Kapitel 1

»Mach bitte die Tür zu, Bruder. Der Wind treibt Schnee herein, und es ist hier drin schon kalt genug.«

Bruder Eadulf hatte voller Ärger durch die halboffene Tür des Gasthauses in die Dunkelheit hinausgestarrt und den tobenden Schneesturm betrachtet. Nun wandte er sich widerstrebend ab, schob die Tür zu und den hölzernen Riegel vor und schaute den kleinen, untersetzten Gastwirt an. Der hatte schütteres Haar und rote Wangen, die wie poliert glänzten. Er erwiderte mitleidig Eadulfs Blick.

»Bist du absolut sicher, daß es keine Mitfahrgelegenheit nach Aldreds Abtei gibt?« Eadulf hatte die Frage schon ein paarmal gestellt. Wie hieß der Gastwirt doch gleich? Cynric? Ja, das war sein Name.

Der Gastwirt stand da und wischte sich die Hände an der Lederschürze ab, die seine füllige Gestalt bedeckte.

»Wie ich dir schon sagte, Bruder, du und deine Gefährtin, ihr hattet Glück, daß ihr es bis hier geschafft habt, bevor der Sturm richtig losbrach. Wenn ihr diese Herberge verpaßt hättet, dann hättet ihr von hier bis zum Fluß Alde keinen Schutz mehr gefunden.«

»Das Schneetreiben war nicht annähernd so schlimm wie jetzt, als wir bei Mael’s Tun vom Fluß abbogen und hierher gingen«, bestätigte Eadulf und zog sich von der Tür ins wärmere Innere des Gasthauses zurück.

»Bis Mael’s Tun seid ihr also auf dem Fluß gereist?« fragte der Gastwirt, der sich wie alle Wirte für das Kommen und Gehen seiner Gäste interessierte.

»Ja. Wir gelangten von der Mündung des Deben auf einem Flußschiff dorthin. Erst nachdem wir von Mael’s Tun aufgebrochen waren, wurde der Wind so stark, und der Schnee fiel wie ein weißes Tuch. Man konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Da waren wir schon so weit von der Siedlung entfernt, daß wir nicht an eine Rückkehr denken konnten.«

»Nun, ihr hattet Glück, daß ihr auf meine kleine Herberge gestoßen seid«, wiederholte der Gastwirt. »In dem Moorland im Norden und Osten von hier sollte man nicht herumwandern, wenn man den Weg nicht genau sehen kann.«

»Aber die Abtei ist doch nur vier oder fünf Meilen von hier«, erklärte Bruder Eadulf. »Wir könnten leicht hingelangen, wenn wir nur ein Pferd hätten.«

»Wenn ihr ein Pferd hättet«, erwiderte der Gastwirt mit Betonung. »Ich besitze nur ein Maultier, Bruder, und das brauche ich. Und du müßtest schon Glück haben, wenn du die Abtei finden wolltest, selbst mit einem Reittier. Heute ist kein Mensch mehr auf der Landstraße. Sieh dir doch den Schnee da draußen an. Er bildet Wehen in den Senken und an den Hecken.

Der Wind kommt bitterkalt aus Osten. Kein vernünftiger Mensch begibt sich in solch einer Nacht auf die Landstraße.«

Bruder Eadulf schnalzte mit der Zunge vor Verärgerung. Der Gastwirt sah ihn wieder mitleidig an.

»Warum setzt du dich nicht ans Feuer? Deine Gefährtin kommt sicher gleich dazu, und ich bringe euch eine Erfrischung«, meinte er aufmunternd.

Bruder Eadulf zögerte.

»Morgen läßt der Sturm vielleicht nach, dann kommt man leichter zur Abtei durch«, versuchte ihn der Gastwirt zu überreden.

»Ich muß die Abtei heute abend noch erreichen, weil ...« Bruder Eadulf brach ab. Warum sollte er dem Gastwirt seine Gründe erklären? »Es ist wichtig, daß ich noch vor Mitternacht dort bin.«

»Na, Bruder, zu Fuß schaffst du das nie, selbst wenn du den Weg kennen würdest. Was ist denn so wichtig, daß es auf einen Tag ankommt?«

Bruder Eadulf zog grimmig die Brauen zusammen.

»Ich habe meine Gründe«, beharrte er.

