Als Eadulf vom Abt kam, begegnete ihm der flachs -blonde Bruder Higbald, der Apotheker der Abtei. Higbald begrüßte ihn besorgt, aber freundlich mit derselben fröhlichen und humorvollen Miene wie am Vormittag. Dieser Humor schien seine natürliche Haltung zu sein und erinnerte Eadulf an Aldheres spöttische Einstellung zum Leben.
»Also hast du schon gehört, Bruder Eadulf, daß eine Massenhysterie über unsere arme Gemeinschaft hereingebrochen ist?«
Eadulf blieb überrascht stehen. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, was der Apotheker damit meinte. Plötzlich leuchteten seine Augen auf.
»Dann glaubst du auch nicht an diese Geistererscheinung?«
Bruder Higbald schüttelte den Kopf. Sein Lächeln wurde eher noch breiter.
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Geist oder ein Phantom durch unsere dunklen Gänge schwebt. Ich glaube, der junge Redwald bildete sich etwas ein. Ich muß dich allerdings darauf hinweisen, daß du es warst, der als erster das Bild einer Frau beschrieb, die nach Aussage des armen Bruder Willibrod eine auffallende Ähnlichkeit mit der toten Frau des Abts besaß. Vielleicht hat Redwald dich davon erzählen hören und sich dann mit blühender Phantasie etwas ausgemalt, was er im Schatten erblickt haben will. Weiter nichts.«
Eadulf hielt nachdenkend den Kopf schief.
»Das wäre möglich. Aber ich habe selbst mit Redwald gesprochen, und seine Furcht ist echt.«
»Das kann schon sein. Man bringt es fertig, sich selbst davon zu überzeugen, daß man etwas gesehen hat, obgleich man es nicht gesehen hat. Ein junger Mensch ist leicht zu beeindrucken.«
Eadulf lächelte düster. »Nehmen wir an, es wäre so. Träfe dieselbe Erklärung auf meine Beobachtung der Frau zu?«
Bruder Higbald kicherte. »Ich kenne dich nicht so gut, Bruder, deshalb kann ich dir diese Frage nicht beantworten. Ich weiß nur - wie ich dir heute morgen schon sagte -, daß wir eine kleine Gemeinschaft sind und ich es wissen müßte, wenn sich eine Frau hier aufhielte.«
»Aber würdest du es auch wissen, wenn es ein Schatten wäre, ein Bild aus der Anderen Welt?« erkundigte sich Eadulf.
Bruder Higbald schüttelte entschieden den Kopf. »Du glaubst nicht an solche Sachen, mein Freund, und ich auch nicht.«
»Unglücklicherweise glauben aber dein Abt und viele deiner Brüder daran.«
»Ich weiß, das ist ein Problem. Ich bin übrigens gerade auf dem Weg zu Schwester Fidelma, um zu sehen, wie es ihr geht. Darf ich dich begleiten?«
»Sie hat hohes Fieber«, sagte Eadulf, während sie den Gang entlangschritten.
Bruder Higbald schien das nicht zu beunruhigen.
»Das ist meistens so bei solchen Fieberanfällen. Das Fieber stellt sich ein und muß auf natürlichem Wege wieder fallen, wenn wir auch etwas mit Arzneien nachhelfen können. Gewöhnlich überschreitet das Fieber seinen Höhepunkt in den frühen Morgenstunden. Wir können nichts weiter tun als abwarten.« Higbald schwieg und sah Eadulf an. »Wohin bist du denn heute vormittag verschwunden?«
»Ich ritt hinter Abt Cild und seinem Trupp her«, antwortete Eadulf. »Ich habe sie nicht erreicht, aber dafür stieß ich auf den Bruder des Abts.«
Bruder Higbald verhielt den Schritt und starrte Eadulf an.
»Du hast Aldhere getroffen und mit ihm gesprochen?«
Eadulf nickte. »Ein interessanter Mann. Er ist nicht ganz so, wie ihn der Abt beschreibt. Da gibt es an-scheinend ein paar unterschwellige Tendenzen. Wenn es nach mir ginge, würde ich die Sache vom Oberhofmeister des Königs untersuchen lassen.«
Bruder Higbald ging weiter und Eadulf mit ihm.
»Ich versuche, Bruderzwist zu vermeiden. Ist dir bekannt, wohin Abt Cilds Anklage gegen Schwester Fidelma führen kann?«
Eadulf nickte grimmig.
»Darf ich dir einen Rat geben?« fragte Bruder Hig-bald.
Eadulf warf ihm einen forschenden Blick zu. »Einen Rat?«
»Sobald das Fieber deiner Gefährtin nachläßt, würde ich an eurer Stelle die Abtei verlassen.«
Eadulf seufzte resigniert. »Ich glaube, genau das hast du mir heute früh schon geraten.«
»Es ist der beste Rat, den ich dir bieten kann«, antwortete Bruder Higbald. »Ich werde dir einen Weg zeigen, auf dem ihr unbemerkt aus der Abtei gelangen könnt; den meisten der Brüder ist er nicht bekannt. Habt ihr Glück, könnt ihr Abt Cilds Zorn mit Leichtigkeit entgehen. Ich für mein Teil möchte nicht unschuldiges Blut an meinen Händen haben.«
Eadulf sah ihn überrascht an.
»Wenn du solche Vorbehalte gegen deinen Abt hast, warum bleibst du dann hier, Bruder Higbald?«
Der Apotheker lachte trocken.
»Wir alle haben unsere Gründe, weshalb wir unser Leben gerade an einem bestimmten Ort verbringen. Ich habe mich für diesen hier entschieden.
Meine Gründe haben mit dieser Sache nichts zu tun.«
Eadulf kam plötzlich ein Gedanke.
»Hast du mir nicht heute morgen erzählt, daß Bruder Botulf den Tod von Lady Gelgeis hätte bezeugen können? Ich habe gehört, sie sei eines Abends allein zur Abtei zurückgekehrt und in ein Moorloch, Hob’s Mire, geraten und darin verschwunden. Niemand habe die Leiche gesehen. Woher weißt du dann, daß Botulf ihren Tod bezeugen konnte?«
Bruder Higbald schwieg wieder, schließlich wandte er sich stirnrunzelnd zu Eadulf um.
