Kapitel 14

Während der Nacht war der Schneesturm weitergezogen. Der Morgen war zwar noch eisig kalt, doch klar mit einem pastellblauen Himmel und einer schwachen, fast weißen Sonne. Fidelma und Eadulf hatten die Nacht in der behaglichen Wärme von Muls Bauernhaus verbracht. Sie hatten mit Mul zusammen gefrühstückt, doch dann gewartet, bis er außer Hörweite war, ehe sie ihre Gebete an den heiligen Stephanus richteten, denn es war sein Festtag - der Festtag des ersten Märtyrers des neuen Glaubens. Nachdem sie Mul die versprochene Münze für die Übernachtung gegeben hatten, waren sie zu ihrer weiteren Reise nach Norden aufgebrochen. Die Wege lagen voller Schneewehen, deren körnige Flocken vom Sturm an Hecken und Gräben aufgetürmt worden waren. Die Reise würde beschwerlich werden.

Doch Fidelma hatte gut geschlafen und fühlte sich viel kräftiger als zuvor. Das Fieber, unter dem sie erneut gelitten hatte, war im Abklingen, und sie empfand deutliche Erleichterung.

Muls rauchender Schornstein war kaum hinter einem Hügel außer Sicht gekommen, als Eadulf sich zu Fidelma umdrehte. Er hatte mehrere Fragen, die er in dem engen Bauernhaus, in dem Mul jedes geflüsterte Wort hören würde, nicht hatte stellen können.

»Was meintest du mit >ein solches Blutvergießen verhüten, wie es dieses Land noch nie gesehen hat

Fidelmas Miene war ernst.

»Warum gebe ich mir solche Mühe, zu verhindern, daß dieses rituelle Fasten stattfindet, Eadulf?«

»Um den Tod Gadras zu vermeiden ... und die Wahrheit über das Sterben von Gelgeis und Botulf herauszubekommen . « Eadulf dachte, die Gründe wären doch wohl offenkundig.

»Eins hast du anscheinend übersehen oder vielleicht auch nicht verstanden über das troscud oder das rituelle Fasten. Gadra ist Fürst von Maigh Eo. Er stammt von den Königen der Ui Briüin von Connacht ab, und die wiederum sind mit den Großkönigen der Ui Neill verwandt. Wenn Gadra stirbt, was wahrscheinlich ist, und Cild seine Familie nicht entschädigt, was er wahrscheinlich nicht tut, löst das eine Todfehde aus, die die Ui Briüin einschließt und vielleicht auch die Ui Neill und die sich von Cild auf das ganze Königreich der Ost-Angeln ausdehnt und an der sich möglicherweise bald jedes Königreich beider Inseln auf der einen oder anderen Seite beteiligt. Aus diesem Zwischenfall könnte ein schrecklicher Krieg entstehen.«

Eadulf war entsetzt. »Glaubst du wirklich, daß es dazu kommen könnte?«

Ihre Miene zeigte ihm, wie ernst sie es meinte.

»Sobald ich erfuhr, daß Gadra zu den Ui Briüin gehört, wußte ich, daß wir es nicht mit einem kleinen Fürsten zu tun haben, sondern mit einem, der über mächtige Beziehungen verfügt. Das treibt mich an, eine Lösung für diesen Fall zu finden.« Dann fügte sie hinzu: »Welche Gedanken bewegten dich, als Mul andeutete, daß Aldhere oder Cild ein Bündnis mit Nachbarkönigen zum Ziel eigenen Machtgewinns eingegangen sein könnten?«

Eadulf verzog das Gesicht. Er hatte gedacht, sie hätte seine Besorgnis nicht bemerkt, als Mul von diesen Gerüchten berichtete. Nachdem sie Muls Hof verlassen hatten, war ihm das Thema beinahe entfallen.

»Ich dachte nur, daß Cild früher einmal ein Kriegsherr in diesem Lande war. Ich erinnerte mich, wie eigenartig es war, als er an dem Morgen nach unserer Ankunft mit einigen seiner Brüder ausritt, um nach Aldhere zu suchen, und sie eher wie Krieger in Schlachtordnung als wie Mönche wirkten.«

»Ich weiß, daß du mir davon erzählt hast«, erklärte Fidelma. »Doch wie du sagtest, er war früher Krieger, und manche Charakterzüge behalten Krieger für immer.«

»Das habe ich mir auch gedacht.«

»Aber dir macht noch etwas anderes Sorgen?«

»Es macht mir nicht Sorgen, aber es beunruhigt mich. Auf unserem Weg aus der Abtei heraus kamen wir an einem Raum vorbei, der voller Kriegsausrüstung lag. Erinnerst du dich?«

Fidelma hatte es vergessen.

»Ich gebe zu, mir war so schlecht, daß ich es nicht wahrgenommen habe. Vielleicht pflegt Cild dieses Andenken an sein vergangenes Leben.«

»Wenn es wirklich ein vergangenes ist. Was Mul sagte, läßt mich vermuten, daß es das nicht ist.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Vielleicht sind die Gerüchte wahr. Cild könnte sehr wohl mit Wulfhere von Mercia verbündet sein und an einer Verschwörung beteiligt, die das Südvolk an dessen Königreich verraten will.«

»Warum gerade Mercia?«

»Weil die Schilde in jenem Raum alle das Kriegszeichen der Iclingas trugen. Ich wollte dich eben darauf hinweisen, als wir Botulfs Tasche fanden, und bei der Entdeckung habe ich es vergessen.«

»Die Iclingas? Wer sind denn die?«

»Die Iclingas sind die Könige von Mercia.«

Sie ritten eine Weile schweigend weiter und ließen ihre Ponys sich selbst den Weg durch die Schneewehen suchen, denn für diese Aufgabe waren die natürlichen Instinkte der Tiere viel besser geeignet als ihre Reiter.

»In einer Stunde sollten wir Aldheres Lager erreichen«, brach Eadulf schließlich das Schweigen.

