrt ihr nach Süden?«

»Wie du siehst, ja«, erwiderte der Fahrer. »Wir wollen zum Hafen von Gipeswic.«

»Ach«, sagte Eadulf lächelnd. »Meine Gefährtin ist erschöpft, und unser Ziel liegt ein paar Meilen weiter auf eurem Weg. Hättet ihr wohl Platz auf eurem Wagen? Das würde uns den Flußübergang erleichtern.«

Der Fahrer überlegte und wollte wohl schon zu einer Ablehnung ansetzen. Eadulf hörte, wie Fidelma hinter ihm herankam. Der Fahrer gab plötzlich nach und blickte seinen Begleiter an, der nickte.

»Da ist tatsächlich Platz, Bruder. Wir sind Kaufleute aus dem Frankenreich. Vergib uns unser Mißtrauen, aber es heißt, in diesen Wäldern soll es von Geächteten wimmeln. Deine Gefährtin scheint aus Eireann zu stammen.«

»Woran siehst du das?« Fidelma lächelte schwach.

»Am Schnitt deiner Kutte, Schwester. Wir kommen aus Peronne, und dort gibt es eine Gemeinschaft irischer Mönche und Nonnen unter dem Abt Ultan.«

Eadulf war überrascht. »Ultan? Der ist doch Bischof von Ard Macha?«

Nachsichtig erklärte ihm Fidelma: »Diesen Namen gibt man jedem Mann aus dem Königreich Ulaidh. Aber ich kenne den Ultan, den du meinst«, sagte sie zu dem fränkischen Kaufmann. »Er ist der Bruder von Fursa, der einmal eine Mission in dieses Land der OstAngeln führte.«

Eadulf machte große Augen. »Der Ultan lebt noch und ist Abt im Frankenreich?«

Der Fahrer lachte. »Jedenfalls lebte er noch, als wir vor sechs Monaten abfuhren, um ein paar Waren in dieses Land zu bringen.« Er wandte sich an seinen Begleiter. »Steig ab, Dado, und hilf der guten Schwester auf den Wagen. Seid ihr schon weit gereist, Bruder?« fragte er dann Eadulf. »Deine Gefährtin sieht müde und geschwächt aus.«

»Wir haben eine ziemliche Strecke zurückgelegt«, antwortete Eadulf unschuldig. »Für eure Hilfe sind wir euch sehr dankbar.«

Sie kletterten auf den Wagen und setzten sich hinter den Fahrer, einen Mann namens Dagobert, und seinen Begleiter Dado. Eadulf bemerkte, daß der Wagen voller Handelsgüter war. Viele davon waren in dieser

Gegend hergestellt, und er nahm an, sie seien für Waren aus dem Frankenreich eingetauscht worden.

»Hattet ihr eine erfolgreiche Fahrt, Brüder?« erkundigte er sich, während der Wagen weiterrollte, auf den Fluß zu.

»Es ist nicht viel los mit dem Handel in diesem armen Land, Bruder«, erwiderte der Fahrer und knallte mit der Peitsche über den Köpfen der Maultiere.

»Gold und Schmuck sind in deinem Land anscheinend knapp«, fügte sein Begleiter Dado hinzu. »Wir haben etwas Granat und Amethyst mitgebracht. Eure Schmiede brauchen unsere fränkischen Münzen anscheinend nur dazu, das Gold herauszuschmelzen.« Dado spitzte den Mund und machte ein Geräusch wie beim Ausspucken. »Die Schmiede hierzulande taugen nicht viel. Und erst die Töpferei!« Er verdrehte die Augen. »Manche fertigen ihre Gefäße wohl noch ohne Töpferscheibe an und brennen sie ungleichmäßig, indem sie einfach ein Feuer über einem Stapel an der Sonne getrockneter Töpfe errichten. Was haben diese Leute denn anzubieten? Hier kommen wir nicht wieder her.«

Dieses Urteil der Kaufleute über sein Heimatland war Eadulf etwas peinlich.

»Aber mit der Wollverarbeitung oder der Weberei ist doch sicher Handel zu treiben?« fragte er gereizt.