Cynric schüttelte traurig den Kopf. »Ihr Ausländer seid doch alle gleich. Schnell, schnell, schnell. Na, heute abend wirst du wohl dem Sturm nachgeben müssen, dir bleibt keine andere Wahl.«

»Ich bin nicht fremd in diesem Land, Freund«, protestierte Eadulf, den die Bezeichnung »Ausländer« geärgert hatte. »Ich bin Eadulf von Seaxmund’s Ham und war der erbliche gerefa des Ortes, bevor ich die Tonsur des heiligen Petrus annahm.«

Der Gastwirt machte große Augen. Ein gerefa war ein Mann von Rang im Ort und hatte das Amt des Friedensrichters inne.

»Verzeih mir, Bruder. Ich wunderte mich schon, daß du unsere Sprache so gut sprichst, aber weil du in Begleitung einer irischen Nonne reist, dachte ich, du gehörtest auch dieser Nation an.«

Eadulf antwortete ausweichend. »Ich habe mich eine Weile im Ausland aufgehalten. Aber Deo adiuvan-te, mit Gottes Hilfe werde ich zur Christmesse wieder in meinem Heimatort Seaxmund’s Ham sein.«

»Es sind noch vier Tage bis dahin, Bruder. Aber warum willst du nach Aldreds Abtei? Warum wartest du nicht ab, bis der Sturm vorüber ist, und gehst dann geradewegs nach Seaxmund’s Ham, das doch nur ein kleines Stück jenseits davon liegt?«

»Weil ... weil ich meine Gründe dafür habe«, erwiderte Eadulf schroff.

Der Gastwirt verzog das Gesicht bei Eadulfs unruhiger Verschlossenheit. Er zuckte die Achseln und ging zum Feuer. Das Gasthaus war leer. Niemand sonst hatte es bis zu der verschneiten Kreuzung geschafft, an der es stand. Er nahm ein Scheit Holz vom Stapel, wiegte es kurz in der Hand und legte es aufs Feuer.

»Du wirst vieles verändert finden in diesem Land, Bruder«, meinte er und wandte sich wieder vom Kamin ab. »Du hast eigentlich schon Glück gehabt, daß du sicher bis hierher gekommen bist.«

»Ich hab schon mehr Schnee gesehen und bin durch Schneestürme gewandert, hinter denen sich der da« -Eadulf wies nach draußen - »verstecken kann. Was soll daran gefährlich sein?«

»Ich habe nicht in erster Linie das Wetter gemeint. Der Mensch ist oft grausamer als die Elemente, mein Freund. An vielen Orten sind die christlichen Gemeinschaften jetzt Überfällen ausgesetzt. Der neue Glaube wird heftig angefeindet.«

»Überfällen ausgesetzt? Von wem?« wollte Eadulf wissen. Widerwillig ließ er sich am Feuer nieder, während der Gastwirt einen Becher Apfelwein aus einem Holzfaß schöpfte.

»Von denen, die zur Verehrung Wotans zurückgekehrt sind, natürlich. Im Königreich der Ost-Sachsen tobt ein Bürgerkrieg zwischen König Sigehere und seinem eigenen Vetter, Prinz Sebbi. Sie kämpfen nicht nur um die Krone, sondern jeder für seinen Glauben. Du mußt doch durch das Land der Ost-Sachsen gekommen sein, um hierher zu gelangen? Hast du nichts von dem Konflikt bemerkt?«

Eadulf schüttelte den Kopf und nahm den Becher entgegen. Vorsichtig nippte er daran. Das Getränk war süß und stark.

»Ich wußte nicht, daß der Streit zu offenem Krieg geführt hat«, sagte er nach einem weiteren Schluck. »Sigehere und Sebbi wandelten beide fest auf dem Weg Christi, als ich dieses Königreich verließ, und es gab keine Feindschaft zwischen ihnen.«

»Wie du sagst, beide waren Christen. Aber als vor zwei Jahren die Gelbe Pest bei den Ost-Sachsen ausbrach, kam Sigehere zu der Überzeugung, das wäre die Strafe der alten Götter für die, die von ihnen abgefallen waren. Deshalb wandte er sich von dem neuen Glauben ab und stellte die heidnischen Tempel wieder her. Sein Vetter Sebbi blieb dem neuen Glauben treu. Beide haben Anhänger, die das Land verwüsten, die heiligen Stätten der jeweils anderen Religion zerstören und die Gottesdiener, die ihnen in die Hände fallen, umbringen, ob es nun die Christi oder die Wotans und der alten Götter sind.«