»Ich freue mich darauf, ihn kennenzulernen, nachdem du und Mul mir seinen Charakter so unterschiedlich geschildert habt.«

Eadulf schnaubte empört. »Was weiß Mul denn schon? Wie gesagt, der wiederholt doch bloß das Geschwätz der Leute. Mir gefällt Aldhere einfach besser als sein finsterer Bruder Cild.«

»Geschwätz kann manchmal auch Wahres enthalten, nicht an Tatsachen, aber an Einstellungen. Ich habe viele rücksichtslose Männer und Frauen gekannt, die die sanftesten Gemüter hatten, bis jemand ihre Pläne durchkreuzte. Oft lernt man etwas dazu, wenn man sich Geschwätz anhört.«

Eadulf zog ein mißbilligendes Gesicht.

»Du zitierst doch gern Publilius Syrus«, warf er ihr vor. »Hast du ihn nicht einmal, und zwar positiv, zitiert, daß es falsch sei, sich mit Geschwätz abzugeben?«

Fidelma lächelte. »Du hast zwar Publilius Syrus nicht genau wörtlich zitiert, Eadulf, aber dem Sinn nach wahrscheinlich richtig. Was ich aber meinte, war, daß man dem Geschwätz Einstellungen entnehmen kann, nicht Tatsachen. In diesem Fall liegt die Bedeutung des Geschwätzes im Kontext.«

»Und bist du schon zu irgendwelchen Folgerungen gelangt?« fragte Eadulf. Er konnte den ironischen Unterton nicht ganz verbergen.

Fidelmas Miene wurde ernst.

»Ich gestehe dir gern, Eadulf, daß nichts, was ich bisher erfahren habe, mir Lösungen zu erkennen gibt. Die Sache ist äußerst knifflig. Mit Sicherheit wissen wir nur von einem Verbrechen, dem Tod deines Freundes Botulf. Wir haben von einem möglichen anderen Verbrechen, begangen an der Ehefrau des Abts, gehört, aber war es wirklich ein Verbrechen? Das wissen wir nicht, denn Beschuldigungen sind keine Beweise, wie du in Tunstall klarzustellen versucht hast. Wie sollen wir weiter vorgehen? Es gibt keine Zeugen für diese Geschehnisse, nur Gerüchte und Geschwätz.«

»Es ist noch ein anderer Punkt zu berücksichtigen.«

Fidelma sah ihn an, überrascht von seinem traurigen Tonfall. »Welcher ist das?«

»Wenn wir auch durch ein Wunder dahinterkommen, was in Wahrheit geschieht, auf welchem Wege können wir es offenlegen und die Beteiligten zu einer schiedlichen Einigung zwingen? Du besitzt in diesem Land keine juristische Vollmacht. In Dyfed hat dir der walisische König eine solche Vollmacht erteilt. Aber hier bei den Angeln und Sachsen hast du keine. Du bist ohne jede Machtbefugnis.«

»Das stimmt«, pflichtete sie ihm ernst bei. »Doch dies ist dein Land, Eadulf. Es ist dein Volk. Du bist hier ein gerefa

Eadulf schüttelte den Kopf.

»Ich war hier ein gerefa und habe die Gesetze der Wuffingas angewendet. Sobald ich Mönch wurde, erlosch meine Vollmacht als gerefa.«

Fidelma kniff leicht die Augen zusammen.

»Willst du damit sagen, daß ein Mönch in diesem Land nicht zugleich Anwalt sein kann?«

Eadulf nickte.

»Es ist reine Ironie, wenn Mul mich mit gerefa anredet. Das tut er, weil er als Nicht-Christ sich weigert, mich Bruder zu nennen. Falls du es bemerkt hast, er sagt zu dir auch nicht Schwester. Ich habe viele Mönche und Nonnen getroffen, die wegen meiner juristischen Kenntnisse meinen Rat suchten, aber in Wirklichkeit besitze ich in diesem Königreich keine Vollmacht mehr, und die Leute wissen das auch.«

Fidelma überlegte einen Moment. Irgendwoher mußte sie das gewußt haben. Man hatte es ihr wohl erklärt, als sie Eadulf auf der großen Synode von Whitby zum erstenmal begegnete. In der letzten Zeit hatte sie ihrem Volk gegenüber seinen juristischen Rang betont, da er ihm die moralische Berechtigung gab, ihr bei ihren eigenen Nachforschungen zu helfen.

»Nun, dann müssen wir einen anderen Weg finden, Einfluß auf die Dinge zu nehmen«, meinte sie. »Ich glaube, Gadra und Garb werden darauf eingehen, wenn ich ihnen beweisen kann, daß sie das rituelle Fasten nicht zu beginnen brauchen.«

»Aber in der Zwischenzeit«, seufzte Eadulf, »müssen wir zusehen, daß wir nicht in Abt Cilds Fänge geraten. Ich frage mich, wie er es sich leisten kann, drei Goldstücke für unsere Gefangennahme auszusetzen? Das ist eine hohe Summe, und sie wird zweifellos viele Leute in Versuchung führen.«

Daran zweifelte Fidelma nicht.

»Noch wichtiger ist die Frage, warum ihm soviel daran gelegen ist, uns gefangenzunehmen und zum Schweigen zu bringen?« überlegte sie. »Er muß doch ebensogut wie wir wissen, daß wir ihm nichts nachweisen können ...«

»Es sei denn, wir übersehen das Nächstliegende«, brummte Eadulf.

Fidelma betrachtete ihn nachdenklich. Sie bemerkte die zusammengezogenen Brauen, die verkniffenen Lippen, als bemühe er sich, einen vergessenen Hinweis zurückzurufen, den er erhalten hatte, als sie noch im Fieber lag.

»Du weißt, daß das Kruzifix, das Mul fand, nicht zu solchen gehört, wie sie Mönche normalerweise tragen?« fragte sie nach einer Weile.

Eadulf nickte.

»Es wurde für eine reiche Persönlichkeit hergestellt, sicherlich für eine Frau«, antwortete er. »Es scheint logisch, daß es Gelgeis gehörte.«

»Logisch wohl, aber sicher ist es nicht, auch nicht der Grund, weshalb es auf Muls Hof gelangte.«

Wieder trat Schweigen ein, bis es Fidelma erneut brach: »Du hast doch mit Cild gesprochen. Sag, ist er wirklich geistig gestört? Und wenn, hast du die Ursache erkannt?«

Eadulf zuckte die Achseln. »Ich würde sagen, Cild ist gestört bis zum Irrsinn. Was zu diesem Wahn geführt hat? Das weiß ich nicht.«

»Der Tod seiner Frau und die seltsamen Erscheinungen in der Abtei?«

Zu ihrer Überraschung schüttelte Eadulf den Kopf.