»Ich habe nie gehört, daß sie allein gewesen sei, als sie ums Leben kam«, erwiderte er zögernd. »Ich meine sogar, Bruder Botulf hat mir die Geschichte selbst erzählt.«
»Berichte mir, was Botulf genau gesagt hat. Kannst du dich daran erinnern?«
Bruder Higbald überlegte einen Moment.
»Das war vor mehreren Monaten. Irgendwie, ich weiß nicht mehr, wodurch, kamen wir auf die Frau des Abts zu sprechen. Bruder Botulf sagte ... Ach, er habe die Lady im Stich gelassen. Er sei schuld an ihrem Tod. Irgendwas in der Art. Doch, jetzt fällt es mir ein! Botulf sagte, er habe darin versagt, Gelgeis vor dem Unheil zu schützen, das ihr hier begegnet sei. Daß ihr Gesicht im Tode ihn verfolge. Dann . Das war alles. Er brach das Gespräch plötzlich ab.«
Eadulf schwieg und dachte über das Gehörte nach.
Er fand nichts Greifbares darin, aber viel Stoff für Vermutungen. Er seufzte leise.
Sie erreichten das Gästezimmer, vor dem der stämmige Bruder noch immer Wache stand.
Bruder Higbald begrüßte ihn spöttisch.
»Wie geht’s deiner Gefangenen, Bruder Beornwulf? Hat sie versucht zu entkommen und dich mit den Kräften des Bösen zu überwältigen?«
Der stumme Bruder Beornwulf trat von einem Fuß auf den anderen und sah den scherzenden Apotheker finster an.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Bruder Higbald besänftigend und tätschelte ihm den Arm. »Du tust nur, was man dir befohlen hat. Der Abt hat dir befohlen, hier zu stehen, deshalb stehst du hier, bis er dir sagt, du kannst gehen.« Kopfschüttelnd schaute er Eadulf an. »Es ist immer gut, wenn man seinen Platz und seine Pflicht kennt«, sagte er lächelnd. Dann öffnete er die Tür des Gästezimmers, ging hinein und winkte Eadulf, ihm zu folgen. Als er die Tür schloß, verzog er das Gesicht. »Bruder Beornwulf besitzt gute, starke Arme, doch ihm fehlt die geistige Beweglichkeit. Er tut, was man ihm sagt, nicht mehr und nicht weniger.«
Fidelma lag noch immer auf ihrem Bett, in Decken gehüllt und vom Fieber gepackt.
Bruder Higbald berührte ihre feuchte Stirn mit dem Handrücken. Sie stöhnte leise, hielt aber die Augen geschlossen.
»Ach ja, febricula incipit - das Fieber hält an. Es gibt noch keine Veränderung, Bruder Eadulf«, sagte er. »Das war zu erwarten. Du kennst das ja, nicht wahr?«
Eadulf nickte. »Ich würde ihr trotzdem etwas verordnen, was ihr gegen das Fieber hilft und es senkt.«
»Dem stimme ich zu. Was schlägst du vor?«
»Einen Aufguß von Wermut, Katzenminze ...?«
»Ich würde Teufelsabbiß vorschlagen«, antwortete Bruder Higbald bestimmt.
»Ebenso gut«, pflichtete ihm Eadulf bei.
Bruder Higbald nahm seinen kleinen Beutel von der Schulter. »Zufällig habe ich schon etwas vorbereitet.«
Eadulf nahm die winzige Amphore, die der Apotheker ihm gab, entstöpselte sie und roch daran. Dann nickte er.
»Soll ich ihr das geben?« fragte er.
Bruder Higbald signalisierte Zustimmung.
Eadulf schob vorsichtig die Hand unter Fidelmas heißen, schweißgebadeten Kopf und hob ihn an. Sie stöhnte unwillig, aber Eadulf setzte ihr die kleine Amphore an die Lippen, drückte sie sanft auseinander und ließ die Flüssigkeit in den Mund tröpfeln.
»Ein, zwei große Schlucke«, ordnete Bruder Hig-bald an.
Mühsam flößte ihr Eadulf die Medizin ein.
»Du kannst ihr später noch mal etwas geben, wenn das Fieber nicht nachläßt. Aber sie ist eine starke, gesunde Frau. Ich denke, dafür sollten wir dankbar sein.«
Eadulf stellte die Amphore auf den Seitentisch.
»Nun müssen wir abwarten«, sagte Bruder Higbald zufrieden. »Ich überlasse dir die Wache, mein Freund, aber ich meine wirklich, ihr solltet meinem Rat folgen und aus diesem Haus bei der ersten Gelegenheit fliehen.«
Er ging rasch hinüber zu der Wand, an der ein großer Wandteppich mit einer religiösen Darstellung hing. Mit verschwörerischer Miene schaute er sich um.
»Hier hinter findet ihr einen kleinen Gang, der aus den Mauern der Abtei hinausführt. Vergeßt das nicht.«
Er zog den Vorhang beiseite. Zu Eadulfs Überraschung war eine Tür dahinter. Sie ging nach innen auf und war nicht verschlossen. Bruder Higbald öffnete sie und wies hindurch in die Dunkelheit.
»Folgt dem Gang, nehmt die beiden ersten Abzweigungen nach links und dann die erste nach rechts. Merke dir das gut. Zweimal links und dann rechts. Die Abtei hat mehrere solcher Tunnel, denn sie wurde auf einer alten keltischen Burg erbaut, die von Tytila, dem Sohn Wuffas, zerstört wurde, als unser Volk dieses Land eroberte.«
»Ich werde daran denken, Bruder Higbald, und an deinen Rat, für den ich dir aufrichtig dankbar bin.«
Der Apotheker erwiderte nichts; er schloß die Tür und schob den Wandteppich wieder davor. Danach lächelte er kurz und hob die Hand zum Abschiedsgruß, ehe er das Zimmer verließ. Eadulf hörte, wie er draußen zu Bruder Beornwulf sprach. Er wartete noch etwas, dann schaute er nach Fidelma und setzte sich schließlich auf einen Stuhl am Kamin.
Plötzlich merkte er, wie müde er war. Es war ein langer Tag gewesen. Er hatte einen weiten Ritt auf einem Maultier gemacht, und ihm taten alle Knochen weh. Er lehnte sich zurück, legte die Hände in den Schoß und schloß die Augen.
Die Ereignisse des Tages kreisten langsam in seinen Gedanken, und er bemühte sich, sie in einen Zusammenhang zu bringen.