Eadulf war entsetzt. In Canterbury hatte er zwar von Unstimmigkeiten unter den Ost-Sachsen gehört, aber von Gewalttaten oder Krieg war nicht die Rede gewesen. Er erschauerte leicht bei dem Gedanken, daß er beinahe beschlossen hätte, von Kent durch das Königreich der Ost-Sachsen in sein Land des Südvolks zu reisen. Wie der Gastwirt annahm, wäre das die normale Reiseroute gewesen. Es war ein Zufall, daß er auf dem Wege von Canterbury nach Norden in dem kleinen Hafen Hwita’s Staple einen alten Bekannten getroffen hatte. Stuf war ein Schiffskapitän, der die Küsten der angelsächsischen Königreiche befuhr, und er überredete Eadulf, mit ihm den direkten Weg ins Land des Südvolks zu nehmen. Das hatte die Reise um mehrere Tage verkürzt. Stufs Schiff hatte Eadulf in der Stadt St. Felix’s Stowe abgesetzt, wo der heilige Missionar vor etwa zwanzig Jahren eine Abtei gegründet hatte. Dank dieser zufälligen Begegnung mit Stuf hatte Eadulf das unruhige Königreich der OstSachsen umgangen.

»Dann hatten wir also Glück, Gastwirt, daß wir über See aus dem Königreich Kent hergereist sind«, überlegte er laut.

»Ach, dann seid ihr also nicht durch das Land Sige-heres und Sebbis gekommen?« Cynrics verblüfftes Gesicht erhellte sich etwas. »Diese Wahl der Route war ein Segen für euch. Aber selbst hier im Lande des Südvolks gibt es Reibereien zwischen den Christen und den Heiden. Der Konflikt hat die Grenze übersprungen, und Sigehere schürt die Spannungen in der Hoffnung, bei uns Verbündete zu finden. Im Moorland treiben sich Geächtete herum, und außerdem haben wir natürlich mit Kriegsdrohungen unseres westlichen Nachbarn Mercia zu tun. Von dort gibt es ständig Überfälle.«

»Wann war Mercia mal keine Bedrohung für das Königreich der Ost-Angeln?« fragte Eadulf mit grimmigem Spott. Sein ganzes Leben lang konnte er sich an den ständigen Krieg zwischen East Anglia und Mercia erinnern.

»Erst kürzlich hat unser König Ealdwulf die Forderung des Königs von Mercia, East Anglia solle ihm Tribut zahlen, zurückgewiesen. Da Ealdwulfs Mutter Hereswith aus dem Königshaus von Northumbria stammt, rechnen wir auf ein Bündnis, das der Drohung aus Mercia entgegenwirkt. Wir haben gute Aussichten, wenn es König Ealdwulf gelingt zu verhindern, daß der innere Zwist zwischen Heiden und Christen hierher übergreift. Das ist es, wovor ich dich warne, Eadulf von Seaxmund’s Ham: Geh nicht davon aus, daß jeder dich und deine Gefährtin in Freundschaft begrüßt und eure Kleidung respektiert. Es gibt viel Bitterkeit in unserem Land. Ein paar Thane haben sogar gedroht, sich Sigehere von den Ost-Sachsen anzuschließen, wenn König Ealdwulf sich nicht vom Christentum lossagt. Es gärt im Lande, Bruder. Du hast dir eine gefährliche Zeit für deine Heimkehr ausgesucht.«

Bruder Eadulf seufzte tief. »Das sieht so aus.«

Cynric legte noch ein Scheit aufs Feuer. In dem Augenblick öffnete sich eine Tür an der entgegengesetzten Seite des Raumes, und eine hochgewachsene, rothaarige Nonne trat ein. Sie schenkte Eadulf ein rasches Lächeln.

»Meine Kleider sind jetzt trocken, und mir ist nicht mehr so kalt wie bei unserer Ankunft.« Sie sprach Irisch, wie es zwischen ihnen üblich war. »Ich hätte gern etwas Glühwein, um mich von innen zu erwärmen.«

Eadulf erwiderte erfreut ihr Lächeln und deutete auf einen Stuhl neben sich am Feuer.

»Ich glaube nicht, daß ein angelsächsisches Gasthaus Traubenwein zu bieten hat, aber es gibt guten Apfelwein oder Met, wenn dir der lieber ist.«

»Eher Apfelwein als Met, wenn es keinen Wein gibt«, antwortete sie.

Der Gastwirt hatte dem Gespräch geduldig, aber verständnislos zugehört.

»Ich glaube kaum, daß du Wein hast, Gastwirt?« fragte Eadulf.