»Ich glaube, es steckt mehr dahinter. Aldhere behauptet, sein Bruder sei von Kindheit an gestört und grausam gewesen und aus diesem Grunde enterbt worden. Vielleicht wurde er böse geboren.«

Fidelma verzog das Gesicht.

»Kinder werden nicht böse geboren, Eadulf. Gewöhnlich werden sie dazu gemacht.«

Sie waren bisher durch einen Wald geritten, der zumeist aus kahlen, dünnen Bäumen bestand, mit einigen Gruppen von immergrünen Bäumen dazwischen. Es war eine flache Gegend nahe der See, so nahe, daß sie das ferne Rauschen der anlaufenden und wieder abebbenden Wellen hören konnten. Jetzt mischte sich ein anderes Geräusch darein.

Fidelma zügelte ihr Pony und legte Eadulf die Hand auf den Arm. Er blickte aus seinem Nachgrübeln auf und hielt ebenfalls an.

Es war das Knallen einer Peitsche gewesen, das sie gewarnt hatte, und nun wiederholte es sich zweimal schnell hintereinander. Sie vernahmen ein leises Rollen und das Klirren von Metall. Dann war ein Ruf zu hören.

Fidelma spähte in die Richtung dieser Geräusche. Sie kamen von dem Weg vor ihnen, der sich im Wald außer Sicht schlängelte.

Eadulf suchte die Umgebung nach einem möglichen Versteck ab.

Er berührte ihren Arm und zeigte zwischen den hohen Eichen am Rande des Weges hindurch auf ein Gehölz von immergrünen Bäumen und Büschen, vielleicht Stechpalmen und Tüpfelfarn, da war er sich nicht sicher. Er wußte nur, das war in dieser Wildnis ihre einzige Hoffnung auf Deckung. Ihnen blieb keine Zeit, lange zu überlegen. Sie lenkten ihre Ponys rasch vom Weg ab in den dünnen Schutz, den die immergrünen Bäume boten. Kaum waren sie dahinter, sprangen beide ab und hielten die Ponys fest am Zügel. Erst dann fiel es Eadulf ein, daß ihre Spuren im Schnee wohl deutlich zu sehen wären.

Doch nun war es zu spät. Um die Wegbiegung jagte eine leichte Kutsche heran, von zwei kräftigen Pferden gezogen. Sie war reich geschmückt und verziert. Das Wappen an der Tür konnten sie freilich nicht erkennen. Vorhänge am Fenster der Kutsche bauschten sich im Fahrtwind. Sicher saß eine hochstehende Persönlichkeit darin. Was sie beide überraschte, war jedoch der Kutscher.

Es war ein junger Mann, der offensichtlich das Lenken einer zweispännigen Kutsche gewohnt war. Er hielt die Zügel mühelos mit einer Hand, knallte mit der anderen Hand mit der Peitsche und ermunterte die Tiere mit Rufen zu ihrer rasenden Fahrt durch den Wald. Das Erstaunliche an ihm war seine Kleidung: eine Mönchskutte.

Eine Pferdelänge hinter der Kutsche folgten vier berittene Krieger, jeder mit einer Lanze, an der ein viereckiges Stück Seide flatterte.

Alle waren gut gekleidet und wohl bewaffnet; sie bildeten offensichtlich die Eskorte der Kutsche.

Alle hatten soviel Schwung, daß niemand die Stelle auffiel, an der Eadulf und Fidelma vom Weg abgebogen waren.

Kutsche und Begleitung brausten weiter durch den Wald, und ihr Lärm verklang langsam in der Ferne.

Eadulf atmete erleichtert auf und reckte sich.

»Hast du das Wappen an der Kutsche erkannt?« fragte Fidelma, richtete sich ebenfalls auf und streichelte ihrem Pony zum Dank für sein Stillbleiben die Schnauze.

»Nicht das an der Kutsche«, gestand Eadulf. »Aber das Zeichen auf den Wimpeln der Eskorte war deutlich zu sehen.«

»Und was war das für eins?« forschte Fidelma und stieg wieder auf.

»Es war das Wolfszeichen der Wuffingas, der Könige der Ost-Angeln. Nur die Leibwache des Königs darf es führen.«

Fidelma bedachte das schweigend, während er sein Pony bestieg, dann ritten sie langsam zu dem Hauptweg zurück.

»Meinst du, daß es womöglich der König der OstAngeln war, der eben an uns vorbeifuhr?« fragte sie schließlich. Plötzlich lächelte sie. »Vielleicht stimmte das Gerede doch, daß dein König auf dem Weg nach Süden war.«

»Vielleicht.« Doch Eadulf schien auszuweichen, und als sie ihn drängte, fügte er hinzu: »Ich habe nicht dasselbe Zeichen an der Kutsche gesehen, und ich wüßte auch nicht, warum König Ealdwulf sich von einem Mönch fahren lassen sollte. Das wäre ungewöhnlich.«

Dem war sie geneigt zuzustimmen.

»Und mit nur vier Kriegern als Eskorte. Wäre es nicht seltsam, daß der König so ins Gebiet deines Freundes Aldhere reiste?« meinte Fidelma.

Eadulf wiegte verwundert den Kopf.

»Noch ein Geheimnis auf dem Weg zur Wahrheit.«

»Falls die Wahrheit hier auf irgendeinem Wege zu finden ist«, murmelte Fidelma.

Sie waren über eine Stunde geritten, als Eadulf vertraute Zeichen entdeckte.

»Ich glaube, wir sind nicht weit von Aldheres Bau«, sagte er fröhlich. »Vielleicht können wir nun ein paar Dinge aufklären.«

Fidelma gab keine Antwort, und sie ritten schweigend weiter in die Richtung, die er angab.

Der Ton eines Widderhorns ganz in ihrer Nähe ließ sie ihre Ponys überrascht zügeln.

Es gab Bewegung an den Seiten des Weges, und plötzlich standen ein halbes Dutzend Krieger mit gezogenen Waffen neben ihnen. Eadulf erkannte sofort Wiglaf an ihrer Spitze. Auch er sah Eadulf, grinste breit und befahl den anderen, ihre Waffen einzustecken.

