Kapitel 13

Seit mehr als einer Stunde schneite es schon, und es war sehr frostig und feucht. Trotz ihrer beiden Mäntel spürte Fidelma die Kälte, und Brust und Hals taten ihr wieder weh. Der Schnee fegte in harten Eiskörnchen schräg herab, dicht und schwer, so daß sie Eadulf und sein Pony kaum erkennen konnte, obwohl sie nur wenige Meter vor ihr waren.

Vor einer halben Stunde hatten sie einen Fluß überquert, den Alde, wie Eadulf ihr erklärt hatte. Flußaufwärts lag Aldreds Abtei, bei der eine Brücke über den Fluß führte, doch hier gab es nur eine Furt, die zwar tief war, durch die sie aber im Sattel das Nordufer erreichen konnten, ohne mehr als die Füße naß zu machen.

Fidelma hustete keuchend und erschauerte.

»Eadulf?« rief sie unsicher in die Schneewolke hinaus, die sie trennte.

Plötzlich tauchte seine Gestalt aus dem Schnee auf, denn er hatte sein Pony angehalten und wartete, bis sie heran war.

»Wie geht es dir?« fragte er besorgt.

»Ich glaube, ich brauche eine Ruhepause. Gibt es irgendwo einen geschützten Platz an diesem Weg?«

Eadulf schüttelte den Kopf.

»Es dauert noch eine Weile, bis wir Aldheres Lager erreichen«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob ich es finde, solange dieser Schneefall noch anhält. Wir suchen uns einen Schutz, wo wir warten können, bis er aufhört.«

Sie hustete erneut, und die Sorgenfalten auf Eadulfs Stirn vertieften sich. Er mußte vor sich, wenn auch nicht vor Fidelma, zugeben, daß er keine Ahnung hatte, wo sie sich ausruhen konnten.

»Mach dir keine Sorgen. Ich finde schon einen Platz«, versicherte er ihr. Er trieb sein Pony an, und willig folgte sie. Ihre Krankheit entkräftete sie, das wußte sie. Wahrscheinlich war es töricht von ihr gewesen, auf dem Aufbruch von Tunstall zu bestehen, bevor sie ganz genesen war. Aber sie wußte auch, daß das Leben anderer davon abhing. Sie konnte sich nicht ändern. Ungelöste Geheimnisse wirkten auf sie wie ein schrecklicher Zaubertrank. Sie konnte sich nicht davon befreien, solange es noch Fragen gab, die Antworten verlangten.

Eadulf stieß plötzlich einen Ruf aus.

»Was ist?« fragte sie erschrocken.

»Alles in Ordnung«, antwortete er, und seiner Stimme merkte sie die Erleichterung an. »Ich weiß jetzt genau, wo wir sind.«

»Ich dachte, das wußtest du schon vorher?« meinte sie mit kaum verhohlenem Spott.

»Ich glaube, ja. Wir sind bei Frig’s Tun.«

»Was ist das?«

»Erinnerst du dich noch an unseren verrückten Bauern? Der uns am ersten Abend zur Abtei brachte? Das hier ist sein Hof.«

»Wegen dieser Fahrt bin ich . «, setzte sie an, wandte sich dann schnaufend ab und murmelte etwas, was Eadulf nicht hörte. Er gab vor, ihren Ärger nicht zu bemerken.

»Er hieß Mul«, fuhr er fort. »Sein Hof ist nicht weit von hier. Dort finden wir Wärme, Essen und Unterkunft. Es hat keinen Zweck, in diesem Schneesturm noch weiter zu suchen.«

Fidelma schwieg. Eadulf hatte natürlich völlig recht. Wenn sie versuchten, in diesem Wetter noch weiter zu kommen, könnte das zu einer neuerlichen Erkrankung, vielleicht sogar zu einer tödlichen führen. Es bedeutete allerdings auch, daß ein weiterer Tag verging. Dann blieben nur noch wenige Tage bis zum Beginn von Gadras troscud. Sie wußte, daß es leichter war, etwas zu verhindern, als es anzuhalten, wenn es in Gang gekommen war.

»Bleib dicht hinter mir!« rief Eadulf, drehte sich noch einmal um und verschwand beinahe in dem in dichten Massen fallenden Schnee.

Fidelma kniff die Augen vor dem eisigen Graupel zusammen und bemühte sich, mit Eadulf Schritt zu halten. Sie nahm die Umgebung nicht mehr wahr, die völlig in weiße Dämmerung gehüllt war. Kurze Zeit später merkte sie, daß Eadulf gehalten hatte und vom Pferd geglitten war. Er stand da und schaute zu ihr empor.

»Wir sind da«, sagte er.

Sie blickte auf und versuchte etwas durch das eiskalte Schneetreiben zu erkennen.

Die verschwommenen Umrisse eines Gebäudes tauchten vor ihr auf. Sie hörte einen Hund bellen.

Eadulf hielt ihr Pony, während sie abstieg, band die Zügel an einen Pfosten und ging zur Tür. Bevor er anklopfen konnte, flog sie auf, und eine stämmige Gestalt stand im Rahmen. Mit einer Hand hielt sie den Hund fest, der bellte und knurrte und sich losreißen wollte. Dahinter erblickte man den schwachen Schein eines einladenden Kaminfeuers.

»Wer seid ihr und was sucht ihr hier?« ertönte eine wohlbekannte rauhe Stimme.

»Friede deinem Hause, Mul«, erwiderte Eadulf. »Kennst du uns noch? Die Reisenden, die du zu Al-dreds Abtei mitgenommen hast.«

Mul trat näher und musterte ihn und dann Fidelma.