»Du würdest dich irren, wenn du das glaubst, Bruder. Wo sollte ich denn Wein herhaben, und wenn ich welchen hätte, wer sollte ihn mir abkaufen? Die Weinladungen, die in Felix’s Stowe anlangen, gehen meistenteils an die Abtei oder an die anderen Klöster entlang der Küste. In Aldreds Abtei findest du Wein, aber hier nicht.«

»Dann bring meiner Gefährtin deinen besten Apfelwein.«

Der Gastwirt schaute die Nonne an und fragte Eadulf: »Deine Gefährtin spricht also kein Angelsächsisch?« Er war überrascht, als sich die Nonne umdrehte und ihn etwas stockend ansprach.

»Genug, um dem Gespräch ungefähr zu folgen, Gastwirt. Aber meine Kenntnis reicht nicht aus, um alle Nuancen deiner Sprache zu verstehen.«

Der Wirt wiegte nachdenklich den Kopf. »Ich habe gehört, die Iren kennen sich in allen Sprachen der Welt aus.«

»Das ist sehr schmeichelhaft für mein Volk. Unsere Missionare bemühen sich, mehrere Sprachen zu beherrschen, damit sie ihre Aufgabe erfüllen können: Latein, Griechisch, ein wenig Hebräisch und die Sprachen unserer Nachbarn. Aber unsere Fähigkeit, Sprachen zu sprechen, ist weder größer noch geringer als die anderer unter den gleichen Bedingungen und bei gleichen Gelegenheiten.«

Eadulf nickte anerkennend und ging über ein oder zwei leichte Verstöße gegen die Grammatik hinweg.

Der Gastwirt füllte einen weiteren Becher und reichte ihn Fidelma. Während sie genußvoll daran nippte, bestellte Eadulf eine Fleischpastete zum Abendbrot, die ihm Cynric als Spezialität des Hauses empfohlen hatte.

»Der Wirt meint, heute abend erreichen wir Al-dreds Abtei nicht mehr«, begann Eadulf, als Cynric gegangen war, um das Essen zuzubereiten.

»Das glaube ich auch«, erwiderte Fidelma ernst nach einem Blick auf das kleine, vom Schnee zugewehte Fenster. »Ich habe noch nie so gefroren und noch keinen Schnee gesehen, der so wie kleine Eisstücke wirkte.«

»Aber Bruder Botulf hat sich klar ausgedrückt. Ich soll heute vor Mitternacht in der Abtei sein. Das hat er in der Botschaft, die er mir nach Canterbury schickte, deutlich unterstrichen.«

»Er muß das Wetter berücksichtigen«, erklärte Fidelma achselzuckend. »Dieser Sturm nimmt dir die Sache völlig aus der Hand.«

»Trotzdem, warum hat er Datum und Uhrzeit so betont?«

»Du sagst, dieser ... Botulf? Ich kann eure angelsächsischen Namen immer noch schwer aussprechen. Du sagst, dieser Botulf ist dein guter Freund?«

Eadulf nickte rasch. »Wir sind zusammen aufgewachsen. Er muß wirklich in Not sein, sonst hätte er mir nicht solch eine Botschaft geschickt.«

»Aber darin hat er nichts erklärt. Er muß sehr auf deine Freundschaft bauen, wenn er erwartet, daß du Canterbury sofort verläßt und hierher stürmst.«

»Er konnte sich denken, daß ich, wenn ich schon in Canterbury bin, danach in meine Heimat nach Seax-mund’s Ham reisen würde. Er konnte davon ausgehen, daß mein Weg an seiner Tür vorbeiführt«, verteidigte sich Eadulf. »Mein Heimatort liegt nur sechs Meilen jenseits der Abtei.«

»Ein merkwürdiger Freund, mehr kann ich dazu nicht sagen.« Fidelma seufzte. »Ist er der Abt dieser Abtei?«

Eadulf schüttelte den Kopf. »Er ist der Verwalter. In Canterbury sagte man mir, jemand namens Cild sei der Abt, aber von dem habe ich noch nie etwas gehört.«

Cynric kam wieder herein und stellte eine heiße Fleischpastete auf einen nahen Tisch.

»Wenn ihr euch an den Tisch setzen wollt, bringe ich euch noch mehr Apfelwein, mit dem ihr das Essen hinunterspülen könnt.«

Die Pastete sah gut aus und roch gut, und bald war das Heulen des Sturmes da draußen vergessen, während sie das Mahl genossen. Eadulf erläuterte einiges von dem, was ihm Cynric über die Auseinandersetzungen zwischen Christen und Heiden berichtet hatte. Schwester Fidelma sah ihren Gefährten mitleidig an.