»Noch zwei Geächtete, die sich uns anschließen wollen, wie, gerefa?« begrüßte er sie. Eadulfs verblüffte Miene löste Gelächter aus. »Alle haben von der Belohnung gehört, die der Abt für eure Köpfe ausgesetzt hat, also nehme ich an, daß ihr bei uns Schutz sucht. Du hättest versuchen sollen, mich zu treffen, wie wir es besprochen hatten, dann hätten wir euch die Reise erleichtert.«

Eadulf hatte völlig vergessen, daß er, wie Botulf vor ihm, ein Treffen mit Wiglaf außerhalb der Abtei vereinbart hatte, falls es etwas Dringendes gäbe.

Er machte Wiglaf mit Fidelma bekannt, als ein anderer Reiter den Weg entlangtrabte. Es war eine schlanke Gestalt in einem schweren Mantel, das Gesicht von einer tief herabgezogenen Kapuze verhüllt. Eadulf hatte den Eindruck, es wäre ein Jüngling oder eine Frau. Die Schar der Geächteten mußte sie wohl kennen, denn sie drängten ihre Pferde an den Rand des Weges, um den Reiter unbehindert durchzulassen.

Wiglaf bemerkte Eadulfs Neugier und kicherte lüstern.

»Das ist eine alte Freundin. Lioba besucht uns oft in unserem Lager. Und jetzt ...« Er nickte in die Richtung, aus der die Reiterin gekommen war. »Ich werde euch hinführen. Los, ich reite voraus.«

Er wendete sein Pferd und befahl seinen Leuten, wieder ihre Stellungen zu beziehen. Es waren die Wachposten, die das Lager der Geächteten schützten.

Als sie weiterritten, fragte ihn Fidelma: »Du warst Botulfs Vetter und standest mit ihm in der Abtei in Verbindung?«

»Das war ich, Schwester«, antwortete Wiglaf ernst.

»Ich möchte dir ein paar Fragen stellen.«

»Das muß noch warten, denn da vor uns liegt Ald-heres Lager, und ich muß gleich zurück zu meinen Männern. Ich komme zum Mittagessen ins Lager, dann kannst du mich fragen, was du willst.«

Das Lager war nur noch Minuten entfernt, und Aldhere war bereits auf ihr Kommen vorbereitet, denn Wiglaf hatte sein Widderhorn genommen und es erneut kurz und scharf geblasen. Aldhere stand vor seiner Hütte, die Hände an den Hüften, und lächelte leise. Als sie ihre Ponys zügelten und abstiegen, ging er mit ausgestreckter Hand auf sie zu.

»Sei gegrüßt, heiliger gerefa! Ich hatte keinen Zweifel daran, daß ich dich wiedersehen würde. Und diesmal hast du die irische Hexe mitgebracht?«

Er lachte dröhnend über Fidelmas mißbilligende Miene.

»Keine Angst, gute Schwester, mein Humor ist anders als der meines Bruders. Ich zweifle nicht an deiner Frömmigkeit. Ich bin Aldhere, ehemals Than von Bretta’s Ham, jetzt ein einfacher Geächteter. Du bist willkommen in meinem Lager. Kommt mit in meine Hütte. Es ist ein bescheidener, ungastlicher Ort, aber er bietet euch Schutz vor unserem harten Winter.«

Wie Eadulf zuvor, wurde auch Fidelma mitgerissen von dieser Mischung aus Jovialität und Dominanz. Sie folgte ihm fast gehorsam, ohne etwas zu erwidern, doch ihre Blicke erfaßten die ganze Umgebung, die Männer, Frauen und Kinder, die diese kleine Waldlichtung bevölkerten. Wiglaf war anscheinend auf seinen Wachposten zurückgekehrt, aber sie sah noch viele bewaffnete Krieger im Lager.

»Und, bist du zufrieden, gute Schwester?« fragte Aldhere, hielt die Tür der Hütte mit einer Hand auf und trat zur Seite, um ihr den Vortritt zu lassen. Seinem scharfen Blick war ihre Musterung des Lagers nicht entgangen.

»Zufrieden?« Sie fühlte sich überrumpelt.

»Mit meinem Lager natürlich. Meine Männer bringen ihre Frauen und Kinder zur Sicherheit hierher mit. Wir erwarten keinen Angriff von König Eald-wulf, bevor das Tauwetter einsetzt. Wenn der Winter so weitermacht wie bisher, dann wird das erst im Frühjahr sein, so Gott will. Ealdwulf kämpft nicht gern mit schmutzigen Stiefeln. Er wird trockenes Wetter abwarten.«

Er winkte ihnen, sich auf Schemel zu setzen. Seit Eadulfs Besuch vor ein paar Tagen hatte sich der Raum nicht verändert. Er schaute sich nach Bertha, der fränkischen Frau, um, doch von ihr war nichts zu sehen. Aldhere fing seinen Blick auf und lächelte wieder.

»Meine Frau, Bertha, ist mit einem meiner Männer auf dem Markt in Seaxmund’s Ham, um Lebensmittel zu kaufen. Ihr seht, wir rauben und stehlen nicht, sondern kaufen bei den Händlern ein.«

»Und wo kommt das Geld her, mit dem ihr die Händler dafür bezahlt?« fragte Eadulf unschuldig.

»Bei den heiligen Wunden Christi!« rief Aldhere mit schallendem Gelächter. »Du besitzt einen scharfen Verstand, heiliger gerefa.«

Fidelma hatte sich niedergelassen.

»Du erwartest also einen Angriff von König Eald-wulf?« fragte sie und kam damit auf Aldheres frühere Bemerkung zurück.

Aldhere nahm die Frage nicht übel.

»Natürlich«, erwiderte er. »Er wird nicht wollen, daß ich hier als Pfahl im Fleische seines Südvolks wirke.«

»Warum bleibst du dann hier? Wenn du mit einem Angriff rechnest, hätte ich eher gedacht, daß du weiterziehst in eins der anderen Königreiche und deine Schwerter jemandem verkaufst - zum Beispiel an Sigehere?«

»Du enttäuschst mich durch deine gewinnsüchtige Haltung, gute Schwester«, grinste der Geächtete. »Ich glaube, wir brauchen Met.«

Er wandte sich um, holte einen Krug zum Tisch und goß ein.