»Ich kenne dich wohl, gerefa, habe allerdings nicht erwartet, dich wiederzusehen, nachdem du durchs Tor dieses verfluchten Orts gegangen bist!« Er wandte sich seinem Hund zu und schlug ihm kräftig auf die Nase. »Ruhig, Bragi, ruhig! Geh an deinen Platz!«

Der Hund knurrte leise, aber Mul gab ihm noch einen Klaps auf die Nase, und darauf senkte er den Kopf und ging hinein.

Mul wandte sich ihnen zu.

»Was sucht ihr nun hier?« fragte er erneut.

»Schutz vor dem Wetter«, erwiderte Eadulf.

»Wie ich sehe, seid ihr zu Ponys gekommen, seit wir uns zuletzt begegnet sind. Bring sie in die Scheune. Dort drin findest du Futter und Wasser.« Er zeigte auf ein nahes Gebäude, und während Eadulf seine Anweisung befolgte, wandte sich Mul an Fidelma. »Tritt ein und wärme dich am Feuer. Diese Schneestürme sind die schlimmsten, die ich je erlebt habe.«

Fidelma ging mit dem Bauern hinein, und Mul schloß die Tür hinter ihr. Der Hund schaute auf, knurrte leise, machte aber keine Bewegung.

»Bragi tut dir nichts, weil er sieht, daß du kein Feind bist.«

Fidelma lächelte leise, nahm ihre Mäntel ab, setzte sich ans Feuer und genoß die Wärme.

Über den züngelnden Flammen hing ein großer Metallkessel mit einer Suppe, deren aromatischer Duft das kleine steinerne Bauernhaus erfüllte. Mul ging hin, nahm einen Löffel, rührte um und prüfte den Inhalt.

»Schweinefleischsuppe«, erläuterte er. »Ist bald fertig.«

Mul war ganz so, wie sie ihn in Erinnerung hatte, mit mächtigen Schultern, muskulösem Körper, grobem rotem Gesicht und dicker Stupsnase. Kurzum, er war häßlich, doch trotz der dicht beieinander stehenden Augen, der Nase und der lückenhaften gelben Zähne strahlte er so etwas wie Gemütlichkeit aus.

Sie blickte sich in dem Raum um. Es war der übliche Wohnraum mit der Kochstelle in der Mitte. Er war grau und verräuchert vom Feuer, doch die Wärme war sehr willkommen, wenn auch der Rauch ihre wunde Kehle reizte. Der zweite Raum verriet einen Reichtum, den nicht alle Bauern besaßen. Dieser Raum reichte nicht bis zum Dach, sondern hatte eine Balkendecke, die einen dritten Raum abtrennte, der an einer Seite zum Wohnraum hin offen und über eine Leiter zu erreichen war.

Offensichtlich benutzte Mul weder diesen Dachraum noch den zweiten Raum, denn auf der anderen Seite des Herdes stand ein hölzernes Bettgestell, das ihm anscheinend als Schlafstelle diente. Die meisten Leute schliefen in den Wintermonaten neben dem Herd, weil es dort am wärmsten war. Der Raum war dunkel, er wurde nur vom Feuer erhellt. Mul schien ihre Gedanken zu erraten, denn er beugte sich über das Feuer und steckte eine Kerze an. Dann ging er zu einer Lampe und zündete den Docht an.

»Einen Schluck Apfelwein, um den Geist zu erwärmen?« fragte er und stellte die Lampe auf den Tisch.

Sie nickte schweigend und rieb ihre Arme, um das Blut wieder in Bewegung zu bringen.

Mul ging zu einem hölzernen Schrank und nahm ein paar Tonbecher heraus, die er aus einem Krug füllte.

»Der Gott der Christen konnte nur Wasser schaffen«, sagte er lächelnd und reichte ihr einen Becher, »aber Ägir, der Gott der Sachsen, schuf den Apfel-wein und versorgte die Asen mit dem heiligen Getränk zur Tagundnachtgleiche im Herbst.«

Fidelma runzelte die Stirn. Sie hatte vergessen, daß Mul Heide war. Kein Wunder, daß sie keins der Symbole sah, mit denen ein Christ sein Haus zur Feier dieses Tages schmückte. Sie mußte sich immer wieder sagen, daß heute der Geburtstag Christi war.

»Du glaubst also noch an die alten Götter, Mul?«

Mul grinste breit. »Wenn ich’s nötig habe, Frau.«

Sie schwieg einen Moment und nahm einen Schluck von dem Apfelwein. Er war süß und stark und tat ihrer Kehle gut.

»Du hast hier ein großes Haus, Mul.« Sie beschloß, seine angedeutete Einladung zu einem Streitgespräch über Religion zu übergehen. Sie bemerkte, daß ein Schatten über sein Gesicht lief.

»Ja«, sagte er kurz.

»Du hast nicht geheiratet?«

Mul trat von einem Fuß auf den anderen.

»Ich war verheiratet ... Früher mal.«

»Was ist passiert?«

»Du stellst viele Fragen für eine Frau«, knurrte er.

»Ich bin von Natur aus neugierig«, erwiderte Fidelma trocken. Dann fiel ihr plötzlich etwas ein. »Ach, jetzt weiß ich. In eurer Kultur haltet ihr es nicht für schicklich, daß Frauen sich den Männern gleich achten und Fragen stellen.«

Mul machte ein etwas finsteres Gesicht und wußte anscheinend nicht so recht, wie er sich zu ihrer selbstsicheren Art verhalten sollte.

»Ich bin schon mehr Nonnen aus deinem Volk begegnet. Ich finde es merkwürdig, daß eure Männer euch soviel Freiheit lassen.«

Plötzlich öffnete sich die Tür. Der Hund fuhr auf, und nur ein scharfer Befehl Muls hielt ihn vom Sprung ab. Eadulf brachte einen Schneeschauer mit herein, bevor er die Tür hinter sich zuziehen konnte.