»Es muß schwer sein für dich, so etwas zu hören. Aber es wird doch sicher aufgewogen durch die Freude, deine Heimat wiederzusehen.«

»Es ist lange her, seit ich zuletzt in Seaxmund’s Ham war. Ich freue mich wirklich darauf, es wiederzusehen.« Er schaute sie besorgt an. »Es tut mir leid, wenn ich eigensüchtig scheine, Fidelma.«

Ihre Augen weiteten sich für einen Moment. Sie meinte, sie verhielte sich eigensüchtig. Sie merkte plötzlich, wie sehr sie ihr Heim in Cashel vermißte. Das Land des Südvolks war düster, kalt und unwirtlich. Als sie sich bereit erklärte, Eadulf nach Canterbury zu begleiten, und ihr Heimatland verließ, war sie nicht auf den Gedanken gekommen, daß er noch weiter in sein Geburtsland reisen wollte. Aber das, so wurde ihr nun klar, war eine törichte und egozentrische Annahme ihrerseits gewesen. Es war nur natürlich, daß Eadulf nach seinem Aufenthalt in Rom und fast einem Jahr im Königreich ihres Bruders in Mu-man nun einige Zeit in seiner Heimat verbringen wollte.

Sie bemühte sich, die Befürchtungen, die sie überfielen, zu verscheuchen. Sie hoffte, er würde nicht allzu lange Zeit in diesem Ort ... Seaxmund’s Ham ... bleiben. Dann fühlte sie sich schuldig wegen dieses selbstsüchtigen Gedankens. Warum erwartete sie, daß er in ihr Land zurückkehren wollte? Doch ihr fehlte ihre Heimat. Sie war genug gereist. Sie wollte zur Ruhe kommen.

Sie merkte, daß Eadulf sie über den Tisch hinweg anlächelte.

»Tut es dir nicht leid?« fragte er.

Sie spürte, wie sich ihre Wangen röteten.

»Was soll mir leid tun?« fragte sie zurück, obgleich sie genau wußte, was er meinte.

»Daß du mitgekommen bist in mein Land?«

»Es tut mir nicht leid, daß ich mit dir zusammen bin«, formulierte Fidelma ihre Antwort vorsichtig.

Eadulf betrachtete sie forschend. Er lächelte, doch sie sah, wie ein Schatten über seine Augen huschte. Bevor er noch etwas sagen konnte, faßte sie rasch seine Hand.

»Wir wollen für den Augenblick leben, Eadulf.« Ihr Ton war ernst. »Wir haben uns geeinigt, daß wir den alten Brauch meines Volkes befolgen und ein Jahr und einen Tag zusammenbleiben wollen. Ich habe zugestimmt, so lange deine ben charrthach zu sein. Damit mußt du dich zufriedengeben. Alles, was länger gelten soll, erfordert viel juristische Überlegung.«

Eadulf wußte, daß das Volk der fünf Königreiche von Eireann ein sehr kompliziertes Rechtssystem besaß, das mehrere Definitionen einer richtigen Ehe enthielt. Fidelma hatte ihm auseinandergesetzt, daß es nach irischem Recht neun unterschiedliche Typen von Verbindung gab. Der Ausdruck, den sie gebraucht hatte, ben charrthach, hieß wörtlich »Geliebte«. Eine ben charrthach war noch nicht eine gesetzlich gebundene Ehefrau, aber eine Frau, deren Stand und Rechte durch das Gesetz des Cdin Ldnamnus anerkannt waren. Es handelte sich um eine Ehe auf Probe, die ein Jahr und einen Tag dauerte. Glückte sie nicht, konnten beide Teile wieder getrennte Wege gehen, ohne sich eine Strafe oder einen Tadel zuzuziehen.

Fidelma hatte sich nicht dafür entschieden, weil sie Mönch und Nonne waren. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, daß dies ein Hindernis für eine Heirat sein könnte. Kein Mönch und keine Nonne, ob sie nun der Lebensweise Colmcilles oder den Regeln Roms oder irgendeiner anderen christlichen Kirche folgten, sahen das Zölibat als eine notwendige Bedingung für einen religiösen Beruf an. Es gab allerdings eine wachsende Minderheit, die die Ehen von Geistlichen verurteilte und das Zölibat als den wahren Weg derer pries, die sich dem neuen Glauben widmeten. Mehr Sorge bereitete es Fidelma, daß eine Heirat mit Eadulf als eine unstandesgemäße Ehe gelten könnte -falls ihr Bruder, König Colgü von Muman, überhaupt seine Zustimmung dazu gab. Eine solche Ehe besaß zwar rechtliche Gültigkeit, bedeutete aber, daß Eadulf, als ein Ausländer ohne Grundbesitz in Muman und ohne den fürstlichen Rang Fidelmas, nicht die gleichen Besitzrechte genießen würde wie seine Ehefrau. Da sie Eadulfs Charakter kannte, meinte Fidelma , daß es nicht unbedingt eine Aussicht auf eine glückliche Ehe böte, wenn Eadulf sich nicht rechtlich mit ihr gleichgestellt fühlen würde.

