Kapitel 4

Einen Moment trat tiefes Schweigen in der Kapelle ein.

Abt Cild mußte eine eiserne Selbstbeherrschung besitzen, denn die drohende Erscheinung des Kriegers schien ihn überhaupt nicht zu beeindrucken. Seine Antwort gab er in höhnischem Ton.

»Ich erkenne keinen Menschen, der bewaffnet in Christi Haus kommt und sein Gesicht hinter einem Kriegshelm verbirgt.«

Der Krieger reagierte mit einem heftigen Hieb des Schwertes auf den Schild. Es klang wie ein Donnerschlag.

»Du gibst vor, meine Helmzier nicht zu kennen, du gibst vor, meine Stimme nicht zu kennen . Aber du weißt genau, wer ich bin. Ich heiße Garb und bin Ga-dras Sohn. Sag deinen Brüdern, ob ich lüge.«

Abt Cild zögerte.

»Wenn du es sagst, wirst du es wohl sein«, erwiderte er knapp.

»Ich bin Garb von der Ebene der Eiben.«

»Und selbst wenn du es bist«, entgegnete der Abt uneingeschüchtert, »mit der Art deines Eindringens hier begehst du Kirchenschändung. Leg dein Schwert nieder.«

Der irische Krieger, als solchen hatte ihn Eadulf an seinem Akzent wie an seinem Namen erkannt, lachte hart auf.

»Mein Leben ist mir zu lieb, als daß ich an diesem Ort meine Waffe niederlegen würde. Ich behalte mein Schwert.«

»Dann sag uns, was du willst, und verschwinde.«

»Ich will .« Der Mann unterbrach sich und wandte sich rasch zur Seite. »Cild, sag deinen Brüdern, sie sind tote Männer, wenn sie noch näher kommen!«

Zwei Männer mit gespanntem Bogen erschienen plötzlich neben dem irischen Krieger. Eadulf hatte ebenfalls bemerkt, daß mehrere der angelsächsischen Mönche sich den Seitengang der Kapelle entlanggeschlichen hatten. Zu seiner Überraschung hielten sie kurze Schwerter in den Händen. Sie hatten offensichtlich vor, den Eindringling zu entwaffnen oder ihn zu überwältigen. Cild gab einen kurzen Befehl. Sie blieben stehen, als sie sahen, daß die Pfeile zielsicher auf sie gerichtet waren.

Abt Cild winkte sie zurück. »Geht wieder auf eure Plätze, Brüder. Wir wollen friedlich mit diesem Wahnsinnigen verfahren.«

Der irische Krieger wandte sich wieder zu ihm um. »Wahnsinniger? Das mußt gerade du sagen, Cild. Aber es ist klug, wenn du deinen Leuten befiehlst, sich zurückzuhalten, denn ich habe nicht die Absicht, dem armen Botulf dort so früh ins Grab zu folgen.«

Eadulf fuhr auf, als er den Namen seines Freundes aus dem Munde des Kriegers hörte, der sich Garb nannte.

»Entehre seinen Namen nicht, indem du ihn aussprichst!« rief der Abt zum erstenmal mit Zorn in der Stimme.

»Botulf war ein guter Freund meiner Familie, Cild, wie du genau weißt«, fuhr der Krieger ruhig fort. »In deinem Munde ist sein Name entehrt. Es kam dir sehr gelegen, daß er ausgerechnet an diesem Tag getötet wurde. Hast du vielleicht deinem Sündenregister eine weitere Schuld hinzugefügt?«

Abt Cild starrte ihn ausdruckslos an.

»Bruder Botulf wurde von einem Dieb getötet«, sagte er schließlich. »Von einem Geächteten, der in die Abtei eingebrochen war. Wir werden ihn bald fangen und unschädlich machen.«

»Von einem Dieb? Vielleicht. Trotzdem kam es dir gelegen.« In seinem Ton lag Ironie. »Bei der Tugend meiner Schwestern, ich sage trotzdem, es kam dir gelegen!«

»Was willst du, Garb?« Abt Cilds Augen wurden plötzlich unruhig. Die Veränderung seiner Miene entging Eadulf nicht.