Fidelma unterdrückte einen resignierten Seufzer. Ihr war klar, daß das Anbieten starker Getränke ein wesentlicher Teil der Gastfreundschaft gegenüber Fremden war.

»Seit ich in deinem Land bin, Aldhere, bin ich zu dem Schluß gekommen, daß das Trinken eine der Hauptbeschäftigungen deines Volkes ist.«

Eadulf schaute verdrießlich drein und räusperte sich geräuschvoll.

»Vielleicht ist es besser, wenn ich die Fragen stelle«, sagte er mit einem bedeutungsvollen Blick zu Fidelma. Als sie ihn deswegen verärgert anstarrte, meinte er leise: »Ich habe schon mal erwähnt, daß die Menschen in diesem Land nicht an das gewöhnt sind, was sie für Dreistigkeit bei Frauen ansehen. Frauen spielen beim Südvolk eine ganz andere Rolle als hier ...«

Aldhere unterbrach ihn mit einem mißbilligenden Blick.

»Still, heiliger gerefa! Willst du mich als Barbaren hinstellen? Ich habe mit irischen Missionaren verkehrt und kenne ihre andersartigen Gebräuche. Es sind nicht unsere Gebräuche, und sie müssen uns auch nicht gefallen. Aber einer der Missionare lehrte mich die Worte des heiligen Ambrosius: Quando hic sum, non ieiu-no Sabbato; quando Romae sum, ieiuno Sabbato.«

»Wenn ich hier bin, faste ich nicht am Sabbat, wenn ich in Rom bin, faste ich am Sabbat«, murmelte Eadulf.

»Vielleicht ist es schlecht ausgedrückt«, entschuldigte sich Aldhere, »doch was ich meine, ist, da ihr es gewohnt seid, gleich behandelt zu werden, behandle ich euch auch gleich. Also, was sagtest du eben ...?« Plötzlich schlug sich der ehemalige Than von Bretta’s Ham auf den Schenkel und brüllte vor Lachen.

»Bei Gott! Ja! Das Trinken. Ich stelle fest, Schwester, du bist nicht nur eine fromme Nonne, sondern auch eine mit Humor. Hier wird wirklich durch das Trinken viel erreicht, denn das Trinken enthüllt Geheimnisse, bestärkt unsere Hoffnungen, befreit bedrückte Gemüter von Lasten, lehrt uns neue Künste und treibt die Zaghaften in die Schlacht. Gegen eine schlechte Nacht hilft immer eine weiche Matratze aus Met, und so manche Freunde und so manche Liebende haben sich beim Krug kennengelernt.«

Diese Antwort erheiterte Fidelma.

»Du hörst dich an wie ein Philosoph, Aldhere.«

Der Geächtete hielt den Kopf schief und blinzelte ihr zu.

»Nur einer, der sein Wissen geborgt hat.«

»Doch in meinem Land haben wir ein Sprichwort: Wenn der Hahn betrunken ist, vergißt er den Habicht.«

Aldhere schüttelte den Kopf. »Ich vergesse weder meinen Bruder Cild noch König Ealdwulf. Meine Wachposten halten mich auf dem laufenden.«

»Haben sie dich auch auf dem laufenden gehalten, als Krieger aus Ealdwulfs Leibwache durch deinen Wald fuhren?« fragte Eadulf spöttisch.

Zu ihrer Überraschung nickte Aldhere.

»Die eine Kutsche eskortierten? O ja, davon wußten wir.«

Eadulf schüttelte ungläubig den Kopf. »Wenn du davon wußtest, warum habt ihr sie nicht abgefangen?«

»Aus welchem Grunde sollten wir das tun, heiliger gerefa?« fragte er wie belustigt. »Es war nur Lord Si-geric, der zu Aldreds Abtei geleitet wurde. Er ist zu alt, um für irgend jemanden eine Bedrohung darzustellen. Wahrhaftig, heiliger gerefa, warum sollte ich ihn oder seine Begleitung angreifen? Meinst du, ich wäre so schwarz, wie mich mein Bruder Cild malt?«

»Lord Sigeric?« fragte Eadulf erstaunt. »Er ist der Oberhofmeister König Ealdwulfs«, erklärte er Fidelma rasch.

»Dann hast du doch einen guten Grund, ihn anzugreifen«, meinte Fidelma.

»Er hat sicher an deiner Ächtung mitgewirkt«, ergänzte Eadulf. »Man würde annehmen, daß du dich gern an ihm rächen würdest.«

Aldhere schüttelte den Kopf. »Habe ich dir nicht gesagt, daß Botulf wegen meines Ächtungsurteils an ihn appellieren wollte? Es kann gut sein, daß er zu einer Anhörung in dieser Sache herkommt«, erwiderte er.

»Ich erinnere mich, daß du das erwähnt hast«, gestand Eadulf beinahe unwillig.

»Es scheint mir, heiliger gerefa, daß du an meinem guten Willen zweifelst. Warum mißtraust du meinen Absichten?«

»Manche Leute meinen, du seist ebenso schlimm wie dein Bruder«, warf Fidelma ein, als Eadulf zögerte, weil er keine Antwort wußte.

Aldhere wandte sich ihr zu und musterte sie kurz, wenn auch mit humorvoller Miene.

»Daran zweifle ich nicht. Viele glauben Cild aufs Wort und malen mich so schwarz wie Satan. Noch mehr Met?«

»Du hast meine Frage nicht bis zum Ende beantwortet«, erwiderte Fidelma.

»Bis zum Ende?«

»Ich wollte wissen, warum du in diesem Land geblieben bist, so nahe bei Aldreds Abtei, wo dir Gefahr droht, während du mit deinen Anhängern woanders eine sicherere Zuflucht finden könntest.«

Aldhere setzte sich zum erstenmal, goß sich den Becher voll und trank nachdenklich daraus.

»Das ist eine gute Frage«, meinte er.

»Gibt es darauf auch eine gute Antwort?« drängte ihn Fidelma.

Aldhere erwiderte ihren Blick und lächelte breit.