Vor allem nagte die Gefahr für Fidelma an ihm. Sie lag vor ihm auf dem Bett und hatte keine Ahnung von dem, was ihr drohte. Sie kämpfte mit ihrem unmittelbaren Feind, dem Fieber. Es war seine oberste Pflicht, sie zu beschützen. Bruder Higbald hatte ihm wenigstens einen Ausweg gezeigt, um Abt Cilds Verfolgung zu entgehen. Doch eine Flucht aus Aldreds Abtei konnte doch wohl nur die letzte Möglichkeit sein?
Was hatte er über das Geheimnis erfahren? Sein guter Freund hatte ihn zur Abtei gerufen. Wenige Stunden vor seiner Ankunft war dieser Freund ermordet worden. Der Abt und sein leiblicher Bruder waren in einen tödlichen Streit verstrickt, und der Abt lastete seinem Bruder Aldhere den Mord an Botulf an. Ald-here seinerseits warf seinem Bruder, dem Abt, diesen Mord vor. Außerdem war Garb aus Maigh Eo im Königreich Connacht aufgetaucht und beschuldigte den Abt, seine Frau Gelgeis, Garbs Schwester, ermordet zu haben. Er hatte ein rituelles Fasten gegen den Abt angekündigt. Die Umstände des Todes von Gelgeis waren anscheinend unklar. Sowohl Eadulf als auch der junge Redwald hatten eine Frau in der Abtei gesehen. Bruder Redwald behauptete, diese Frau sei die tote Gelgeis. Und dazu kam noch die verhängnisvollste Tatsache von allen: Fidelma war angeklagt, die Geister von Toten beschworen zu haben.
Eadulf hätte Bruder Redwalds Geschichte vom Geist der Gelgeis, den er gesehen haben wollte, als eine jugendliche hysterische Reaktion abtun können. Aber damit konnte er nicht erklären, daß er am vorigen Abend auch eine Frau vor der Kapelle gesehen hatte. Sowohl Abt Cild als auch Bruder Willibrod hatten seine Beschreibung anscheinend erkannt. Beide meinten, sie träfe auf Gelgeis zu, die tote Frau des Abts.
Eadulf stöhnte leise und schüttelte den Kopf.
Nichts davon schien logisch zu sein, nichts ergab einen Sinn. In diesem Moment fiel ihm plötzlich das Stück Papier ein, das er in Botulfs Zelle aus der Buchtasche genommen hatte. Er suchte in dem saccu-lus an seinem Gürtel danach, nahm es heraus und breitete es auf seinem Knie aus. Es enthielt ein paar Sätze in Latein, und Eadulf erkannte die feste Handschrift seines Freundes Botulf.
Der erste Satz offenbarte sich Eadulf als ein Zitat aus dem Ersten Buch Samuel: »Der Herr sieht nicht, wie ein Mensch sieht; ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an.«
Eadulf kam diese Ermahnung irgendwie bekannt vor, doch er wußte nicht, warum.
Die nächste Zeile war ihm noch nicht begegnet, aber Botulf hatte den Namen Lukrez daneben geschrieben: »Wenn ein Ding sich verändert und seinen eigenen Bereich verläßt, bedeutet diese Veränderung sogleich den Tod dessen, was es vorher war.« Dann war hinzugefügt und unterstrichen: »Die Veränderung ist deutlich - wann tritt der Tod ein?«
Darauf folgte ein Absatz, der fast enthüllend, aber zugleich völlig verwirrend war: »So Gott will, wird mein Freund bald hier sein. Steht nicht geschrieben, daß die Gnade die Stütze der Gerechtigkeit ist? Doch nicht bei dem Mann aus Mercia. Wir werden vernichtet vom Volk aus ...« Eadulf versuchte das nächste Wort zu entziffern, das durch einen Tintenfleck entstellt wurde. Es sah wie »Moor« aus. Er dachte an Aldhere und seine Geächteten im Moorland und erschauerte leicht. »So Gott will, wird mein Freund bald hier sein.« Das konnte sich nur darauf beziehen, daß Botulf auf Eadulfs Ankunft wartete, und er war zu spät gekommen, um seinem Freund zu helfen.
Das letzte Zitat war ebenfalls seltsam, und Bruder Botulf hatte wiederum seine Quelle angegeben. »Kann auch jemand Feuer im Busen behalten, daß seine Kleider nicht brennen? Wie sollte jemand auf Kohlen gehen, daß seine Füße nicht verbrannt würden? Sprüche Salomos.« Hinzugefügt war der Satz: »So ist es mit Brettas Sohn.«
Eadulf lehnte sich stirnrunzelnd zurück und versuchte, die Aufzeichnungen seines toten Freundes zu enträtseln. Was war in Botulf vorgegangen? Verständlich war allein die Bemerkung über Brettas Sohn. Aber inzwischen hatte er erfahren, daß Aldhere und Cild beide Brettas Söhne waren, und jeder von ihnen hatte sicherlich »Feuer im Busen«. Alles andere ergab keinen Sinn. Er steckte das Papier zurück in den sac-culus.
Nachdenklich stand er auf und trat zum Bett, um nach Fidelma zu sehen. Es hatte sich nichts verändert. Vielleicht hatte Higbald recht. Es war wohl das klügste, mit Fidelma die Abtei zu verlassen, sobald sie dazu in der Lage war.
Er setzte sich wieder hin und versuchte sich zu entspannen.
Was würde Fidelma unter den gegebenen Umständen tun? Er wußte, daß sie sich bemühen würde, dem Geheimnis, das auf dieser düsteren Abtei lastete, auf den Grund zu gehen. Er wußte aber auch, daß ihre Sicherheit Vorrang hatte. Es war klar, daß Abt Cild keine Skrupel hatte, seine Drohung wahr zu machen. Auf Rang oder Stellung nahm er keinerlei Rücksicht.
Eadulf war zur Abtei zurückgekommen mit der Absicht, Garb und seine Leute zu suchen. Man hatte ihm gesagt, am ehesten seien sie wohl bei einer Gemeinschaft im Wald von Tunstall zu finden, und der lag südlich von der Abtei. Den hatte er sich zum Ziel genommen. Vielleicht sollte er mit Fidelma dorthin gehen, wenn sie sich genügend erholt hatte? Dort wäre sie wenigstens bei ihren eigenen Landsleuten, die ihr wegen ihres Ranges und Amtes Schutz bieten würden.