Es gab natürlich auch andere Formen der Ehe. Nach dem Gesetz konnte ein Mann mit einer Frau in ihrem Hause zusammen wohnen, wenn ihre Familie das erlaubte, oder sie konnte offen mit ihm davongehen ohne die Zustimmung ihrer Familie und doch einige Rechte behalten. Fidelmas Problem bestand darin, daß sie inzwischen zwar ernsthaft über eine Heirat mit Eadulf nachdachte, aber nicht wußte, welchen Weg sie einschlagen sollte. Außerdem war sie davon ausgegangen, daß ihre gemeinsame Zukunft in Cashel liegen würde. Die letzten Wochen mit Eadulf in den angelsächsischen Königreichen hatten Zweifel bei ihr geweckt.

Eadulf unterbrach ihre Gedankengänge.

»Habe ich denn gesagt, ich wäre nicht zufrieden, Fidelma?« Eadulf lächelte etwas gezwungen, als er ihre wechselnde Miene bemerkte.

Plötzlich flog die Tür krachend auf, und einen Moment schien es, als zeichne sich eine seltsame Gestalt aus der Unterwelt gegen den wirbelnden Schnee ab, der nun hereintrieb. Ein eisiger Hauch drohte die Laternen auszublasen, die den Hauptraum des Gasthauses erhellten. Die Gestalt, die wie ein riesiger zottiger Bär aussah, drehte sich um und mußte sich gegen die Tür stemmen, um sie gegen den Druck des böigen Windes zuzuschieben. Dann wandte sie sich wieder um und schüttelte sich, so daß Wolken von Schnee aus den dicken Pelzen stiebten, die ihren Körper von Kopf bis Fuß einhüllten. Darauf wühlte sich ein Arm aus den Pelzen heraus und wickelte einen Teil der Kopfbedeckung ab. Darunter kam ein bärtiges Gesicht zum Vorschein.

»Met, Cynric! Met, um der Liebe der Mutter Balders willen!«

Der Mann stapfte weiter in den Gastraum hinein und verstreute noch mehr Schnee aus seinen Pelzen. Seine äußerste Hülle ließ er einfach auf den Boden fallen. Ein Lederwams bedeckte seinen stämmigen Körper, und um seine riesigen Waden hatte er Sackleinen gewickelt und mit Lederriemen festgebunden.

»Mul!« rief der Wirt erstaunt aus, als er den Neuankömmling erkannte. »Was machst du denn jetzt draußen bei diesem scheußlichen Wetter?«

Der Mann, den er Mul nannte, war von mittlerem Alter, breitschultrig, mit flachsblondem Haar und wettergegerbter Haut. Sein Körperbau war der eines Bauern oder Schmieds. Seine muskulösen Schultern und Arme schienen das Wams fast zu sprengen. Er hatte ein grobes, rötliches Gesicht mit einem buschigen Bart. Es sah aus, als wäre es zerschlagen worden und nicht richtig geheilt. Seine Lippen waren ständig geöffnet und ließen Lücken in den gelben Zähnen erkennen. Die durchdringenden hellen Augen standen dicht an seiner Hakennase, was ihm einen Ausdruck ewiger Mißbilligung verlieh.

»Ich bin auf dem Heimweg«, knurrte er. »Wo sollte denn ein Mensch in dieser Nacht sonst sein?« Plötzlich erblickte er Fidelma und Eadulf an der anderen Seite des Raumes und neigte den Kopf zum Gruß.

»Möge Wotans Speer eure Feinde durchbohren!« dröhnte er nach der alten Formel.

»Deus vobiscum«, antwortete Eadulf feierlich mit leichtem Vorwurf in der Stimme.

Der Mann, den der Wirt mit Mul angeredet hatte, riß Cynric einen Becher Met aus der Hand, ließ sich auf einen Stuhl nahe am Feuer fallen und trank ihn mit einem mächtigen Schluck halb leer. Dann rülpste er laut und zufrieden.

Fidelma sah etwas entsetzt aus, sagte aber nichts.