»Woanders kriegt man sie in besserer Qualität. Die Leute hier sind eher ein Kriegervolk und leben auf Bauernhöfen, die sie gerade so ernähren«, erwiderte der Mann. »Selbst zum Mahlen von Korn müssen sie sich Mühlsteine aus dem Frankenland kommen lassen.

Solche Mühlsteine aus Lava haben wir herübergebracht, damit die Sachsen ihr Korn mahlen können. Und was bieten sie uns dafür an? Sklaven? Es sind zu viele angelsächsische Sklaven auf dem Markt. Die Entdeckung solcher Sklaven auf dem Markt in Rom hat den heiligen Gregor, den damaligen Bischof von Rom, dazu veranlaßt, Augustinus ins Königreich Kent zu entsenden. Es gibt noch viele Teile dieses Landes, die heidnisch sind, aber ob christlich oder heidnisch, sie exportieren nur Sklaven.«

Eadulf zog ein finsteres Gesicht.

Fidelma hingegen nutzte die Gelegenheit, um noch mehr zu erfahren.

»Ich habe gehört, die Ost-Sachsen sind wieder zu ihren alten Göttern zurückgekehrt«, sagte sie.

Dado war anscheinend der redseligere von den beiden, nachdem er erst einmal in Fahrt gekommen war. Er nickte sofort.

»Wir haben schon viele Geschichten gehört, als wir im Hafen von Gipeswic ankamen. Es heißt, daß König Sigehere alle christlichen Häuser niederbrennt und die Mönche und Nonnen in die Sklaverei verkauft - wenn er sie nicht gleich umbringen läßt.«

»Ich dachte, vielleicht hättet ihr was von einer Kriegerschar gehört, die unten an der Küste gelandet sein soll?«

Dado stieß einen Pfiff aus und sah Dagobert kopfschüttelnd an.

»Davon haben wir nichts gehört. Wann soll das gewesen sein?«

»Heute morgen.«

»Das ist merkwürdig«, meinte Dado stirnrunzelnd.

»Merkwürdig?« fragte Fidelma nach.

»Vor ungefähr einer Stunde machten wir eine Essenspause, und da begegnete uns ein anderer Reisender, ein Reiter. Er war heute früh von der Küste aufgebrochen und sagte nichts von einem Überfall. Aber es ist wahrscheinlich gut, daß wir in unser Heimatland zurückkehren. Ihr solltet das auch tun. Dieses Land hier ist wenig gastfreundlich. Armut, Sklaven und Krieg. Gott gebe uns eine glückliche Heimkehr ins Frankenland.«

»Dazu sage ich amen, Dado«, murmelte der Fahrer.

Eadulf saß stumm und mit geröteten Wangen dabei. Es ärgerte ihn, daß die Fremden auf solche Weise über sein Land sprachen. Das Schlimme war nur, daß ihm nichts einfiel, was er hätte dagegen sagen können. Sein Volk war ein Kriegervolk, das Europa überschwemmt und sich mit dem Schwert genommen hatte, was es erlangen konnte. Bevor der neue Glaube es erreichte, galt als das schönste Lebensende der Tod auf dem Schlachtfeld, mit dem Schwert in der Hand und dem Namen des Gottes Wotan auf den Lippen.

Es war noch keine hundert Jahre her, daß Wuffa, der Sohn des Wehha, sein Volk in dieses Land geführt und sich zum König von Ost-Angeln gemacht hatte, nachdem er die Briten weiter nach Westen vertrieben hatte. Zehn Könige waren auf Wuffa gefolgt, der von Wotan selbst abstammte, von Casere, dem vierten Sohn des großen Gottes. Eadulf als gerefa konnte die acht Generationen zwischen Wotan und Wuffa aufzählen. Er konnte sogar die zehn Generationen aufzählen, die Wuffa von König Ealdwulf trennten.