Eadulfs Gedanken schienen immer langsamer zu kreisen, abzuschweifen, sich zu verlieren, und dann versank er in einen unruhigen Schlaf voller furchterregender Gesichter, verworrener Bilder, die völlig sinnlos blieben.
Auf einmal nahm er wahr, daß jemand ihn wütend und fordernd anschrie.
Jäh wachte er auf. Er lag unbequem auf seinem Stuhl. Dicht vor seinem Gesicht erblickte er die zornige Miene Abt Cilds. Eadulf fuhr auf.
»Was ist los?« fragte er und versuchte sich zu sammeln.
»Willst du behaupten, daß du hier die ganze Zeit geschlafen hast?«
Eadulf bemühte sich, die Schlaftrunkenheit abzuschütteln. Er sah, daß Bruder Willibrod sich mit besorgter Miene hinter dem Abt hielt und angstvoll die Hände rang. Neben ihm stand der unerschütterliche Bruder Beornwulf.
»Es ist so, wie ich sagte, Pater Abt«, versicherte Bruder Willibrod, »weder die Frau noch der Mann haben das Zimmer verlassen. Bruder Beornwulf hütete die ganze Nacht die Tür.«
Nun war Eadulf wach und stand auf, wodurch er den Abt, der sich über seinen Stuhl gebeugt hatte, zwang, zurückzutreten.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte Eadulf in scharfem, aber gedämpftem Ton. Er blickte hinüber zu Fidelma , trat zu ihr und befühlte ihre Stirn. Eine Woge der Erleichterung durchflutete ihn.
»Gut! Das Fieber läßt nach. Es geht aufwärts mit ihr.« Dann fuhr er herum zu dem mürrischen Abt. »Sie braucht jetzt ihren gesunden Schlaf.«
Mit der ganzen Kraft seiner Persönlichkeit schob er den Abt, den dominus und den Wächter aus dem Zimmer auf den Gang hinaus. Er schloß die Tür und wandte sich ihnen mit finsterer Miene zu. Er wurde laut.
»Ihr habt hoffentlich eine triftige Erklärung dafür, daß ihr mitten in der Nacht in ein Krankenzimmer hineinstürmt?«
Abt Cild blieb unbeeindruckt.
»Wart ihr, du und deine Gefährtin, in diesem Zimmer seit der Zeit, als du mich gestern abend verlassen hast?«
Eadulf gewahrte ein mattes Licht, das durch die Fenster hereindrang. Er merkte, daß die Morgendämmerung nicht mehr weit sein konnte. Aus der Ferne kamen die Laute erwachender Vögel. Er mußte mehrere Stunden geschlafen haben.
»Wo sollte ich denn sonst gewesen sein?« antwortete er schroff. »Schwester Fidelma ist überhaupt noch nicht in der Lage, ihr Bett zu verlassen.«
»Es ist so, wie ich gesagt habe, Pater Abt«, wiederholte Bruder Willibrod gekränkt. »Bruder Beornwulf stand die ganze Nacht vor der Tür.«
»Was sollen wir denn jetzt wieder verbrochen haben?« forderte Eadulf den Abt heraus. »Hast du einen neuen Vorwurf gegen uns erfunden?«
Abt Cild sah aus, als werde er gleich vor Zorn zerspringen, aber Bruder Willibrod legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.
»Komm mit, Eadulf von Seaxmund’s Ham«, sagte Abt Cild schließlich, drehte sich um und lief mit schnellen Schritten voran den Gang entlang und über den Hof zur Kapelle der Abtei. Einige wenige Brüder begegneten ihnen und eilten mit gesenkten Köpfen und gefalteten Händen an ihnen vorbei. Eadulf spürte, wie sie ihn beobachteten, als er dem Abt folgte. Hinter ihm kam Bruder Willibrod. Bruder Beornwulf war angewiesen worden, auf seinem Posten vor der Tür des Gästezimmers zu bleiben.
Abt Cild ging geradewegs auf die Kapelle zu und trat ein. Er marschierte sofort zum Hochaltar und blieb davor stehen. Mit ausgestrecktem Arm wies er auf den Altar.
Er sprach kein Wort, aber das brauchte er auch nicht. Was er Eadulf zeigen wollte, war deutlich zu sehen, und seine Bedeutung war offenkundig.
Mitten auf dem Hochaltar lag eine tote Katze. Ein Messer mit einem Knochengriff nagelte sie darauf fest. Eadulf hatte solche Messer schon früher gesehen. In der alten Zeit, bevor der neue Glaube das Volk Wuffas im Land der Ost-Angeln erreichte, trugen die Priester Wotans und Thunors solche Waffen, deren Knochengriffe mit eingeritzten heiligen Symbolen verziert waren. Es waren Opfermesser.
»Es ist das Zeichen des heidnischen Götzendienstes«, flüsterte Bruder Willibrod und bekreuzigte sich. »Wir wissen alle, daß heute das Julfest ist.«
Wider Willen konnte Eadulf nicht verhindern, daß ihn ein Schauer überlief. Er versuchte sich zu erinnern, wo er kürzlich von der Opferung einer schwarzen Katze auf dem Altar gehört hatte.
»Die Geisterbeschwörung und jetzt - das!« murmelte Abt Cild.
Eadulf blickte ihn rasch an.
»Du bringst anscheinend diese beiden Dinge miteinander in Verbindung?«
»Beide riechen nach böser Kunst!« rief der Abt.
»Sie riechen nach einem bösen Gemüt«, entgegnete Eadulf. »Die Frage ist nur - wessen Gemüt?«
»Meine Antwort bleibt dieselbe. Nichts dieser Art hat sich in Aldreds Abtei ereignet, bis du und diese fremde Frau hergekommen seid.«
»Und ich habe gesagt, das ist überhaupt keine Antwort. Was kann denn eine irische Nonne von heidnischen angelsächsischen Göttern und ihren Riten wissen? Wir sind nicht verantwortlich für diese« - er wies auf den Altar - »diese Entweihung, und ebensowenig sind wir verantwortlich für andere böse Taten, die hier in dieser Abtei verübt wurden.«
»Das werdet ihr beweisen müssen«, fauchte der Abt. »Bruder Willibrod, du wirst dafür sorgen, daß das da verschwindet. Ich werde den Altar segnen und ihn wieder weihen.«
»So soll es sein, Pater Abt«, murmelte der dominus und warf Eadulf einen beinahe entschuldigenden Blick zu. Er machte sich daran, den Befehl des Abts auszuführen.