»Ach, ich glaube schon. Ich bin hier, weil ich Gerechtigkeit suche.«

Fidelma neigte zustimmend den Kopf.

»Eadulf hat mir deine Geschichte berichtet. Zu Unrecht der Feigheit beschuldigt. Ein älterer Bruder, der dich vernichtet sehen möchte, weil er deinetwegen enterbt wurde. Doch warum hierbleiben? Wie soll das zu Gerechtigkeit führen?«

Aldhere beugte sich vor und wurde plötzlich ernst.

»Ich tue es, weil ich Glauben besitze, Schwester.«

»Die Bibel sagt, der Glaube ist das Wesen von Dingen, auf die man hofft, ohne Beweise dafür zu haben. Was ist es, worauf du hoffst?«

»Man hat mir mein Eigentum geraubt. Mein Ansehen ist zerstört, mein Ruf befleckt. Doch ich glaube daran, daß mein Ruf wiederhergestellt und mein Eigentum mir zurückgegeben wird und daß meine Verfolger zur Rechenschaft gezogen werden. Das ist mein Glaube, Schwester, und deshalb lassen ich und meine Gefolgsmänner uns nicht aus diesem Lande des Südvolks vertreiben, das uns gehört durch das Recht der Geburt und des Schwertes. Wir kamen vor vier Generationen her und warfen die Briten aus diesem Land, in dem sie träge geworden und entartet waren. Wir gehören zu den Wuffingas, den Abkömmlingen Wotans, und was wir genommen haben, das geben wir nicht wieder her.«

Fidelma lehnte sich zurück und verzog mißbilligend den Mund.

Eadulf schaute sie unsicher an, doch zunächst sagte sie kein Wort.

»Du hast deine Auffassung gut dargelegt, Aldhere«, meinte sie dann ruhig. »Was kannst du mir von deinem Bruder berichten? Ich nehme an, er folgt denselben Grundsätzen?«

Aldhere sah sie zweifelnd an. »Was willst du über Cild wissen?« »Du hast Bruder Eadulf den Eindruck vermittelt, Cild sei von jeher gestört gewesen.«

Aldhere zuckte die Achseln. »Er hatte seltsame Launen, und manchmal tat er Dinge, die keine Logik enthielten. Er liebte die Macht, und er liebte den Reichtum. Das waren die beiden einzigen Dinge, die er jemals liebte.«

»Liebte er Gelgeis nicht?«

»Sie war die Tochter eines Fürsten. Wahrscheinlich liebte er die Macht und den Reichtum, die er zu erben glaubte.«

»Aber diese seltsamen Launen - du sagst, die hatte er schon als Kind? Weißt du, wann sie auffällig wurden?«

»Mein Vater mochte ihn nicht«, antwortete Aldhe-re. »Das sagte ich schon dem heiligen gerefa hier. Bis Cild zu stark dafür wurde, hat mein Vater ihn oft geschlagen und ihn zur Strafe eingesperrt.«

»Tat dein Vater recht daran?«

Aldhere schüttelte den Kopf. »Ich denke, daß Cild die bösartigen Launen, in die er verfällt, von meinem Vater geerbt hat. Der war auch ein schwieriger Mensch.«

»Dich hat dein Vater nie in der Art bestraft wie Cild?«

»Nie.« Aldhere lächelte düster. »Er hatte es immer auf Cild abgesehen.«

»Und deine Mutter? Welche Rolle spielte sie dabei?«

Aldhere schnaubte verächtlich. »Meine Mutter starb, als wir noch klein waren, und die Geliebten meines Vaters hatten nichts mit unserem Leben zu tun. Wir blieben uns selbst überlassen, und Cild hatte seine eigene Welt, in die er sich zurückzog. Doch warum stellst du diese Fragen?«

»Ich weiß nicht recht, wann Cild aus dem Königreich Connacht zurückkehrte. War das vor deiner Ächtung oder danach?«

»Vorher.«

»Ging er nach Bretta’s Ham, als er aus Maigh Eo ankam?«

»Nein. Er nahm den geraden Weg zur Abtei Al-dreds. Er hatte es erreicht, daß er zum dortigen Abt ernannt wurde.«

»Er brachte seine Frau mit?«

»Ja. Sie war keine Nonne, aber sie wohnte dort mit ihm.«

»Wann hast du sie kennengelernt?« fragte Fidelma.

»Das habe ich dem gerefa hier schon erzählt.«

»Erzähl’s auch mir.«

»Das war, als ich zum erstenmal zur Abtei ging. Danach war es klar, daß mein Bruder und ich uns nie einigen würden. Dann sah ich sie wieder, nachdem ich bereits geächtet war.«

»Welche Meinung hattest du von seiner Frau?«

Aldhere rieb sich nachdenklich das Kinn. »Wie ich dem gerefa bereits erklärte, war sie ein liebes, unschuldiges Mädchen. Wie man sie überredet hatte, Cild zu heiraten, das weiß ich nicht. Sie war das Gegenteil von allem, was ich an meinem Bruder kannte. Er ist unmoralisch und ehrgeizig und denkt immer zuerst mit dem Schwertarm und danach mit dem Verstand.«

»Das klingt so, als ob du das Mädchen mochtest«, bemerkte Fidelma.

Aldhere errötete leicht. »Sie war mir nicht unsympathisch. Sie war Cilds Ehefrau. Sie suchte mich hier in diesem Lager nur deshalb auf, weil ich der Bruder ihres Gatten war. Sie wollte helfen.«

»Sag mir noch mal, was geschah, nachdem du geächtet wurdest?«

»Cild erhob Anspruch auf meinen Titel und meinen Landbesitz. Ealdwulf entschädigte ihn nur mit einem kleinen Anteil und erklärte ihm, er solle Geistlicher bleiben. Er bestätigte Cild als Abt der Gemeinschaft in Aldred. Ich glaube, Ealdwulf ahnte schon, welche Entscheidung in Whitby fallen würde, denn sofort nach dem Beschluß erließ er ein Dekret, durch das alle Mönche und Nonnen, die der Regel Columbans folgten, aus seinem Königreich verwiesen wurden.«

»Und doch lebten zu dieser Zeit Cild und Gelgeis glücklich zusammen in Aldreds Abtei?«

»Glücklich?« fragte Aldhere verächtlich.