Wuffas Sohn Tytila fiel in der Schlacht gegen Ce-olwulf von Wessex; Redwald wurde bretwalda oder Oberherr der sächsischen Königreiche; Eorpwald wurde von seinem Bruder ermordet, weil er zum Christentum übertrat; Ricbert der Heide fand ein ungewisses Ende; dann Sigebert, Egric, Anna und Athel-here, die in der Schlacht starben, mit dem Schwert in der Hand. Danach kam Athelwold, der beinahe acht Jahre regierte, ehe Ealdwulf an die Macht gelangte. Normalerweise hätte Eadulf stolz die Könige der OstAngeln aufgezählt. Aber er war weit gereist und hatte viel gesehen und fragte sich nun, ob man wirklich stolz darauf sein konnte, aus einem Kriegervolk zu stammen, das keinen anderen Handel zu bieten hatte als den Sklavenhandel.

Er erschauerte und zog seinen Mantel fester um sich. Er war wohl zu lange in den fünf Königreichen von Eireann gewesen, daß er jetzt die Werte seines eigenen Volkes anzweifelte? Es war noch nicht so lange her, da wäre er als junger Mann stolz darauf gewesen, sein Schwert zu ergreifen, sich in die Schlacht zu stürzen und Wotan, Thunor oder Frig dabei anzurufen! Aber es gab keinen Weg zurück. Er war weiter gegangen, und es war nicht nur die im Ausland verbrachte Zeit, die ihn an diesen Werten zweifeln ließ, sondern der neue Glaube selbst. Der stellte alle die alten Werte und alle die alten Bräuche in Frage.

»Du bist so still, Eadulf. Ist etwas mit dir?«

Auf Fidelmas leise Frage hin wandte er sich ihr zu und rang sich ein Lächeln ab.

»Ich denke nur nach, weiter nichts.«

Der Wagen bewegte sich langsam den Fahrweg entlang. Die Maultiere waren trittsicher und abgehärtet und hatten scheinbar mühelos das schwere Gefährt durch den Fluß gezogen.

»Du sagtest, man hätte berichtet, es gäbe Geächtete in den Wäldern, mein Freund«, sagte Eadulf plötzlich zu Dagobert, dem Fahrer. »Hast du etwas von einem Geächteten namens Aldhere gehört?«

Dagobert nickte, aber es war sein Begleiter Dado, der darauf antwortete.

»Wir haben viele getroffen, die von Aldhere sprachen«, erklärte er. »Dem Allmächtigen sei Dank, daß wir ihm nicht begegnet sind, denn sonst würden wir wohl noch ärmer zurückkehren, als wir es jetzt schon sind - das heißt, wenn wir überhaupt nach Hause kämen.«

»Also ein wilder Geächteter?« forschte Eadulf.

»Das nicht«, schaltete sich Dagobert ein, ehe sein Begleiter antworten konnte. »Mein Freund Dado vergißt dir zu erzählen, daß viel über ihn gesprochen wurde, aber wenig Schlechtes.«

»Wenig Schlechtes?« wiederholte Eadulf. »Das ist ungewöhnlich, nicht wahr? Meist werden die Geächteten doch von den Einheimischen verflucht.«

»Dieser Mann nicht«, sagte Dagobert.

»Die meisten Leute glauben anscheinend, daß er zu Unrecht geächtet wurde«, erklärte Dado. »Man erzählt sich, er sei ein tapferer Krieger, der fälschlich der Feigheit beschuldigt wurde und ins nahe Moorland ging, um sein Leben zu retten.«

»Wurde auch irgend etwas von einem Bruder dieses Geächteten gesagt?« fragte Eadulf harmlos.

»Ein Bruder?« Dado blickte seinen Gefährten an und zuckte die Achseln.

»Ein Bruder wurde nie erwähnt. Weißt du mehr von der Geschichte, mein Freund?« erkundigte sich Dagobert.