Der Abt betrachtete Eadulf mit einem Blick, in dem sich Abneigung mit etwas anderem mischte. Plötzlich wurde Eadulf klar, daß Furcht in den Augen des Mannes zu lesen war. Abt Cild hatte tatsächlich Angst vor ihm.
»Du gehst in das Gästezimmer zurück und bleibst dort, bis ich dich holen lasse. Das wird geschehen, sobald ich so weit bin, die Anklage in aller Form anzuhören und das Urteil zu sprechen.«
Eadulf war entsetzt. »Und was ist mit meinem Recht, Schwester Fidelma und mich zu verteidigen?«
»Dieses Recht bekommst du zu gegebener Zeit.«
»Aber habe ich denn kein Recht auf Freiheit, damit ich Nachforschungen anstellen und die Verteidigung vorbereiten kann?«
Abt Cilds Augen verengten sich. »Du hast jetzt kein Recht auf Freiheit mehr. Nach dieser Entweihung hast du das Recht auf Freiheit verloren. Wäre ich ein weniger nachsichtiger Mensch, hätte ich euch beide sofort festnehmen und verbrennen lassen für das Unheil, das ihr über diese Abtei gebracht habt.«
Eadulf klappte den Mund zu. Er begriff, daß das verstockte Gemüt dieses Mannes nicht zu bewegen war. In dem Moment wurde ihm klar, daß Bruder Higbald wahrscheinlich recht hatte. Er mußte Fidelma so schnell wie möglich in Sicherheit bringen. Aber nach so einem Fieberanfall wäre es in höchstem Maße unvorsichtig, sie in die kalte, tief verschneite Welt hinauszuführen, ohne daß sie ein paar Tage Zeit gehabt hätte, sich zu erholen.
»Nun gut, Abt Cild«, sagte er langsam. »Ich merke, daß du darauf aus bist, dein Vorgehen gegen uns weiter zu betreiben, so blind und böswillig es auch ist. Ich werde erst wieder aus der Tür des Gästezimmers herauskommen, wenn ich dazu aufgefordert werde. Du beschuldigst uns, Unheil gestiftet zu haben, aber es ist die reine Bosheit, auf die du dich da eingelassen hast. Ich appelliere an den Rest Menschlichkeit in dir und habe nur eine Bitte: Fidelma von Cashel wird noch ein paar Tage brauchen, um sich von ihrer Krankheit zu erholen. Im Namen des Gottes, den du zu vertreten behauptest, gib uns diese Zeit für ihre Genesung, ehe du sie hervorzerrst, um deine blinde Grausamkeit zu üben.«
Eadulf sprach in ruhigem Ton, aber in seiner Stimme lag eine Leidenschaft, die Abt Cild stutzen ließ.
»Ich bin nicht unmenschlich«, verteidigte sich der Abt. Eadulf merkte, daß die Furcht nicht aus seinem Blick gewichen war. »Doch ich kann nicht zulassen, daß noch weiteres Unheil diese Abtei heimsucht. Die Frau erhält zwei Tage, um sich zu erholen - mehr nicht. Dann könnt ihr euch auf eure Verteidigung vorbereiten.«
Er wandte sich um und bemerkte, daß der dominus, Bruder Willibrod, mit mehreren Mönchen, die Eimer und Bürsten trugen, zurückkam und den Hochaltar säubern wollte.
»Bruder Willibrod, du bringst Bruder Eadulf wieder ins Gästezimmer. Er bleibt dort und wartet meine weiteren Befehle ab.«
Der dominus verneigte sich und machte seinen Begleitern ein Zeichen, daß sie ihre Arbeit aufnehmen sollten, während der Abt die Kapelle verließ. Dann sah er Eadulf entschuldigend an und ging neben ihm her.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Bruder«, murmelte er. »All diese Ereignisse sind seltsam beunruhigend.«
»Du glaubst doch wohl nicht, daß der Schatten von Gelgeis in diesen Mauern umgeht, oder?« fragte Eadulf. »Was hier passiert, ist Menschenwerk.«
Bruder Willibrod zuckte die Achseln. »In deiner gestrigen Beschreibung der Frau, die du vor der Kapelle gesehen haben willst, erkannte ich Gelgeis.«
»Ich merkte, daß du verstört warst«, gab Eadulf zu.
Bruder Willibrod preßte die Lippen zusammen.
»Es hörte sich wirklich wie Lady Gelgeis an. Und was der junge Redwald sah, scheint diese Meinung zu bestätigen.«
»Also glaubst du, daß der Geist von Gelgeis den Abt verfolgt? Warum?«
Bruder Willibrod verzog das Gesicht, doch Eadulf konnte seine Miene nicht deuten.
»Ich würde sagen, das ist genau das, was Gelgeis tun würde, wenn es in ihrer Macht stünde.«
»Das verstehe ich nicht.«
Bruder Willibrod verhielt den Schritt und sah sich plötzlich verschwörerisch um.
»Ich will dir die Wahrheit gestehen. Lady Gelgeis war alles andere als eine gefügige Frau. Sie war hart, herrschsüchtig und rücksichtslos. Ich könnte es so-gar verstehen, wenn Cild sich so weit vom richtigen Weg getrieben fühlte, daß er sie sich vom Halse schaffte.« Er zögerte und wurde rot. »Ich will damit nicht behaupten, daß er es tat«, fügte er rasch hinzu. »Ich glaube auch nicht, daß er es getan hat. Aber Lady Gelgeis war gehässig und sittenlos.«
Eadulf starrte ihn überrascht an.
»Kanntest du sie gut?«
»So gut es mir in meiner Rolle als dominus möglich war.«
»Wie lange bist du hier dominus?«
»Ich war schon in der Abtei, als Cild und Gelgeis herkamen.«
»War sonst noch jemand deiner Meinung über ihren Charakter?«
Willibrod schnaubte verächtlich.