»Sitz, Bragi! Sitz!« kommandierte Mul. Dann sagte er grimmig zu Eadulf: »Sei lieber vorsichtig, gerefa. Ich halte den Hund nicht als Kuscheltier. Bragi ist ein Wachhund.«

Eadulf antwortete mit einem unverbindlichen Grunzen, legte den Mantel ab und setzte sich.

»Das Wetter scheint noch schlechter zu werden«, sagte er und nahm einen Becher Apfelwein von Mul entgegen.

Der Bauer saß am Feuer, und der Hund legte ihm den Kopf auf einen Fuß.

»Du hast recht, gerefa. In diesem Winter hat es mehr Schneestürme gegeben, als ich zählen kann. Hier in der Gegend sind viele Tiere umgekommen. Wir armen Bauern haben wie immer darunter zu leiden, und wenn die Männer des Königs kommen und seine Steuern eintreiben, dann ist es Frühling, und die Schäden des Winters sind vergessen. Wir müssen zahlen, oder man nimmt uns was weg. Aber so ist das nun mal. Daran wird sich auch nichts ändern. Die Männer des Königs fallen über uns her wie Diebe und nehmen uns fast alles, lassen uns nur so viel, daß wir überleben, bis sie uns das nächste Mal scheren.«

Fidelma lächelte teilnahmsvoll.

»Ein Gelehrter namens Suetonius schrieb einmal, es sei die Aufgabe eines guten Hirten, seine Herde zu scheren, aber ihr nicht das Fell abzuziehen.«

Mul schaute sie mit plötzlicher Anerkennung an.

»Deine Frau hat einen guten Verstand«, gestand er Eadulf, »aber sie kennt die Steuereinnehmer des Königs nicht. Die würden einem wirklich das Fell abziehen, wenn sie etwas damit anfangen könnten.«

»Einen solchen Winter wie diesen würde man doch wohl berücksichtigen?« wandte Eadulf ein.

»Wir haben schon schlechte Winter gehabt, aber dieser ist der schlimmste, solange ich denken kann. Du stammst aus dieser Gegend, gerefa. Du kannst es bezeugen.«

»Du hast recht, ich kann mich auch an keinen Winter erinnern, der so kalt und so übel gewesen wäre, und wir sind dir dankbar, daß du uns bei diesem unwirtlichen Wetter Gastfreundschaft gewährst«, antwortete Eadulf.

Mul legte den Kopf zurück und brüllte vor Lachen.

Eadulf wechselte einen Blick mit Fidelma und runzelte die Stirn. »Was erheitert dich so?«

»Daß du annimmst, ich gewähre euch Gastfreundschaft.« Er hatte das Wort »gewähre« betont.

»Das verstehe ich nicht«, erwiderte Eadulf.

»Ich gewähre euch Unterkunft und Essen, aber gegen Bezahlung.«

Eadulf zog eine ärgerliche Miene.

»Ich erinnere mich, daß du Lohn für die Fahrt zur Abtei verlangtest. Ich hätte mir denken können, daß du nicht ganz umsonst Leute aus dem Schneesturm hereinholst und bei dir übernachten läßt.«

Mul grinste. »Als Bauer habe ich gelernt, daß Geld wie Dung ist. Es nutzt nichts, wenn es nicht verteilt wird, gerefa. Ich weiß, daß du etwas zu verteilen hast, und das hilft mir, den Verlust wettzumachen, den ich in diesem Winter erleiden werde.«

»Das entspricht aber nicht der christlichen Vorstellung von Nächstenliebe ...«, protestierte Eadulf.

»Die Frau wird dich daran erinnern«, entgegnete Mul, »daß ich kein Christ bin.«

»Eadulf«, unterbrach ihn Fidelma sanft, »der Mann hat nicht unrecht. Ein quid pro quo - Leistung und Gegenleistung.«

Mul nickte ihr zu.

»Eine kluge Lebensregel, Frau. Beides ist wichtig, ein guter Verstand und die Fähigkeit, ihn zu gebrauchen. Ich bin sicher, ihr gönnt mir einen Penny für die Übernachtung, denn der Schneesturm hat jetzt voll eingesetzt. Vor morgen früh könnt ihr nicht weiter.«

Eadulf äußerte sein Mißfallen.

»Ich fürchte, du hast viele Fehler, Mul.«

Mul grinste ihn an.

»Heißt es nicht, daß Geld viele Fehler verdeckt?« konterte er.

»Na schön, Mul«, seufzte Eadulf. »Aber damals hast du deinen Lohn erst bekommen, als du uns bei der Abtei abgeliefert hast, und diesmal erhältst du ihn auch erst, wenn wir abreisen.«

Mul grinste und nahm es nicht übel.

»Einverstanden, gerefa. Ich glaube, jetzt ist auch meine Suppe fertig. Es ist eine einfache Mahlzeit, denn ich hatte nicht mit Gästen gerechnet, aber hinterher gibt es reichlich Brot und Käse. Setzt euch«, schloß er und wies auf den Tisch.

»Können wir etwas helfen?« fragte Fidelma höflich.

Mul zögerte und verzog das Gesicht.

»Nein, danke, Frau. Ich bin zu sehr ans Alleinsein und meine eigene Art gewöhnt.«

Er brachte Teller und Löffel und setzte ihnen schon bald Holzschüsseln mit der dampfenden Schweinefleischsuppe vor, die auch Wurzelgemüse enthielt. Außerdem kamen Brot, Käse und noch mehr Apfelwein auf den Tisch.

Der Hund schien am Feuer zu schlafen, doch als Eadulf sich einmal zu schnell bewegte, waren im Nu seine Augen offen, und er bleckte die Zähne.

Mul fuhr ihn an, und der Hund schloß die Augen wieder.