»Ach, jetzt erkennst du mich ohne Schwierigkeit, wie?« Nun spottete der Krieger.

»Was willst du?«

»Ich komme von Gadra, meinem Vater. Von Gadra, der auch der Vater von Gelgeis war, der Ehefrau, die du verstoßen und getötet hast.«

Ein Murmeln des Entsetzens lief durch die Kapelle. Eadulf blickte rasch von dem Ankläger zum Abt. Dessen Gesicht war bleich und von scharfen Linien durchzogen. Die dunklen Augen glühten wie Kohlen.

»Ich habe deine Schwester nicht getötet, Garb.«

»Ich war mir sicher, daß du das leugnen würdest. Du hast kein Gefühl für Schande. Aber Schande wird über dich kommen, Cild. Ich stehe hier als Abgesandter meines Vaters, des Fürsten der Ebene der Eiben und Vaters deiner ermordeten Ehefrau. Es ist nicht das erste Mal, daß er dich des Mordes an ihr beschuldigt und dich auffordert, dich einem Schiedsgericht zu stellen. Du hast dich bisher geweigert. Weigerst du dich weiterhin?«

»Wenn ich es bisher nicht getan habe, dann tue ich es jetzt erst recht nicht, da du mich bedrohst. Geh zurück in dein Land, Garb. Geh zurück zu deinem Vater. Du und deine Leute sind nicht willkommen in den Königreichen der Angelsachsen. Mit der Androhung von Gewalt kannst du mich nicht einschüchtern, denn wenn ich verletzt werde, wirst du diese Abtei nicht lebend verlassen.«

Garb lachte leise. »Du bist ein überheblicher Narr, Cild! Ich bin lediglich hergekommen, um das rituelle apad zu vollziehen. Ich bedrohe dich nicht.«

»Das was ...?« Cild klang verwirrt.

»Ich verkünde dir, daß mein Vater Entschädigung für den Mord an seiner Tochter von dir fordert. Er unternimmt das rituelle troscud, um dich zu zwingen, dich dem Spruch des Schiedsgerichts zu unterwerfen. Nach unserem Gesetz bleiben dir neun Tage, deine Lage zu überdenken, danach wird mein Vater mit dem troscud beginnen ... Er wird fasten, bis er stirbt oder bis du das Schiedsgericht akzeptierst.«

Abt Cilds scharfe Züge verzogen sich rasch zu einer erleichterten Miene und dann zu einer höhnischen.

»Und wenn ich nun dieses Schiedsgericht nicht annehme und dein Vater bloß wegen seines irrtümlichen Glaubens an meine Schuld stirbt, was dann?«

»Wenn du zuläßt, daß mein Vater stirbt, während er um der Gerechtigkeit willen fastet, fällt die Schande auf dich. Nicht nur in dieser Welt, sondern auch in der künftigen. Jeder kann dich erschlagen, ohne Strafe befürchten zu müssen, denn dann verlierst du alle Rechte als Mensch.

Ich habe dir auch noch folgendes zu sagen. Nach unserem Gesetz bist du ein airchinnech, ein Vorgesetzter von Mönchen, und von diesem apad an ist es dir untersagt, das Vaterunser oder das Glaubensbekenntnis zu sprechen oder die Messe zu besuchen.« Der Krieger wandte sich um und flüsterte einem seiner Begleiter etwas zu, der daraufhin den Bogen senkte, den Pfeil in den Köcher schob und zum Altar der Kapelle eilte. Unter seinem Mantel holte er einen aus Weidenzweigen geflochtenen Kranz hervor und warf ihn vor dem Altar auf den Boden.

Ein besorgtes Murmeln erhob sich unter den Brüdern, während der Mann an die Seite Garbs zurücklief und wieder seine Haltung mit gespanntem Bogen einnahm.