»Danach mußt du die anderen selber fragen, obgleich die meisten sie nicht so lange und so gut gekannt haben wie ich. Ich habe meine Meinung. Das entspricht nicht der von Abt Cild, deshalb möchte ich nicht, daß du ihm enthüllst, wie wenig ich seine Frau schätzte.« Er brach ab und deutete mit einem Kopfnicken den Gang entlang, wo Bruder Beornwulf, die mächtigen Arme über der Brust gekreuzt, auf einem dreibeinigen Schemel saß. »Du bleibst in eurem Zimmer, wie der Abt es befohlen hat. Es tut mir leid, daß es so weit gekommen ist, Bruder Eadulf.«
Er drehte sich um und eilte davon.
Eadulf kehrte in Fidelmas Zimmer zurück und empfand kalte Furcht. Geister wandelten umher, der Hochaltar wurde entweiht, und Leute, die die Frau des Abts zu ihren Lebzeiten gekannt hatten, schworen, daß es ihre Gestalt war, die ihn verfolgte. Trotz seiner Befürchtungen ging er zuerst zu Fidelma und stellte fest, daß sie tief in gesundem Schlaf lag.
Er setzte sich auf seinen Stuhl und versuchte seine wirren Gedanken zu ordnen.
Im Augenblick war keine Entscheidung zu treffen. Sie mußten Bruder Higbalds Vorschlag annehmen. Ihre Sicherheit war wichtiger als die Lösung des Rätsels. Den Kopf voller widersprüchlicher Gedanken, sank er wieder in einen unruhigen Schlaf.
Als er erwachte, wurde der Raum von strahlendem Morgenlicht erhellt. Er begriff, daß er durch den Eintritt Bruder Redwalds geweckt worden war, der ein Tablett mit zwei dampfenden Schüsseln, Brot und ein paar Äpfeln trug.
Der junge Mann lächelte entschuldigend. Er schien verlegen.
»Ich habe das Frühstück für die Schwester und für dich gebracht, Bruder.«
Eadulf musterte ihn vorsichtig.
»Wie geht es dir jetzt?« fragte er.
Redwald stellte das Tablett ab.
»Ich bitte um Verzeihung für meinen Zustand gestern abend. Ich war wirklich erschrocken. Heute morgen habe ich mich beruhigt und kann meinen Pflichten wieder nachkommen.« Er verneigte sich unsicher und ging zur Tür. »Wenn ihr noch etwas braucht, Bruder Beornwulf ist hier draußen.«
Er zögerte unentschlossen. Dann lächelte er Eadulf rasch zu.
»Du warst sehr rücksichtsvoll zu mir, Bruder. Es tut mir leid, daß du in dieser schwierigen Lage bist. Ich hoffe, daß nicht etwas, was ich getan habe, dazu geführt hat. Doch ich habe Lady Gelgeis wirklich gesehen, das schwöre ich. Wenn sie ein Geist war, wollte sie mir aber wohl nichts tun, deshalb bedaure ich es, wenn Schaden daraus entsteht.«
Eadulf suchte ihn zu beruhigen.
»Mach dir keine Sorgen, Redwald. Du kannst nichts für die Handlungen anderer.«
Als der junge Mann gehen wollte, hielt Eadulf ihn zurück.
»Hattest du Lady Gelgeis gern?« fragte er.
Einem Moment sah der junge Mann verwirrt drein, schließlich nickte er.
»Sie war nett zu mir. Ich sagte schon, daß sie mich pflegte, als ich krank war.«
»Ich weiß. Du warst ein Junge und gerade erst in die Abtei gekommen. Also mochtest du sie?«
»Ich glaube, ja.«
»Sicher bist du nicht?«
»Als ich krank war, dachte ich, sie wäre ein Engel. Aber später, als ich gesund war und heranwuchs, war sie kühl zu mir, als machte sie sich nichts aus mir.«
»Hast du Angst, wenn du jetzt ihr Bild siehst?«
Der junge Mann überlegte und schüttelte dann den Kopf.
»Der Abt hat mir gesagt, ich habe doch meinen Glauben als Schutzschild. Wenn ich im Glauben fest bleibe, brauche ich mich nicht zu fürchten.«
Damit ging er fort, und Eadulf wandte sich nun dem Tablett und den Schüsseln mit dampfender Brühe zu. Er merkte, daß er lange nichts gegessen hatte.
»Wasser«, kam eine krächzende Stimme vom Bett her. »Ich brauche was zu trinken.«
»Fidelma!« Eadulf drehte sich um und erblickte eine blasse, sonst aber normal aussehende Fidelma, die sich aus den Kissen aufrichtete.
»Ich fühle mich wie tot«, setzte sie hinzu.
»Du solltest dich wie neugeboren fühlen, weil du ein gefährliches Fieber überwunden hast«, lächelte Eadulf, setzte sich ans Bett und erfaßte eine ihrer kalten Hände, während er ihr mit der anderen Hand einen Becher mit Wasser reichte.
Sie trank vorsichtig davon.
»Wie lange habe ich im Fieber gelegen?«
»Nur vierundzwanzig Stunden.«
»Mir kam es länger vor. Ich hatte die irrsinnigsten Träume, wenn es denn Träume waren. Leute liefen rein und raus, schrien und tobten, stets im Zorn. Sind wir immer noch in der Abtei ...« Sie brach ab.
»In Aldreds Abtei«, ergänzte Eadulf. »Wir kamen vorgestern abend an. Kannst du dich an irgend etwas erinnern?«
Fidelma dachte nach.
»Das letzte, an das ich mich erinnere, ist der Besuch vom Apotheker und dann an irgendwas von einer Frau, die in der Abtei gesehen wurde. Danach ist alles äußerst verschwommen. Da lag ich wohl im Fieber.«
Eadulf brachte ihr eine Schüssel mit Brühe und ein Stück Brot.
»Nachdem das Fieber nun vorbei ist, brauchst du erst mal Nahrung. Iß das hier, und danach erzähle ich dir, was sich ereignet hat.«
Bei der Mahlzeit wurde klar, daß Fidelma noch ziemlich schwach war. Ihre Hände zitterten, und Eadulf mußte ihr bei der Suppe helfen. Sie schien erschöpft. Eadulf erkannte, daß sie an diesem Tag unmöglich reisen konnte.
Sie hatte die Schüssel halb geleert und an dem Brot geknabbert, dann schob sie alles fort. Eadulf räumte ab, und sie sank wieder aufs Bett und schloß die Augen.