Eadulf schüttelte den Kopf. »Ich habe dieselbe Geschichte gehört, wie du sie erzählt hast, aber ich dachte, es wäre auch die Rede von einem Bruder gewesen, der dafür sorgte, daß Aldhere beim König in Ungnade fiel.«

Dado schnaufte. »Davon haben wir nichts vernommen. Uns ging es allerdings hauptsächlich darum, daß wir diesem Geächteten und seiner Bande nicht in die Hände fielen. Man hört so allerlei Geschichten, wenn man unterwegs ist. Das ist einer der Reize des Reisens. Jeder Reisende weiß etwas Interessantes zu berichten.« Dado sah sie plötzlich mit einem schlauen Lächeln an. »Nehmt doch nur euch selbst. Ein sächsischer Mönch und eine Frau aus dem Land Eireann wandern zu Fuß durch diese wilde Gegend. Ihr habt doch sicher auch eine Geschichte zu erzählen, wie?«

Eadulf schüttelte sofort den Kopf, aber Fidelma lachte leise und ging auf das Spiel ein.

»Es gibt wirklich eine Geschichte, Dado aus dem Frankenland«, sagte sie. »Aber wir müßten schon sehr lange fahren, um sie ganz erzählen zu können.«

Der Mann machte ein enttäuschtes Gesicht.

»Aber du kannst doch wenigstens andeuten, um was es dabei geht?«

Fidelma sprach leise in vertraulichem Ton.

»Es ist die Geschichte von der Schwester des Königs und ihrem Geliebten, die fortgehen, um ihr Glück in einem fremden und furchterregenden Land zu suchen ...«

Der Mann machte große Augen, und sein Mund stand etwas offen.

»Weiter, weiter«, flüsterte er. »Das hört sich nach einer guten Geschichte an, die man prächtig weitererzählen kann.«

»Allerdings, denn sie werden in diesem seltsamen Land von Menschen und von Geistern verfolgt, und auf ihrem Weg sind sie ständig bedroht von .«

»Eine tolle Geschichte«, frohlockte Dado, der offensichtlich nicht nur schwatzhaft, sondern auch romantisch veranlagt war. »Sprich weiter .«

»Nun ...«

»Nun«, unterbrach Eadulf mißbilligend, »müssen wir den Rest deiner Phantasie überlassen, denn hier müssen wir absteigen. Gottes Segen für eure Hilfe, meine Freunde, und unseren Dank dafür, daß ihr uns ein Stück unseres Weges auf eurem Wagen mitgenommen habt. Wir hätten Stunden gebraucht, diesen Ort zu Fuß zu erreichen, bei den tückischen Schneeverhältnissen.«

Dagobert hielt den Wagen an und schaute sich überrascht um.

»Aber hier ist nichts als dichter Wald auf allen Seiten, Bruder. Bist du sicher, daß ihr hier abgesetzt werden wollt? Ihr habt nur noch eine Stunde Tageslicht, und wir wollen bald unser Lager für die Nacht aufschlagen.«

»Ja, bleibt bei uns und erzählt die Geschichte weiter«, drängte sie Dado.

Eadulf schüttelte entschlossen den Kopf. »Unser Ziel ist nicht weit von hier, und wir müssen es erreichen, ehe es dunkel wird.«

Dado schaute enttäuscht drein. »Wenn ihr sicher seid ...?«

Eadulf war bereits vom Wagen herunter und hatte ihre Taschen mitgenommen, jetzt drehte er sich um und half Fidelma beim Absteigen.

Nachdem sie ihren fränkischen Fuhrleuten nochmals gedankt hatten, standen sie auf dem Fahrweg und sahen dem Wagen nach, der durch die wintergrünen Bäumen dahinschwankte und verschwand.

Fidelma sah sich in dem dämmerigen Wald um und erschauerte leicht.