»Siehst du diesen Weidenkranz?« rief Garb. »Er ist das Symbol der moralischen Verpflichtung, die dir auferlegt ist, so lange keine deiner priesterlichen Funktionen auszuüben, bis du meinem Vater Gerechtigkeit widerfahren läßt. Wenn du dich nicht daran hältst, dann soll deine Seele verdammt sein.«

»Das ist doch lächerlich«, höhnte Cild. »Eure Gesetze gelten hier nicht. Dies ist nicht ein Königreich von Eireann, sondern das Königreich der OstAngeln.«

»Du hast meine Schwester im Hause meines Vaters auf der Ebene der Eiben geheiratet. Eure Eide habt ihr nach dem Gesetz der Fenechus vor einem Brehon geschworen. Dieses selbe Gesetz macht dich jetzt für ihren Tod verantwortlich. Du hast neun Tage, bis das troscud beginnt. Damit habe ich meine Aufgabe erfüllt.«

Mit diesen Worten trat der Krieger rasch zurück. Seine Begleiter schlugen die Türflügel zu. Die am nächsten stehenden Brüder stürmten zur Tür, doch die war nun von außen verriegelt.

Eadulf hatte seinen Platz nicht verlassen. Garb hatte diese Auseinandersetzung offensichtlich gut geplant und seinen Rückzug vermutlich ebenso. Eadulf nahm an, daß der Krieger und seine Begleiter sicher entkommen würden, ehe die wütenden Mönche aus der Kapelle ausbrechen könnten. Er blickte zu Abt Cild hinüber, der noch an dem Lesepult stand, wo er unterbrochen worden war. Bruder Willibrod war neben ihn getreten.

»Wie sind sie in die Abtei gelangt?« wollte Abt Cild wissen. »Die Türen waren doch geschlossen und verriegelt, oder nicht?«

»Das werde ich feststellen«, antwortete Bruder Wil-librod und rieb sich fast die Hände vor Verlegenheit. »Aber was sollen wir tun?«

»Tun?« Abt Cild starrte auf den Weidenkranz vor dem Altar. »Erstens, nimm das und wirf es ins Feuer. Zweitens, kümmere dich um die Beisetzung Bruder Botulfs. Drittens, sorge dafür, daß die Brüder, die morgen mit mir auf die Suche nach Aldhere und seinen Geächteten gehen, hinreichend bewaffnet sind. Ich habe den Verdacht, daß wir diese irischen Banditen bei ihm finden werden.«

Eadulf erhob sich und ging zu ihm hinüber. »Banditen? Für mich hörte es sich nicht so an, als ob Garb ein Bandit wäre. Ich habe einige Zeit in seinem Land verbracht, und was er sagte, war ein vom Gesetz vorgeschriebenes Ritual, wenn ich auch nicht alles davon verstanden habe.«

Abt Cild schaute ihn wütend an. »Das geht dich nichts an, Bruder Eadulf. Ich rate dir, dich da nicht einzumischen.« Dann blickte er zu den Mönchen hinüber, die immer noch gegen die Tür der Kapelle trommelten. »Hört auf mit dem Unsinn!« brüllte er.

Wie erschrockene Kinder drehten sie sich um und standen mit hängenden Köpfen vor dem Abt.

Cild wandte sich an Bruder Willibrod. »Lauf mit einem der Brüder durch den unterirdischen Gang unter der Kapelle und mach die Tür auf. Ich schätze, die Halunken sind schon lange fort. Es ging ihnen nur darum, uns aufzuhalten, während sie flüchteten.«

Es schien eine ganze Weile zu dauern, bis die Tür der Kapelle geöffnet wurde, obgleich es in Wirklichkeit wohl nur zehn Minuten waren.

»Wo ist Bruder Willibrod?« fragte der Abt und schritt zur Tür. Eadulf bemerkte, daß es nicht mehr schneite und auch der Wind, obwohl noch fühlbar, schwächer wehte.

»Er wollte nachsehen, wie sie in die Abtei gelangen konnten«, sagte der Bruder, der die Tür aufgemacht hatte, und trat vor dem Abt zurück.