Fidelma wartete, bis die Überreste der Suppe abgeräumt waren, ehe sie sich dem Thema zuwandte, das sie schon von dem Augenblick an bewegte, als Eadulf ihr erklärt hatte, sie seien am Bauernhof Muls.

»Ich erinnere mich, Mul, daß du an dem Abend, als du uns bei Aldreds Abtei abgesetzt hast, kaum ein gutes Wort für sie gefunden hast. War das eine allgemeine Verurteilung der Christen, oder bezog es sich besonders auf die Bewohner der Abtei?«

Mul maß sie mit dem durchdringenden Blick seiner hellen Augen.

»Du wirst in dieser Gegend wenige Leute finden, die etwas Gutes über den Ort zu sagen haben«, antwortete er.

»Wenn ich mich recht besinne«, bohrte Fidelma weiter, »meintest du, der Teufel wohne an dem Ort.«

»Du hast ein gutes Gedächtnis, Frau«, gab der Bauer zu und goß sich wieder Apfelwein ein. »Ich sagte, der Teufel habe seinen Schatten auf Aldreds Abtei geworfen. Dabei bleibe ich.«

»Wie kommst du darauf?«

»Kennst du den Abt?«

»Abt Cild. Ich habe ihn nicht gesehen, denn ich wurde krank, als wir dort ankamen, aber Eadulf hatte mehrmals mit ihm zu tun.«

Eadulf nickte.

»Ich würde sagen, man könnte ihn als einen Teufel beschreiben, aber nicht als den Teufel«, bestätigte er und nahm sich noch ein Stück Käse.

Mul sah ihn von der Seite an.

»Ihr seid zwar Christen, aber ich dachte mir schon, daß ihr auch nicht viel Gutes über Abt Cild zu sagen hättet.«

Fidelma entnahm seinem Ton eine unterschwellige Bedeutung. Sie schaute ihn fest an und versuchte seinen durchdringenden Blick zu entschlüsseln.

»Warum sollte das so sein, Mul?« fragte sie leise.

Mul lehnte sich lächelnd zurück.

»Dein Gefährte, der gerefa Eadulf, ist ein Mensch, der zuerst reagiert und erst dann nachdenkt«, sagte er. »Das ist mir aufgefallen und Bragi auch.«

Bei Nennung seines Namens hob der Hund den Kopf.

Eadulfs Haltung wurde etwas steif.

»Erklär dich genauer, Mul«, forderte er.

»Ich wollte dich nur warnen, keine zu plötzlichen Bewegungen zu machen.« Mul lächelte immer noch. »Bragi mag das nicht. Er reagiert auch, doch das arme Tier hat keinen Verstand, mit dem er unterscheiden kann, ob die Bewegung in böser Absicht geschieht oder nicht. Ich möchte nicht, daß du körperlich auf das reagierst, was ich sagen will.«

Eadulfs Miene verfinsterte sich.

»Sprich weiter«, drängte ihn Fidelma. »Was willst du uns mitteilen, das uns erschrecken könnte?«

»Ein Reiter aus der Abtei hat die umliegenden Bauernhöfe und Dörfer aufgesucht und verkündet, daß der Abt eine Belohnung von drei Goldstücken auf eure Köpfe ausgesetzt hat. Er fordert jeden, der euch begegnet, auf, euch entweder gefangenzunehmen oder der Abtei euren Aufenthalt mitzuteilen. Drei Goldstücke scheinen mir ein großes Vermögen, vor allem für die armen Bauern dieser Gegend.«

Fidelma blickte Eadulf besorgt an. Er hatte mit den Händen die Tischkante gepackt, seine Kiefer waren zusammengepreßt, aber sonst hatte er sich nicht bewegt.

»Und welchen Grund gibt Abt Cild dafür an, daß er diese Belohnung aussetzt?« fragte Fidelma gelassen.

Mul erwiderte ihren ruhigen Blick.

»Das weißt du wahrscheinlich sehr gut, Frau. Du wirst der Hexerei beschuldigt und der gerefa hier als dein Helfershelfer.«

Eadulf hatte sich immer noch nicht bewegt, doch jetzt sprach er leise: »Wie du schon sagst, Mul, drei Goldstücke sind viel Geld.«

Der Bauer nickte selbstgefällig. »Mehr als ich in diesem Jahr verdienen werde und selbst noch das nächste Jahr dazugerechnet. Ja, das ist wirklich viel Geld. Mehr als ich wohl je auf einmal besitzen werde.«

»Und wir wissen, wie sehr du Geld liebst«, murmelte Eadulf. Seine Blicke schossen hin und her auf der Suche nach einem Mittel, sich zu verteidigen.

Der Hund hatte den Kopf gehoben, und seine Augen waren hellwach. Er hatte die unheimliche Fähigkeit der Hunde, in der kleinsten Veränderung des menschlichen Tonfalls die Stimmung zu erfassen.

Mul saß auf seinem Stuhl zurückgelehnt, ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht, den Becher mit Apfelwein in der Hand.

»Du scheinst sehr beunruhigt, gerefa«, sagte er milde.

»Beunruhigung ist eine vernünftige Reaktion, nachdem du zugegeben hast, daß dein Hauptinteresse dem Geld gilt und du wegen dieses Winters in tiefen finanziellen Schwierigkeiten steckst«, erwiderte Eadulf. »Ich werde dir sagen, weshalb du dieses Gold scheuen solltest ...«

Fidelma legte ihm leicht die Hand auf den Arm.

»Ich glaube nicht, daß Beredsamkeit etwas an Muls Absichten ändern kann. Publilius Syrus schrieb einmal, wenn Gold für eine Sache spricht, ist die Beredsamkeit machtlos.«

Mul kicherte anerkennend.