»Du bezweifelst das?«

»So ein unschuldiges junges Mädchen konnte nicht mit Cild glücklich werden«, erwiderte er scharf.

»Da könntest du wohl recht haben. Andererseits ist es erstaunlich, wie viele Ehepaare, die nach unserer Meinung schlecht zusammenpassen, sehr gut miteinander auskommen«, überlegte Fidelma laut. »Mich interessiert mehr, ob du einen Grund für einen Zwist zwischen ihnen weißt? Ich meine, nach deiner persönlichen Kenntnis.«

Aldhere lehnte sich zurück und starrte düster in seinen Met, als läge die Antwort auf dem Grund des Tonbechers.

»Ich hatte den Eindruck, sie sei unglücklich«, erklärte er.

»Hat sie dir das auch gesagt?« forschte Fidelma.

»Ja, das hat sie.«

»Wann war das?«

»Als ich ihr begegnete.«

Fidelma runzelte die Stirn. »Das hat sie dir bei der ersten Begegnung in der Abtei gesagt, bevor du geächtet wurdest?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, das war später, als . . .«

»Wie oft hast du sie getroffen, nachdem du hierher kamst?«

»Ich traf sie ein paarmal, denn sie ging nahe der Abtei spazieren. Der Fluß ist nicht weit entfernt, und dort gibt es Wälder.«

»Was hat sie dir erzählt?«

»Daß Cild seit der Zeit, als er seinen Anspruch auf den Titel des Thans von Bretta’s Ham nicht durchsetzen konnte, mürrisch und unzufrieden geworden sei. Er zeigte eine Grausamkeit, die sie bei einem Menschen, der ein religiöses Leben zu führen behauptete, nicht für möglich gehalten hätte.«

»Hat sie gesagt, daß Cild auch zu ihr grausam war?«

Aldheres Mund wurde schmal. »Ja.«

»Was meinst du, weshalb sie dir das alles gestanden hat?« fragte Eadulf nachdenklich. »Schließlich warst du ein Fremder für sie, wenn auch Cilds Bruder. Und gerade die Tatsache, daß du Cilds Bruder bist, war doch sicher dem Austausch von vertraulichen Mitteilungen nicht förderlich.«

»Weshalb sollte sie sich mir nicht anvertrauen? Sie wußte, daß Cild mich ebenso grausam behandelt hatte, wie er sie behandelte. Sie war allein. Sie wollte sich bei jemandem aussprechen, mit jemandem ihre Trostlosigkeit teilen. Ich finde, das ist natürlich.«

»Was weißt du über die Umstände von Gelgeis’ Tod?«

Aldhere sah sie mißtrauisch an. »Was sollte ich darüber wissen?«

»Ich frage dich, was du weißt, nicht, was du wissen solltest.« Ihre Erwiderung war so schroff, daß er überrascht blinzelte.

»Nur die Geschichte, daß sie in Hob’s Mire nahe der Abtei geriet und von dem tückischen Moor hinabgesogen wurde«, sagte er und gewann seine lockere Haltung zurück.

»Und das war vor einem Jahr?«

»Ja, so ungefähr.«

»Wann hast du Gelgeis davor zum letztenmal gesehen?«

»Zwei Tage, bevor sie starb«, antwortete Aldhere.

»Zwei Tage?« forschte Fidelma. »Bist du absolut sicher?«

Aldhere lächelte. »Absolut sicher.«

»Hattest du eine Affäre mit der Frau deines Bruders?« fragte Fidelma unvermittelt.

»Eine Affäre? Nicht so richtig«, kam die zögernde Antwort.

Fidelma lächelte zweifelnd. »Wie würdest du dein Verhältnis zur Frau deines Bruders dann beschreiben? Ich bin gespannt, welches Verhältnis als eine nicht so richtige Affäre bezeichnet werden kann.«

Aldhere sah einen Moment verlegen aus. Er merkte, daß Fidelma sich über ihn lustig machte.

»Ich war der Freund, den sie brauchte, dem sie ihre Ängste und Befürchtungen gestehen konnte. Sonst war weiter nichts dabei.«

»Nehmen wir das an«, stimmte ihm Fidelma zu. »Du sagst, du hattest eine Verabredung mit ihr zwei Tage, bevor sie starb?«

»Wir hatten vereinbart, uns zu treffen - ja. Wir trafen uns im Wald am Fluß nahe der Abtei. Wir gingen spazieren, und sie erzählte mir, wie schlimm das Verhältnis zu Cild geworden war. Sie hatte Verbindung mit ihrer Familie aufgenommen durch die Vermittlung eines Mönchs namens Pol. Cild hatte das herausbekommen, war in Wut geraten und hatte Pol kurzerhand aufhängen lassen. Als Begründung gab er an, Pol wäre ein Ketzer. Gelgeis sagte, sie hätte Angst, und bat mich, für sie einen Kontakt zu den Mönchen der Columban-Regel herzustellen, mit deren Unterstützung sie vielleicht zum Sitz ihres Vaters zurückkehren könnte.«

»Was hast du ihr geantwortet?«

»Ich sagte, ich würde mein Möglichstes tun, um ihr zu helfen.«

»Und dann?«

»Dann verließ sie mich.«

»Nachdem du das alles von ihr gehört hattest, ließest du sie in die Abtei zurückgehen?« fragte Eadulf ungläubig.

»Es war ihre Entscheidung«, verteidigte sich Aldhere. »Sie hätte auf der Stelle mit mir mitkommen können, und dann hätte ich sie auch beschützt, aber ...« Er zuckte die Achseln.

»Wann hast du erfahren, daß sie tot war?« fragte Fidelma.

»Die Nachricht kam einen Tag, nachdem sie sich im Moor verirrt hatte.«

»Führte ihr Weg zu dir durch das Moor? Durch diese Stelle, die Hob’s Mire genannt wird?«

»Eigentlich nicht. Wenn sie mich sehen wollte, trafen wir uns gewöhnlich in dem Wäldchen nahe der Abtei. Ich weiß, was du denkst. Sie kannte das Moor.«

»Kannte sie es gut?«

Aldhere sah sie forschend an.

»Ich würde sagen, sie kannte es sehr gut«, sagte er schließlich.