In dem Moment eilte Bruder Willibrod herbei.

»Sie sind über die Mauer gekommen«, berichtete er atemlos. »Ich sah die Spuren im Schnee. Drei von ihnen müssen mit Wurfhaken und Seil hereingeklettert sein. Draußen fand ich Abdrücke von sechs Pferden, also müssen drei andere draußen gewartet haben.«

Abt Cild rieb sich das Kinn in düsterem Nachdenken. »Hast du festgestellt, wo die Spuren herkamen oder wohin sie führten?«

»Der Wind hat sie rasch verweht. Der Schnee ist pulverig und trocken.«

Abt Cild ärgerte sich sichtlich. »Das ist auch gleichgültig. Ich gehe jetzt in mein Zimmer. Du kannst die Beisetzung zu Ende führen, ich habe viel zu tun. Morgen werden wir mit diesen Schurken abrechnen.«

Bruder Willibrod blickte dem sich entfernenden Abt unglücklich nach, sein eines Auge blinzelte heftig. Dann merkte er, daß Eadulf ihn beobachtete, und zuckte die Achseln.

»Manchmal«, gestand er ihm, »wünschte ich, ich hätte den Mut, nach Blecci’s Hill zurückzukehren.«

»Blecci’s Hill?« fragte Eadulf. »Das liegt doch am Ufer der Ouse, nicht wahr?«

»Kennst du es?«

»Das ist gleich hinter der Grenze im Königreich Mercia. Vor vielen Jahren fand dort eine Schlacht statt.«

Willibrod lächelte, erfreut darüber, daß Eadulf etwas von der Geschichte wußte.

»Das war, noch bevor ich geboren wurde. Die Northumbrier waren in unser Gebiet eingefallen.« Er seufzte tief und kam dann in die Gegenwart zurück. »Eines Tages kehre ich dahin heim, so Gott will, und richte mir eine kleine Einsiedelei in Blecci’s Hill ein. Aber jetzt .« Er rief ein paar Brüder zu sich.

»Läutet noch einmal die Sterbeglocke. Wir lassen das Andenken an unseren Bruder Botulf nicht dadurch beschmutzen, daß dieser Zwischenfall den Ernst der Feier gestört hat. So Gott will, werden wir diese Beleidigung morgen rächen.«

Eadulf erwachte einige Zeit vor dem Morgengrauen. Es war noch kalt, wenn auch im Kamin ein paar Stük-ke aschebedeckte Glut glimmten. Im Zimmer herrschte, durch den weißen Widerschein des Schnees draußen, ein eigenartiges graues Zwielicht.

Er stand auf, ging zitternd vor Kälte rasch zum Feuer und warf trockene Zweige auf die Glut. Erst als sie Feuer gefangen hatten, legte er dickere Holzstücke nach. Nach wenigen Augenblicken loderte das Feuer heller auf. Trotzdem mußte er noch in die Hände hauchen und mit den Füßen stampfen, um seinen Kreislauf wieder in Bewegung zu bringen.

Er machte nur oberflächlich Toilette. Er wusch sich Gesicht und Hände in einer Schüssel mit kaltem Wasser, an deren Rand sich Eis gebildet hatte. Dann rieb er sich kräftig trocken, zog seine Kutte an und ging leise ins Nebenzimmer.

Als er nach der Beisetzung Bruder Botulfs auf dem kleinen Klosterfriedhof an der Kapellenmauer lange nach Mitternacht zurückgekehrt war, wollte er Fidelma von den seltsamen irischen Besuchern und ihren Forderungen an Abt Cild berichten. Doch Fidelma schlief fest, zitterte leicht, aber schwitzte stark und warf sich unruhig hin und her. Er hatte sie nicht geweckt, denn er merkte, daß sie an einer schweren Erkältung litt. Ihr Atem ging hart und rasselnd.