»Du hast Verstand und Witz, Frau. Der Fehler der Mönche und Nonnen ist, daß sie den Verhungernden Moral predigen. Halte einem Mann eine beredte Vorlesung über Gut und Böse und gib einem anderen Mann einen Penny, dann wirst du sehen, wer dich höher achtet.«

Es trat Schweigen ein, bis Fidelma ruhig fragte: »Was willst du also tun, Mul?«

Der Bauer goß sich wieder Apfelwein ein.

»Tun? Nichts.«

Einen Moment antworteten weder Eadulf noch Fidelma .

»Das verstehe ich nicht«, sagte Fidelma schließlich. »Willst du damit sagen, daß die drei Goldstücke keine Versuchung für dich sind?«

»Ach, eine Versuchung sind sie schon. Aber ich wäre nicht sicher, ob Abt Cild sie wirklich bezahlt, wenn er erreicht hat, was er will. Ich bezeichne ihn als Teufel. Lieber würde ich erfrieren, als mit ihm zu tun haben.«

Eadulf lehnte sich zurück und entspannte sich etwas.

»Treibst du ein Spiel mit uns, Mul?«

»Du, gerefa, hast selbst einen voreiligen Schluß gezogen. Du glaubtest, am Gold läge mir mehr als an meinen eigenen Grundsätzen. Warum sollte ich deine Irrtümer korrigieren?«

»Nun, nachdem du jetzt unsere Irrtümer korrigiert hast«, schaltete sich Fidelma ein, »sollte ich dir vielleicht erklären, wieso die Beschuldigungen des Abts falsch sind.«

Mul zuckte die Achseln. »Das wäre mir so oder so egal. Es gab Böses in der Abtei, bevor ihr dorthin kamt, und zweifellos wird es noch da sein, wenn ihr fort seid.«

»Bewirtschaftest du den Hof hier schon lange, Mul?« fragte Fidelma, worauf Eadulf sie ansah, überrascht von dem anscheinend plötzlichen Wechsel des Themas.

»Mein ganzes Leben lang. Frag deinen Gefährten, den jungen gerefa hier.« Er zeigte heiter auf Eadulf. »Mein Vater und sein Vater zogen einmal gemeinsam in den Krieg.«

»Dann hast du also viele Veränderungen in der Abtei erlebt?« vermutete Fidelma.

»Nicht so viele«, erwiderte Mul. »Ich war noch ein Junge, als die irischen Missionare in unser Land kamen und die Leute zum neuen Glauben bekehrten. Ich sah, wie sich die Abtei auf den Mauern der alten Burg erhob, die dort früher stand.«

»Und du kanntest die Mönche, die dort lebten, bevor Cild kam, Männer wie Botulf?«

Mul blinzelte einen Moment.

»Die meisten Leute in dieser Gegend kannten Bo-tulf.« Er schaute Eadulf an. »Du kanntest ihn besser als die anderen. Ich weiß noch, daß ihr als Jungs zusammen wart, wenn du dich wahrscheinlich auch nicht mehr an mich erinnerst.«

Fidelma beugte sich vor.

»Siehst du, Mul, ich würde gern etwas mehr darüber wissen, was Cild für ein Mensch ist und auch sein Bruder Aldhere. Ich möchte herausbekommen, was das Böse ist, das auf dieser Gegend lastet.«

Muls Miene verriet seinen Widerwillen.

»Von den beiden ist einer so schlimm wie der andere. Der eine ist ein Geächteter, der mordet und raubt außerhalb des Gesetzes. Der andere ist ein Tyrann und mordet und raubt im Namen des Gesetzes. Ein Fluch über alle beide.«

Eadulf wollte den Mund öffnen, doch ein Blick von Fidelma gebot ihm Schweigen.

»Ich meine, du solltest uns deine Geschichte erzählen, Mul, denn ich habe das Gefühl, du hast etwas zu berichten.«

Mul sah sie einen Moment fest an, dann zuckte er die Achseln.

»Du hast einen scharfen Verstand, wie ich schon gesagt habe. Ich erbte diesen Hof von meinem Vater. Als er vor ein paar Jahren starb, war ich verheiratet und hatte zwei prächtige Jungen. Es war ein guter Hof, und es war ein gutes Leben, wenn auch das Klima oft hart war. Dann änderte sich alles.«

»Wodurch änderte es sich?« fragte Fidelma, als er innehielt.

»Wodurch? Cild kam hier an. Vorher hatte ich noch nie von Cild gehört, aber als ich bald danach zum Markt nach Seaxmund’s Ham fuhr, erzählte mir jemand, er sei früher Kriegsherr an der Grenze zu Mercia gewesen. Es hieß, sein Vater habe ihn enterbt, deshalb sei er in ein Land namens Connacht jenseits des Meeres im Westen gegangen. Er kam mit einer Ehefrau zurück, die aus deinem Volk stammte.« Er nickte zu Fidelma hin.

»Du meinst Gelgeis?«

»Das war ihr Name. Cild und Gelgeis kamen zur Abtei, als Cild dort Abt wurde. Kurz darauf erzählte man mir, daß Cilds Bruder, ein Than, in Ungnade gefallen war. Es hieß, König Ealdwulf habe sich geweigert, dem Abt die Titel und Ländereien von Cilds Vater zu übergeben.«

»Sprich weiter.«

»Ein paar Monate blieb alles ruhig, und dann hörte ich, daß Gelgeis im Moor nahe der Abtei umgekommen sei .«

»Hast du erfahren, auf welche Weise?«

»Auf welche Weise?« Mul schien einen Augenblick verwirrt. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Man sagte, Cild würde sich wie ein Besessener gebärden, habe die Mönche vertrieben, die an die ursprünglichen Regeln ihres Ordens glaubten, und sich den neuen Ideen der römischen Regel von Canterbury zugewandt. Er brachte viele um, die sich nicht mit ihm ändern wollten. Er trennte die verheirateten Geistlichen und verkaufte die Frauen in die Sklaverei. Die Abtei wurden allen Frauen verschlossen.«