»Du wolltest mir ... was erzählen«, gähnte sie.
Eadulf schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht. Du mußt erst noch schlafen.«
»Ich bin so . müde .«
Im nächsten Moment schlief sie schon fest.
Eadulf beendete seine eigene Mahlzeit und gab sich wieder dem Nachdenken hin.
Ein oder zwei Stunden später war er damit noch nicht viel weiter gekommen. Die Tür ging leise auf, und Bruder Higbald trat ein. Er nickte Eadulf zu und betrachtete Fidelma.
»Das Fieber geht zurück«, erklärte Eadulf als Antwort auf Higbalds hochgezogene Augenbraue. »Sie liegt jetzt in gesundem Schlaf.«
Bruder Higbald deutete auf eine Zimmerecke, weil er sprechen wollte, ohne Fidelma zu stören.
»Ich habe gehört, was letzte Nacht passiert ist«, flüsterte er. »Jemand hat den Hochaltar entweiht.«
»Und uns gibt man die Schuld«, unterbrach ihn Eadulf verärgert. »Ich weiß. Jetzt bin ich entschlossen, deinem Rat zu folgen. Es wäre töricht, sich dem hier noch länger auszusetzen.«
Bruder Higbald stimmte zu.
»Eine kluge Entscheidung. Aber wann wird Schwester Fidelma reisen können?«
»Frühestens morgen, meine ich.«
»Weiß sie, wessen man sie anklagt?«
»Ich habe es ihr noch nicht gesagt. Wenn ich es tue, weiß ich nicht, ob sie es überhaupt versteht. In ihrem Land gibt es so etwas nicht.«
»Nun, je eher ihr von hier wegkommt, desto besser.«
»Hast du mehr darüber gehört, was jetzt vorgeht?«
Bruder Higbald schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Abt Cild hat vor irgend etwas Angst. Aber er wirft euch beiden vor, daran schuld zu sein.«
»Es gibt hier ein Geheimnis, das ich nicht enträtseln kann, Bruder Higbald. Du bist anscheinend der einzige Mensch, von dem ich etwas Vernünftiges erfahre. Was ist das für ein dunkler Schatten, der auf der Abtei lastet? Hast du eine Ahnung?«
Bruder Higbald zuckte die Achseln. »Ich habe es nie als dunklen Schatten empfunden. Abt Cild ist ein Mensch von schwankenden Stimmungen, wie wir alle - jeder auf seine Art. Es gibt unterschwellige gefühls-mäßige Strömungen zwischen uns: Eifersüchteleien, Verdächtigungen, Rivalitäten. Aber das ist doch ganz normal. Erst mit dem Tod Botulfs und den weiteren Ereignissen in der letzten Nacht deutete sich an, daß ein wirkliches Problem existiert.«
»Sonst war gar nichts?« fragte Eadulf enttäuscht. »Kein Hinweis darauf, daß Botulf Gefahr drohte? Nicht mal ein leiser Verdacht im Zusammenhang mit dem Tod von Lady Gelgeis?«
»Nun, Cilds Stimmungen wechselten oft nach Garbs erstem Besuch, und unter den Brüdern wurde immer geredet. Ich glaube, wir alle waren bestürzt, als Bo-tulfs Leichnam entdeckt wurde. Aber Bruder Wigstan sagte, er habe zur selben Zeit den berüchtigten Geächteten Aldhere hier in der Nähe gesehen. Es gab keinen Anlaß, Abt Cild zu mißtrauen, als er Aldhere beschuldigte.«
»Obgleich Aldhere Cilds Bruder ist?«
»War nicht Kain auch Abels Bruder? Brüder müssen nicht immer von gleicher Denkart sein.«
»Hast du dir nie Gedanken darüber gemacht, weshalb Cild seinen Bruder nicht mag?«
»König Ealdwulf selbst hatte Aldhere geächtet. Das war alles, was wir zu wissen brauchten.«
»Als nun neulich abends der Ire Garb hier auftauchte, sich als Bruder von Lady Gelgeis zu erkennen gab und Cild anklagte, er habe sie ermordet, was dann?«
»Die meisten Brüder waren entsetzt. Ich hatte ihn schon einmal gesehen, wie du weißt.«
»Nur noch eine Frage: Wenn das alles so ist, warum bist du bereit, dich gegen Abt Cild zu stellen und Schwester Fidelma und mir zu helfen?«
Bruder Higbald schien etwas überrascht von dieser Frage und dachte einen Moment darüber nach.
»Vielleicht, weil ich nicht an Geister und Hexerei glaube. Ich meine, in dieser Sache verhält sich Abt Cild ungerecht. Aber ich denke, er handelt aus Furcht und nicht aus Bosheit.«
»Doch wovor hat er Angst? Wenn er in der Gewißheit seines Rechts handelt, was hat er da zu fürchten?«
»Falls du in der Lage bist, mein Freund, darauf eine Antwort zu finden, kannst du vielleicht auch alle anderen Rätsel lösen.« Bruder Higbald lächelte. »Um welche Zeit wollt ihr aufbrechen? Erinnerst du dich noch an den Weg, den ich dir beschrieben habe?«
»Zweimal nach links, anschließend nach rechts, ich weiß. Ich habe keine Ahnung, wann. Es hängt davon ab, wie Fidelma sich fühlt.«
»Laß mich wissen, wann ihr weggehen wollt, dann werde ich euch nach Kräften helfen.«
»Vielen Dank, Bruder Higbald. Ich bin dir sehr dankbar für alles, was du für uns getan hast.«
Nachdem Bruder Higbald gegangen war, ließ sich Eadulf nieder, um die Lage zu überdenken, erkannte aber sehr schnell, daß Fidelmas Leitspruch, man könne ohne genaue Kenntnisse keine Vermutungen anstellen, auch auf diesen Fall zutraf. Er hatte überhaupt keine Grundlage für Vermutungen.
Erst nach dem Mittag erwachte Fidelma aus ihrem gesunden Schlaf.
»Eadulf?« Sie erhob sich unsicher, ließ sich aber wieder zurückfallen.
Eadulf brachte ihr einen Becher kaltes Wasser, und sie leerte ihn dankbar.
»Wie fühlst du dich jetzt?« fragte er.