»Gott schaue auf uns herab«, murmelte Eadulf, dessen Miene seine Meinung über diesen Mangel an Manieren verriet.

»Christen, was?« brummte der Neuankömmling und betrachtete sie neugierig. »Na, ich bin ein alter Hund und lerne keine neuen Kunststücke mehr. Die Götter, die meinen Vater schützten, sind auch gut genug für mich. Mögen alle und jede Götter die Reisenden in dieser Nacht schützen.«

Der Wirt setzte ihm einen neuen Becher Met vor.

»Soll ich dir ein Bett zurechtmachen, Mul?«

Der Riese schüttelte heftig den Kopf. Er ähnelte dabei einem großen zottigen Hund. Haar und Bart schienen sich zu einer wirren Mähne zu vereinen.

»Bei Thunors Hammer, nein!«

»Aber dein Hof ist doch mindestens sechs Meilen von hier!« rief der Wirt. »Das schaffst du nie bei diesem Sturm.«

»Das schaff ich«, antwortete der stämmige Bauer mit grimmiger Zuversicht. »Von dem bißchen Schnee laß ich mich nicht an der Heimfahrt hindern. Außerdem ist heute die Mutternacht, und ich will Frig und den Asinnen zur richtigen Stunde einen Becher Met darbringen. Ich bin noch vor Mitternacht auf meinem Hof, Freund Cynric. Schließlich muß ich ja auch meine Tiere versorgen. Wenn ich’s nicht mache, gehen sie leer aus. Ich war den ganzen Tag unterwegs, um Käse auf dem Markt in Butta’s Leah zu verkaufen.«

Eadulf bemerkte Fidelmas verständnisloses Gesicht und erklärte ihr flüsternd: »Heute ist Wintersonnenwende, der Beginn des alten heidnischen Julfests, das zwölf Tage dauert. Mit dem Fest feiern wir die Göttin Frig und die Asinnen, die Urmütter unserer Rasse. Der Höhepunkt des Fests ist Wotan geweiht.«

Fidelma sah noch ebenso verblüfft aus wie zuvor.

»Es ist die Zeit der Dunkelheit, und wir müssen den Göttern und Göttinnen Geschenke darbringen, um die Wiedergeburt der Sonne zu bewirken.«

Fidelmas mißbilligende Miene entging ihm, denn inzwischen betrachtete er den Neuankömmling mit einigem Interesse.

»Darf ich fragen, Freund, in welcher Richtung dein Hof liegt? Ich hörte, wie der Wirt dich Mul nannte. Es gab einen Mul, der den Hof Frig’s Tun bewirtschaftete, bevor ich auf Reisen ging. Bist du das?«

Der stämmige Bauer sah Eadulf scharf an und runzelte die Stirn.

»Wer bist du denn, Christ?« wollte er wissen.

»Ich bin Eadulf von Seaxmund’s Ham, wo ich gere-fa war, bevor ich Mönch wurde.«

»Eadulf? Eadulf von Seaxmund’s Ham? Deine Familie kenne ich. Ich habe auch gehört, daß einer von ihnen sich zum neuen Glauben bekehrt hat. Du hast recht. Ich bin Mul von Frig’s Tun, und wie ich Cynric schon sagte, habe ich vor, heute nacht in meinem eigenen Bett zu schlafen.«

»Aber die Straßen sind doch unpassierbar«, warf der Wirt Cynric ein.

Der Bauer lachte rauh. »Unpassierbar für Leute, die keinen Mut besitzen. Noch einen Becher Met, Cynric, dann mache ich mich auf den Weg.«

Fidelma klopfte Eadulf auf den Arm.

»»Virtutis fortuna comes«, flüsterte sie auf lateinisch. Das Glück war wirklich der Begleiter des Mutes, aber was sie meinte, und so verstand es Eadulf auch, war, daß man die Gelegenheit beim Schopfe packen mußte.

Eadulf bemühte sich, die Frage so zu stellen, daß Mul sie günstig aufnahm.

»Dein Weg führt dich doch in die Richtung von Aldreds Abtei, nicht wahr?«

Mul verhielt mit dem Becher an den Lippen und sah Eadulf forschend an.

»Und wenn?« konterte er.

»Meine Gefährtin und ich, wir möchten die Abtei unbedingt noch heute abend erreichen. Falls du Platz hast auf deinem Wagen, würde ich dich gut dafür bezahlen, wenn du am Tor der Abtei vorbeifährst.«

Cynric, der Wirt, fand das gar nicht gut.