»Davor hättest du uns warnen können«, schaltete sich Eadulf ein. »An dem Abend, als du uns zur Abtei fuhrst, hättest du uns warnen können.«

»Ihr wart Geistliche, die unbedingt zur Abtei wollten«, erwiderte Mul. »Weshalb sollte ich euch warnen? Ich bin kein Christ und habe kein Verlangen danach, einer zu werden, wenn ihr weiter nichts tut, als euch untereinander zu streiten und zu bekämpfen. Jedenfalls, wollte ich sagen, bewies Cild, daß er immer noch ein Kriegsherr war. Vor ein paar Monaten lockte er eine Schar von jungen Kriegern in die Abtei, die in die Kutten gekleidet wurden, die ihr Christen eingeführt habt, und die ganze Gegend nach Beute absuchen. Sie überfielen meinen Hof, und seitdem weiß ich, daß Böses in der Abtei haust.«

Er schwieg eine Weile, in Erinnerungen verloren.

»Was ist passiert?« fragte Fidelma leise.

Mul nahm den Faden wieder auf und sprach wie eingeübt, als müsse er seine Gefühle bezähmen.

»Ich war weit weg auf dem Markt, als sie kamen. Sie waren auf Beute aus. Meine Frau und die beiden Jungen waren hier. Als meine Frau versuchte, das bißchen, was wir besaßen, zu schützen, wurde sie erschlagen und die beiden Kinder mit ihr. Ich fand ihre Leichen da draußen, als ich zurückkehrte. Sie liegen gleich hinter der Scheune begraben.«

Eadulf hüstelte verlegen. »Woher wußtest du, daß die Männer des Abts sie erschlagen hatten?«

Mul stand auf und ging zu einem Schrank. Er öffnete ihn, nahm etwas heraus. Nach kurzem Zögern legte er es auf den Tisch. Es war ein Stück blutgetränkter Wollstoff und ein kleines metallenes Kruzifix an einer silbernen Kette.

»Das steckte in der geballten Faust meiner Frau. Sie hatte es ihrem Mörder abgerissen«, sagte Mul ruhig. »Da wußte ich, daß es die Mönche aus Aldreds Abtei waren, die mir an jenem Tag einen Besuch abgestattet hatten. Ich werde an Cild Rache nehmen, und wenn ich zehn Jahre oder zehnmal zehn Jahre darauf warten muß. Das habe ich beim Schwert Wotans geschworen.«

»Wann hat sich das alles ereignet?« wollte Eadulf wissen.

»Vor weniger als sechs Monaten. Gerade zu der Zeit waren die Männer in der Abtei erschienen, die jungen Krieger.«

Fidelma hatte das kleine Kruzifix in die Hand genommen, drehte es hin und her und zog die Brauen zusammen.

»Das ist eine irische Arbeit, keine sächsische«, stellte sie leise fest.

Mul zuckte die Achseln. »Viele Christen werden von deinem Volk ausgebildet, Frau. Cild hat sich im Königreich Connacht aufgehalten. Die Herkunft des Kreuzes bestätigt nur, was ich gesagt habe.«

Ohne weitere Bemerkungen reichte sie das Kreuz an Eadulf weiter. Es war ein kleines, reich emailliertes Stück auf Silbergrund. So etwas Kostbares trugen eher Damen des Laienstandes als Nonnen.

»Du sagst, das geschah vor ungefähr sechs Monaten?« erkundigte sich Fidelma.

»Am Fest der Sommersonnenwende«, brummte Mul.

»Sag mal«, fuhr Fidelma fort und schien wieder das Thema zu wechseln, »hast du Gelgeis, die Frau des Abts, einmal gesehen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht, daß ich wüßte. Vielleicht habe ich sie mal aus der Ferne gesehen. Ich hätte sie auch nicht erkannt, wenn sie mir gegenübergestanden hätte. Sie soll hübsch gewesen sein, mit blondem Haar und schönem Gesicht.«

»Hast du mal gehört, welche Art von Frau sie war?«

»Welche Art ...?« Er hielt inne und zog dann eine verächtliche Miene. »Sie war mit Cild verheiratet. Sagt das nicht genug? Man erkennt einen Menschen daran, mit wem er umgeht, und das gilt auch für den Ehepartner.«

»Du urteilst hart, Mul.« Eadulf seufzte. »Manchmal lernt man einen Menschen erst nach der Heirat richtig kennen.«

»Hast du jemals von dem Gerücht gehört, Cild habe seine Frau ermordet?« fragte Fidelma.

Muls Augen weiteten sich leicht, doch dann schüttelte er den Kopf.

»Ich habe nur gehört, daß sie in Hob’s Mire geraten ist. Viele Tiere und mehrere Menschen haben sich schon in dem Stück Moor verirrt und kamen nie wieder. Vielleicht war dieses Schicksal ein Segen für sie.«

»Du sagtest, du kanntest Bruder Botulf?« fragte Fidelma , ohne auf seine Bemerkung einzugehen.

»Ja.«

»Hast du dich mal mit ihm über Cild unterhalten?«

»Nachdem er in Ungnade in die Abtei zurückgeschickt wurde, habe ich ihn kaum noch gesehen. Er durfte sich nicht weit von dort entfernen.«

»Weshalb war er in Ungnade?« fragte Eadulf.