»Wußte sie, wie gefährlich Hob’s Mire ist?«

»Das wissen die meisten Leute. Es ist berüchtigt.« Er zögerte und schien zu ahnen, daß sie eine genauere Antwort erwartete, denn er fügte hinzu: »Ja, sie wußte davon.«

»Weshalb nimmst du also an, daß sie von dem bekannten und sicheren Weg abwich und durchs Moor ging?«

»Das nehme ich nicht an, und ich weiß, was du andeuten willst.«

»Andeuten? Ich suche nur die Antworten auf bestimmte Fragen. Ich finde es einfach seltsam, daß sie zwar die Gefahren des Moors gekannt, aber bei dieser einen Gelegenheit einen anderen Weg genommen und sie geradezu gesucht haben soll.«

Aldhere schwieg.

»Hast du nicht versucht, Genaueres zu erfahren, als du von ihrem Tod hörtest?« fragte Fidelma.

»Sie war tot. Warum mußte ich wissen, aus welchem Grunde sie sich ins Moor verirrt hatte?«

»Um festzustellen, ob ihr jemand dabei geholfen hat, sich im Moor zu verirren.«

Aldhere schwieg eine Weile, bevor er antwortete.

»Der Gedanke kam mir erst Monate danach, als es zu spät war. Ich habe dann kaum noch daran gedacht bis neulich, als der heilige gerefa hier aus dem Moor herauswanderte und vor dem Überfall der OstSachsen gerettet werden mußte. Er erzählte mir, daß Gelgeis’ Vater und Bruder hergekommen sind, in dem vergeblichen Versuch, Cild zu zwingen, den Mord an ihr zu gestehen. Ich habe ihm gesagt, und ich sage es heute zu dir, Schwester, daß das aussichtslos ist. Nur Cilds Gewissen könnte ihn zwingen, seine Schuld zu bekennen - wenn er denn schuldig ist -, und Tatsache ist, daß mein Bruder kein Gewissen besitzt. Also besteht kaum Hoffnung, auf diesem Wege etwas zu erreichen.«

Fidelma seufzte leise. »Gerüchte, Vermutungen -ich habe noch nicht eine handfeste Tatsache, um die Tragödie abzuwenden, die uns bald ereilen wird.« Plötzlich sah sie Aldhere fest in die Augen. »Hast du Mella einmal kennengelernt?«

Die Augen des Geächteten weiteten sich leicht.

»Mella?« murmelte er.

»Gelgeis’ Zwillingsschwester. Sie glichen sich so, daß nur die engsten Familienmitglieder sie auseinanderhalten konnten.«

»Natürlich nicht. Warum fragst du, ob ich sie kenne?«

»Sie versuchte, Gelgeis die Heirat mit Cild auszureden. Es hieß, sie sei in dieses Land gebracht worden.«

»Aber Mella ...«, begann Aldhere. Dann hielt er jäh inne.

»Ja? Mella ... Was?« fuhr ihn Fidelma an.

»Mella wurde von Sklavenjägern gefangen und kam auf See um.«

»Woher weißt du das?«

Aldhere hob hilflos die Hände. »Das muß mir Gelgeis erzählt haben.«

»Aber das ereignete sich, nachdem Gelgeis ins Land des Südvolks kam. Woher wußte sie das?«

»Keine Ahnung. Sie hat es mir erzählt. Sie wußte es eben.«

»Wann hat sie es dir erzählt?«

»Daran erinnere ich mich nicht. Vermutlich auf einem unserer Spaziergänge.«

»Was hat sie genau gesagt?«

»Über Mella?« konterte Aldhere.

»Über Mella«, wiederholte Fidelma fest.

»Daß ihre Schwester, so wurde ihr berichtet, von Sklavenjägern gefangen wurde und daß deren Schiff auf See unterging. Mehr weiß ich auch nicht.«

Es war deutlich, daß Aldhere log. Doch warum tat er das?

Er stand auf.

»Genug geredet«, sagte er brüsk. »Ich habe Pflichten, denen ich nachkommen muß. Bleibt hier und ruht euch aus, bis ich zurück bin.«

Er ging hinaus, und sie saßen nun allein in der Hütte.

Eadulf wandte sich zu Fidelma um, doch sie hob die Hand und legte den Finger an die Lippen, während sie mit dem Kopf auf die Tür wies.

»Erzähl mir mehr von diesem Sigeric«, befahl sie mit etwas erhobener Stimme.

Eadulf war enttäuscht.

»Wie gesagt, er ist Oberhofmeister des Königs und war es zuvor schon bei König Athelwold. Er soll ein unehelicher Sohn Ricberts sein, der hier ungefähr drei Jahre lang herrschte. Ricbert war Heide und ermordete Eorpwald, der zum Christentum übergetreten war.«

Fidelma hob protestierend die Hände.

»Wahrhaftig, diese angelsächsischen Namen kann ich nicht richtig über die Zunge bringen. Du sagst, Si-geric ist Oberhofmeister? Ist er denn Bischof?«

»Nein, er ist immer noch Heide. Unsere Könige haben in ihm einen hervorragenden Berater und Oberrichter gefunden. Niemand kennt die Gesetze der Wuffingas besser als er. Das sind die Gesetze, die hier gelten .«

»Das habe ich schon begriffen«, sagte Fidelma spitz. Dann entspannte sie sich etwas. »Was mich interessiert, ist folgendes: Warum wird Sigeric, euer oberster Brehon, in Aldreds Abtei geschickt? Soll er wirklich die Begnadigung Aldheres verkünden, oder gibt es einen anderen Grund?«

Eadulf erkannte, worauf Fidelma hinauswollte.

»Meinst du, es hat etwas mit der Beschuldigung Cilds zu tun? Vielleicht haben Gadra oder sein Sohn sich an ihn gewandt. Ob Sigeric wohl hier ist, um dieselbe Tragödie abzuwenden, die du verhindern willst?«

»Ich wünschte, ich könnte das glauben«, sagte Fidelma . »Ich kann mir nicht vorstellen, daß euer König Ealdwulf eine Ahnung von den Problemen hat, die aus dem troscud Gadras entstehen würden. Doch was ist seine Absicht? Zu ärgerlich, daß die Antwort auf diese Frage dahinten in Aldreds Abtei liegt.«

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