»Schrecklich. Wie krank war ich?«
»Ziemlich krank.« Er legte ihr die Hand auf die Stirn. »Wenigstens ist das Fieber jetzt vollständig weg.«
»Mein Hals fühlt sich furchtbar rauh an.«
»Du hattest hohes Fieber, aber du hast es überstanden, Deo gratias.«
»Sind wir noch in der Abtei?«
Ihre Augen waren klar, und sie nahm ihre Umgebung wahr.
»Ja.«
»Wie lange war ich abwesend?«
»Erinnerst du dich daran, daß du heute morgen aus dem Fieber erwachtest und mir dieselbe Frage stelltest?«
Fidelma dachte nach und lächelte.
»Ja. Sind wir erst zwei Tage hier?«
»Es ist kurz nach dem Mittag des Tages, an dem dein Fieber nachließ. Jetzt mußt du dich ausruhen, dich entspannen und Kraft gewinnen.«
Fidelma nickte langsam. »Und du hast mich die ganze Zeit gepflegt?«
»Ja. Der Apotheker der Abtei, Bruder Higbald, half mir dabei.«
Fidelma überlegte. »Ich dachte, ich hätte dir vorher noch eine Frage gestellt . über etwas, was mich be-unruhigte.« Sie hielt inne. »Ach, ja. Ich empfand so etwas wie Feindschaft, während ich krank lag. Von Leuten, die ...«
Eadulf unterbrach sie. »Hab Geduld. Sobald du es vertragen kannst, gebe ich dir einen Überblick über die Ereignisse seit unserer Ankunft. Sie sind nicht angenehm.«
Fidelma betrachtete ihn mit einem schwachen Lächeln.
»Es geht mir schon ganz gut«, antwortete sie ruhig. »Erzähl mir, was dich bedrückt.«
Eadulf begann zu berichten, erst langsam, dann mit mühsam beherrschter Bewegung, als er auf die verbohrte Haltung Abt Cilds zu sprechen kam.
Fidelma lag still da und hörte ihm zu. Sie brauchte ihn nicht zu unterbrechen, denn Eadulf verstand es, die Ereignisse ausgezeichnet wiederzugeben, ohne eine Einzelheit auszulassen.
Dem Schluß seiner Erzählung lauschte sie mit finsterem Gesicht.
»Also soll ich den Ängsten dieses seltsamen Abts geopfert werden? Cild heißt er?«
»Dazu wird es nicht kommen. Ich habe den Plan, dich von hier fortzuschaffen, sobald du dich dazu in der Lage fühlst.«
Fidelma verzog spöttisch das Gesicht.
»Ich glaube, die Vorstellung, mit dem Gesicht nach unten feierlich lebendig begraben zu werden, wird meine Gesundheit sehr schnell verbessern und meinen Elan wieder aufleben lassen.«
Eadulf schaute sie mitfühlend an. »Der Nachteil liegt darin, daß es nicht mehr schneit und der Himmel klar ist, was bedeutet, daß strenger Frost herrscht. Es wird ein langer Weg, ganz gleich, in welche Richtung wir gehen.«
Fidelma war anscheinend mit den Gedanken woanders, denn sie fragte: »Du bist ganz sicher, daß du diese Frau gesehen hast, die sie für Gelgeis halten?«
»Absolut sicher«, antwortete Eadulf. »Sie war so wirklich und greifbar wie du und ich.«
»Dann muß das Offenkundige auch wahr sein. Es gibt eine wirkliche Frau in dieser Abtei. Hat man schon nach ihr gesucht?«
Eadulf lächelte nachsichtig und schüttelte den Kopf.
»Man ist ziemlich in Aufregung wegen der angeblichen Geister. Nur Bruder Higbald, der Apotheker, scheint normal zu sein und sieht die Sache einigermaßen rational.«
»Besteht denn keine Möglichkeit, die Angelegenheit zu untersuchen?« forschte Fidelma.
»Überhaupt keine. Mit Abt Cild ist nicht leicht umzugehen. Seine Machtstellung hier scheint absolut zu sein. Er hat sich bereits seine Meinung gebildet.«
»Ich habe keine Lust, ein Opfer seiner Furcht und Unwissenheit zu werden. Aber nach dem, was du sagst, Eadulf, verbirgt sich hier ein großes Geheimnis. Anscheinend hatte dein Freund Botulf einiges davon entdeckt, und deshalb mußte er sterben.«
»Bevor diese Geisterfurcht aufkam, wollte ich Garb in Tunstall aufsuchen, wo er sich meiner Meinung nach versteckt hält. Er oder sein Vater könnten vielleicht etwas zur Lösung beisteuern.«
Fidelma nickte beifällig. »Eine gute Art des Vorgehens, Eadulf, dem stimme ich zu. Ich werde wohl bald in der Lage sein, mit eigenen Nachforschungen zu beginnen.«
Eadulf hüstelte verlegen.
»Was ist, Eadulf? Hast du etwas anderes vor?«
»Ich will dir nur sagen, daß du, abgesehen von allen anderen Überlegungen, daran denken mußt, daß du im Land der Angelsachsen bist und daß unbeschadet der Achtung, die dir auf der Synode in Whitby erwiesen wurde, das Gesetz hier deine Autorität nicht anerkennt.«
»Das verstehe ich.«
»Ich meine damit, daß Frauen bei uns nicht dieselbe Stellung einnehmen wie in deinem Land, Fidelma. Sei vorsichtig, wenn du Leute befragen willst. Man hält es für unschicklich, wenn Frauen Autorität ausüben.«
Fidelma verzog das Gesicht. »Ich kann mich nicht verstellen.«
»Ich meine nur, daß du dich umsichtig verhalten solltest.«
»Wenn ich es nicht tue, wirst du mich sicher warnen.« Sie lächelte fröhlich.
»Nun, die Klugheit gebietet, daß wir uns vor allem aus der Reichweite des Abts Cild bringen sollten.«
»Aber du willst doch das Rätsel lösen, das den Tod deines Freundes umgibt?«
»Das will ich«, versicherte Eadulf mit ruhiger Entschlossenheit.
»Dann werden wir es auch tun. Wenn du mir nun noch einige deiner gräßlichen Aufgüsse gegen eine wunde Kehle und gegen Kopfschmerzen brauen kannst, werde ich mich vielleicht bald imstande fühlen, dich auf dem Weg nach Tunstall zu begleiten.«