»Er unterstützte Aldhere gegen den König.«

»Warum tat er das?«

»Das weiß ich nicht. Aldhere entstammt derselben giftigen Wurzel wie sein Bruder. Ich hörte, er habe in einer Schlacht gegen die eindringenden Mercier den Vetter des Königs geopfert. Durch seine Feigheit starb der Vetter König Ealdwulfs. Botulf verteidigte Aldhe-re, und dafür befahl ihm der König, in Aldreds Abtei zurückzukehren, wo er in früheren Jahren Mönch gewesen war, dort zu bleiben und sie bei Todesstrafe nicht zu verlassen.«

»Du deutest an, daß du Aldhere für schuldig hältst. Heißt das, du glaubst, daß Botulf ein Lügner war?« fragte Eadulf mürrisch.

»Ich weiß nicht, aus welchem Grunde er Aldhere verteidigte. Soweit ich weiß, war Botulf ein guter Mensch. Vielleicht war er einfach irregeleitet. Aber ich hatte nie die Gelegenheit, mit ihm darüber zu sprechen.«

»Woher weißt du dann, daß Aldhere schuldig ist?« fragte Eadulf.

»Aus Taten, nicht aus Worten!« antwortete Mul barsch.

»Erkläre uns das«, bat Fidelma.

»Ganz einfach. Frag jeden hier herum. Aldhere und seine Leute sind eine Räuberbande. Sie stehlen von allen. Sie haben auch viele unschuldige Menschen eingeschüchtert und ihre Häuser niedergebrannt. Sind das die Taten eines guten Mannes, der dessen nicht schuldig ist, was man ihm vorwirft?«

Fidelma lehnte sich zurück und seufzte.

»Nun, es könnten auch die Taten eines Mannes sein, der um sein Überleben kämpft. Aber das Niederbrennen von Häusern unschuldiger Menschen paßt sicherlich nicht zu dem Charakter eines Mannes mit Grundsätzen.«

»Ich sage, ein Fluch über sie beide«, knurrte Mul. »Bruder Mönch oder Bruder Krieger, weißer Hund oder schwarzer Hund, Hunde sind sie beide.«

»Da magst du wohl recht haben. Es hilft uns nur nicht, der Wahrheit näher zu kommen«, sagte Eadulf verbittert.

Mul wandte sich ihm interessiert zu.

»Welche Wahrheit suchst du denn, gerefa?«

»Die Wahrheit darüber, wer meinen Freund Botulf umgebracht hat.«

Mul lehnte sich überrascht zurück.

»Du hast mir nicht gesagt, daß Botulf tot ist!«

Natürlich, fiel es Eadulf ein, Botulf war ja erst an dem Tage getötet worden, an dem Mul sie bei der Abtei absetzte.

»Das tut mir leid. Er wurde in der Abtei erschlagen.«

»Ich nehme an, dafür ist der Abt verantwortlich«, murmelte Mul bitter. »Ich hatte den Eindruck, man steckte ein Kaninchen in einen Stall voller Frettchen ... Ich meine, als Botulf in Cilds Abtei gesteckt wurde, nachdem er Cilds Bruder verteidigt hatte. Das hatte ihm Cild offensichtlich übelgenommen.«

»Was du sagst, hat eine gewisse Logik«, meinte Fidelma . »Weißt du etwas von irischen Mönchen in dieser Gegend?«

Mul schüttelte den Kopf.

»Ich weiß, daß sich ein paar hier verbergen. Sie weigern sich, die Entscheidungen von Whitby anzuerkennen und Canterbury zu gehorchen. Regeln! Christliche Regeln!« Er machte eine Geste, als wolle er ausspucken. »Wen schert das? In diesem Land werden wir die Tagundnachtgleiche im Frühjahr auch weiter nach der Göttin Eostre benennen, mögen andere sie auch als Pascha, die Auferstehung des neuen Gottes Christus, oder gar als Pasach feiern, das jüdische Passafest ... Es ist und bleibt die FrühjahrsTagundnachtgleiche.«

Er merkte, daß ihn Fidelma erstaunt ansah, und lächelte entwaffnend.

»Weil ich nur ein Bauer bin, mußt du nicht denken, daß ich keine Ahnung habe. Ich war in den Hafenorten und habe mit phönizischen Kaufleuten gesprochen. Ich weiß alles über Pasach und dergleichen. Jeder Bauern kennt die Jahreszeiten und ihre Namen -Jahreszeiten bleiben Jahreszeiten, du kannst sie nennen, wie du willst.«

»Kennst du eine junge Frau aus Eireann mit rot-goldnem Haar, die in der Nähe der Abtei wohnt?« unterbrach ihn Eadulf.

Mul schüttelte erst den Kopf, dann lächelte er plötzlich.

»Meinst du Lioba? Die stammt nicht aus Eireann.«

Eadulf versuchte sich zu erinnern, ob er den Namen schon mal gehört hatte. Er glaubte es, war sich aber nicht sicher.

»Das ist ein angelsächsischer Name«, erklärte Fidelma mit einem Blick auf Eadulf.

»Stimmt«, meinte Mul. »Ihr Vater war ein Bauer in den Bergen jenseits der Abtei. Er ist schon tot. Er starb an der Gelben Pest. Vor ungefähr einem Jahr starb auch ihre Mutter, eine Sklavin aus einem Königreich namens Laigin. Die meinst du sicher, die Lioba.«

Laigin war eins der fünf Königreiche von Eireann, das wußten sie sehr gut.

Plötzlich brach Mul in ein geiles Kichern aus.

Eadulf runzelte leicht die Stirn. »Was belustigt dich so, Mul?«

»Daß bei all der Frömmigkeit in der Abtei Lioba dort ihr Vergnügen sucht.«

»Ich habe gehört, daß diese Lioba eine gewisse Ähnlichkeit mit Gelgeis hat«, sondierte Eadulf, dem plötzlich ein Gedanke gekommen war.