»Ich hoffe, du hattest recht, Eadulf, als du sagtest, wir hätten nicht mehr weit zu gehen. Bist du sicher, daß du an der richtigen Stelle bist?« fragte sie. »Es war nicht nur eine Ausrede, um unsere neugierigen Freunde zu verlassen? Ich hätte eine lange Geschichte erfunden, um sie bei Laune zu halten.«

Eadulf sah gekränkt aus. »Ich habe keine Zweifel, daß du ihnen eine Geschichte erzählt hättest. Aber hier ist der Wald von Tunstall, und hier soll sich laut Aldhere eine Gemeinschaft von Mönchen und Nonnen aus den fünf Königreichen von Eireann aufhalten, die sich nach dem Edikt von Whitby verbergen. Wenn jemand weiß, wo Garb und seine Familie zu finden sind, dann können wir es hier erfahren.«

»Hoffen wir das Beste, denn wie unser Freund Dado sagte, es wird bald dunkel, und die Dunkelheit führt bei mir zur Schwäche. Wahrscheinlich hätte ich mich doch noch einen ganzen Tag ausruhen sollen, um mich vollständig zu erholen.«

Eadulf war sich dieser Tatsache schmerzhaft bewußt und versuchte sein Bestes, sich seine Sorge um Fidelma nicht anmerken zu lassen, denn er wußte, daß sie das nicht billigte.

»Wenn ich mich an diesen Ort richtig erinnere, dann ist es weniger als eine Meile weit in dieser Richtung«, meinte er und zeigte den Weg entlang.

Der Wald war hier so dicht, daß wenig Schnee auf die Wege gefallen war, die ihn kreuz und quer durchzogen. Teils aus Erinnerung und teils aus Instinkt verfolgte Eadulf den Weg und kreuzte alle Pfade, die sie hätten von der südöstlichen Richtung abbringen können, an die er sich hielt.

Ab und zu blieben sie stehen, denn Fidelma setzte die nächtliche Kälte immer mehr zu. Das Vorwärts -kommen im Wald war nicht leicht. Sie hörten Tiere um sie herumstreifen und gelegentlich das kurze, schnelle Bellen von Füchsen. Der Weg führte zu einem Bach und an seinem Ufer entlang um einen großen Hügel herum, auf dem die überwachsenen Erdwerke einer alten Befestigung standen. Bäume und Unterholz darauf verhüllten sie fast gänzlich.

Plötzlich kamen sie an den Rand einer Lichtung. Darauf erhoben sich mehrere Gebäude aus Holz, und aus einigen von ihnen stieg Rauch auf.

Eadulf wandte sich triumphierend zu Fidelma um, wenn man auch bei genauer Betrachtung festgestellt hätte, daß die Erleichterung in seinen Augen überwog.

»Tunstall. Das ist Tunstall. Wir sind in Sicherheit.«

Fidelma, der die eisige Luft der Abenddämmerung fast den Atem nahm, konnte nur nicken.

Ein Warnruf erscholl von der Lichtung her. Man hatte sie bemerkt. Mehrere Männer kamen aus den Gebäuden hervor, die meisten trugen Mönchskutten und die Tonsur des heiligen Johannes.

Als Eadulf und Fidelma auf das vermutlich größte Gebäude auf der Lichtung zuschritten, fiel Eadulf eine kleine Gruppe von Kriegern auf. Es waren offensichtlich keine Angelsachsen, und Eadulf stellte mit Befriedigung fest, daß er recht gehabt hatte. Er zweifelte nicht daran, daß dies Garbs Männer waren. Sein Herz schlug schneller in der Erwartung, daß nun das Geheimnis um den Tod seines Freundes Botulf bald aufgedeckt werden würde.

Er blieb stehen, denn einer der Krieger stieß einen Ruf aus und lief mit erhobenem Schwert auf ihn zu.

Auch ein Mönch rannte los, als wolle er den Krieger abfangen, der eine Schwertlänge vor Eadulf stehenblieb. Zu seiner Überraschung sah Eadulf, daß sein Gegenüber Garb selbst war.

»Tritt zurück, Bruder«, rief Garb auf irisch dem Mönch zu, der neben ihm stand und verblüfft dreinschaute. »Dieser Mann ist einer aus Cilds übler Brut. Ich erkenne ihn wieder. Er war in Cilds Abtei, als ich das Ultimatum verkündete. Das bedeutet, daß dieser mörderische Abt unsere Spur verfolgt hat. Tritt zurück, damit ich ihn töten kann, und dann müssen wir diesen Ort verlassen.«

Загрузка...