»Ich rate euch davon ab, weiterzufahren. Es ist zu gefährlich. So einen Schneesturm haben wir die letzten zehn Jahre nicht erlebt. Dieser bitterkalte Wind treibt den trockenen Schnee, türmt ihn hinter Mauern und Hecken und Gräben auf und füllt die Senken damit. Ihr könnt leicht den Weg verfehlen und in einen See oder überfrorenen Fluß stürzen und euch dabei ein Bein brechen oder euch noch schlimmer verletzen. Und dann ist da noch das Moor.«

Mul leerte seinen Becher und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Nachdenklich kraulte er einen Moment seinen dichten, groben Bart. Schließlich seufzte er und wandte sich an den Wirt.

»Du bist ein altes Weib, Cynric. Ich kenne die Wege wie die Linien auf meiner Handfläche.« Er schaute Eadulf an. »Mein Weg führt dicht am Tor der Abtei vorbei. Mögen die Götter diesen Sitz des Übels verfluchen. Wenn du bezahlen kannst, nehme ich euch mit. Aber ich habe nur einen unbequemen Bauernwagen mit einem Gespann Maultiere davor.«

Eadulf wechselte einen raschen Blick mit Fidelma.

»Ich höre es nicht gern, daß du ein Haus des christlichen Glaubens einen Ort des Übels nennst, Freund, und daß du falsche Götter anrufst, um es zu verfluchen.«

Mul grinste säuerlich. Das machte ihn noch häßlicher als sonst.

»Es ist klar, daß du Aldreds Abtei nicht kennst und nicht weißt, was heutzutage daraus geworden ist. Aber deine Meinung geht mich nichts an.«

Eadulf zögerte und fragte dann: »An was für einen Fuhrlohn hast du gedacht?«

»Wenn ihr euch entschließt, bei mir mitzufahren, werdet ihr mir wohl einen Penny für meine Mühe gönnen.«

Eadulf schaute Fidelma an, die rasch nickte.

»Einverstanden, mein heidnischer Freund«, erklärte Eadulf befriedigt.

Der Bauer stand auf und griff sich seinen Pelzumhang.

»Wann könnt ihr fertig sein?« wollte er wissen.

»Wir sind fertig.«

»Dann kümmere ich mich um mein Gefährt. Kommt zu mir nach draußen, wenn ihr soweit seid.«

Sie zogen sich schon ihre Wollmäntel an, als der Bauer durch die Tür verschwand.

Cynric sah ihnen besorgt zu. »Überlegt euch das bitte noch mal. Der Weg ist gefährlich. Nur ein Blödmann wie Mul wagt so eine Fahrt. Hier in der Gegend nennen ihn alle den verrückten Mul. Es ist viel sicherer, wenn ihr wartet, ob sich der Sturm morgen legt.«

»Und wenn er es nicht tut?« Eadulf lächelte und drückte dem Gastwirt ein paar Münzen für die Mahlzeit in die Hand. »Den Versuch wollen wir wenigstens heute abend noch machen.«

»Es ist schließlich euer Leben, das ihr riskiert«, meinte der Wirt achselzuckend und gab sich geschlagen.

Draußen saß Mul bereits auf seinem Wagen, vor dem zwei geduldige Maultiere an der Deichsel standen und den Kopf leicht gegen den eisigen, heulenden Wind gesenkt hielten. Die Winternacht war hereingebrochen, doch der Bauer hatte an jede Seite seines Wagens eine Sturmlaterne gehängt, und im Widerschein ihres Lichts auf dem Schnee konnte man etwas sehen. Die Windstöße häuften große Schneewehen auf. Eadulf half Fidelma auf den Wagen, warf ihre Reisetaschen hinterher und kletterte dann selbst hinauf.

»Setzt euch dort hin«, schrie ihnen Mul durch das Jaulen des Windes zu und deutete auf den geschützten Platz hinter dem Kutschbock. »Eure Wollmäntel schützen euch kaum vor der Kälte. Da liegen ein paar Pelze. Wickelt euch ein, dann ist es nicht so schlimm.«

Cynric war vor die Tür getreten. Er hob zum Abschied die Hand.

»Ihr seid alle verrückt«, rief er ihnen nach, und das Sausen des Schneesturms verzerrte seine Worte. »Aber wenn ihr unbedingt reisen wollt, so sei Gott mit euch auf allen euren Wegen.«

»Gott sei mit dir, Wirt«, antwortete Eadulf ernst, bevor er neben Fidelma unter die Pelze schlüpfte. Dann hörten sie Mul mit den Leinen klatschen und rufen, und mit einem Ruck setzte sich der Wagen in Bewegung.

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