Mul rieb sich das Kinn. »Das weiß ich nicht. Lioba muß jünger sein als die Frau des Abts.«

»Kommen wir noch mal zu den irischen Mönchen im Versteck zurück. Was weißt du von ihnen?« fragte Fidelma.

»Sehr wenig. Als Christen sind sie mir gleichgültig. Es heißt wohl, daß sie in der Gegend von Tunstall leben. Sie stören mich nicht, und ich störe sie nicht.«

Er langte wieder nach dem Apfelwein, zog aber ein saures Gesicht, bevor er trank.

»Mit euch Christen will ich möglichst wenig zu tun haben, wenn ich auch eins zugeben will: Alle Götter sind gleich, wenn man ihre Hilfe sucht. Sie sind sich alle darin einig, daß sie deine Bitten und Hilfeschreie überhören. Das weiß ich. Auf dem Hügel über dem Hof gibt es drei Gräber, die das bezeugen.«

»Christus war nicht verantwortlich für den Mord an deiner Frau und deinen Kindern«, ermahnte ihn Eadulf.

»Nein? Wenn dieser Christus ein allmächtiger Gott wäre, dann hätte er etwas tun können. Lehrt ihr nicht, daß er allmächtig ist, alle liebt und alles bestimmt, was geschieht? Nein, gerefa, alle Götter sind gleich. Sie schweigen zu unserem Leid.«

Fidelma sah Eadulf an und schüttelte rasch den Kopf. Es wäre nicht klug, diese Debatte weiterzuführen.

»Hast du etwas gehört von Streitigkeiten zwischen der Abtei und denen, die der Regel von Colmcille anhängen - dem Heiligen, den ihr Columban nennt?« fragte sie.

»Streitigkeiten? Cild ließ zwei von ihnen hinrichten, das weiß ich. Die anderen ließ er vertreiben, hinaus ins Moorland. Vielleicht sind sie in euer Land zurückgekehrt? Oder sind sie das, die sich in Tunstall verbergen? Es gibt hier so viele Todesfälle, Schwester, daß ich mich wundere, weshalb ihr euch die Mühe macht, die Ursachen von einem oder zwei davon zu ergründen. Die Lösung für alle liegt bei zwei Leuten: Cild und Aldhere.«

»Anscheinend gilt hier überhaupt kein Gesetz mehr«, brummte Eadulf. »Ich kann es kaum glauben. Ich wuchs auf im Bewußtsein, daß niemand es wagen würde, dem Gesetz der Wuffingas und einem gerefa nicht zu gehorchen. Jetzt scheint in diesem Land Anarchie zu herrschen.«

Mul grinste spöttisch.

»Nicht Anarchie herrscht, gerefa, es herrschen Männer mit Schwertern, die keine Hemmungen haben, sie zu gebrauchen. Und solche Leute sind natürlich niemandem treu als sich selbst.«

Fidelma hielt fragend den Kopf schief.

»Wieder scheinst du mehr anzudeuten, Mul, als deine Worte aussagen.«

Der Bauer nickte langsam.

»Redet mit den Leuten auf jedem Markt, und ihr werdet hören, was die zu sagen haben.«

»Wir sind auf keinem Markt, deshalb würde ich gern wissen, was du zu sagen hast. Was hast du gehört?«

»Ich habe gehört, daß Aldhere gern einen neuen König in diesem Land sehen würde. Und ich habe gehört, daß sein Bruder Cild ebenfalls gern einen neuen König in diesem Land sehen würde. Es heißt aber, daß die Brüder dabei an unterschiedliche Könige denken.«

»Kannst du das näher erklären?« drängte ihn Fidelma .

»Dieses Land wird von zwei Seiten mit begehrlichen Blicken betrachtet, im Westen von Wulfhere von Mercia und im Süden von Sigehere von den OstSachsen. Jeder von beiden wäre töricht, wenn er sich nicht den Streit zunutze machte, der in dieser kleinen Ecke des Königreichs tobt.«

»Willst du damit sagen, daß du mit Bestimmtheit weißt, Cild oder Aldhere wäre mit Wulfhere oder Si-gehere verbündet?« Eadulf war entsetzt.

»Mit Bestimmtheit? Natürlich nicht. Ich berichte euch, was ich auf den Märkten gehört habe.«

»Müßiges Geschwätz. Spekulationen ohne Tatsachen!« vermutete Eadulf. Fidelma merkte ihm aber an, daß er dabei unsicherer wurde und seinen Gedanken nachhing.

»Wenn das Land des Südvolks fiele, würde das Land des Nordvolks sehr bald folgen«, entgegnete Mul unbeeindruckt.

»Da könntest du recht haben«, gestand Fidelma. »Anscheinend gibt es nirgendwo auf der Welt Frieden zwischen den Völkern. Zwischen den fünf Königreichen meiner eigenen Insel werden Intrigen gesponnen und Verschwörungen angezettelt. Bei unserem Besuch bei den Briten stellten wir fest, daß ihre Königreiche uneins waren und sich bekämpften. Warum sollte es da im Lande der Angeln und Sachsen anders sein? Doch deswegen sind wir nicht hier.«

Mul schnaufte und langte nach dem Weinkrug. Als er ihn leer fand, stand er auf, ging zum Schrank und holte einen neuen.

»Nein«, sagte er, »ihr seid hier, um herauszufinden, wie Cild deinen Freund Botulf umbrachte.«

»Wir sind hier, um zuerst einmal herauszufinden, ob Cild Botulf ermordet hat«, verbesserte ihn Eadulf.

»Wenn er es tat, wird sich das >wie< schon herausstellen.«

»Und außerdem, ob er seine Ehefrau Gelgeis getötet hat«, ergänzte Fidelma. »Wir sind hier, um eine noch größere Tragödie zu verhüten und ein solches Blutvergießen, wie es dieses Land noch nie gesehen hat.«

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