Als er jetzt leise eintrat, lag sie noch im Bett. Sie hielt die Augen geschlossen, doch von Zeit zu Zeit hustete sie jämmerlich, und ihre Nase war vom Niesen gerötet. Er ging zuerst zum Feuer und brachte es in Gang, dann setzte er Wasser auf.

»Ich fühl mich elend«, krächzte hinter ihm eine Stimme, die mit Fidelmas normaler kaum Ähnlichkeit besaß.

Eadulf wandte sich um und lächelte sie mitfühlend an.

»Du hast anscheinend eine gehörige Erkältung von unserer Reise mitgebracht«, bemerkte er überflüssigerweise.

Fidelma richtete sich etwas auf und lehnte sich gegen das Kopfende ihres Holzbetts. Schweiß stand ihr auf der Stirn, und sie bekam Hustenanfälle. Eadulf legte ihr die Hand auf die feuchte, fiebrige Stirn.

»Sobald das Wasser heiß ist, mache ich dir einen Aufguß, und danach wird es dir besser gehen.«

»Meine Kehle ist so trocken.«

Er reichte ihr einen Becher mit eiskaltem Wasser und erklärte ihr, sie solle kleine Schlucke nehmen. Das löste einen leichten Hustenanfall aus, und er nahm ihr den Becher wieder ab.

»Ich bereite dir einen Aufguß von Heil-Batungen-Blättern. Der wird deine Kopfschmerzen kurieren. Es ist eins der beliebtesten Kräutermittel meines Volkes. Wir mischen die Batungenblätter mit Holunder und Geißblatt.«

»Eadulf, mir ist es egal, was du mir gibst«, stöhnte sie. »Mir ist sterbenselend.«

»Nur keine Sorge«, erwiderte Eadulf fröhlich. »In ein paar Tagen bist du wieder gesund. Dafür garantiere ich dir.«

Fidelma mußte plötzlich niesen und schaute Eadulf trübsinnig an. Ein wenig brach ihre alte Natur wieder durch, und sie versuchte zu lächeln.

»Ich dachte, wir hätten nicht einmal zwei Tage?«

Eadulf stutzte, dann erinnerte er sich. »Du meinst Abt Cilds Befehl, die Abtei zu verlassen? Da bleib mal ganz ruhig. Ich gehe zu ihm und sage ihm, daß du nicht reisen kannst. Außerdem hat sich hier etwas ereignet, was ich dir berichten muß.«

Während er das Mittel für Fidelma zubereitete, erzählte er ihr von den Ereignissen der vergangenen Nacht. Fidelma hörte gespannt zu und vergaß beinahe ihre Beschwerden.

»Ein troscud? Bist du sicher, daß er dieses Wort gebrauchte?«

Eadulf nickte. Er saß auf der Kante ihres Bettes und sah zu, wie sie den Aufguß schlürfte.

»Ich weiß, daß es eine Art von rituellem Fasten ist«, erklärte er.

»Eine sehr ernste Art«, bestätigte sie. »Es kommt nicht oft vor, denn die meisten Leute lassen Streitfälle gern durch ein Schiedsgericht entscheiden. Das Gesetz gilt als sehr wichtig, deshalb halten sich beide Seiten daran, und nur selten muß einer gezwungen werden, es zu akzeptieren.«

»Aber hier, in seinem eigenen Land, untersteht Abt Cild nicht euren Gesetzen.«

»Das stimmt allerdings«, meinte Fidelma und wurde von einem erneuten Hustenanfall unterbrochen.

Eadulf reichte ihr einen neuen Becher mit dem Aufguß. Sie nippte daran.

»Aber du sagst, daß dieser Krieger - Garb hieß er? - behauptete, Abt Cild habe seine Schwester in der Ebene der Eiben geheiratet?«

»Ein Mädchen namens Gelgeis«, bestätigte Eadulf.

»Und er heiratete sie nach unserem Gesetz der Fenechus?«

»Ja.«

»Ebene der Eiben? Garb sprach angelsächsisch und übersetzte diesen Namen ins Angelsächsische?«

Eadulf nickte.

»Maigh Eo - Ebene der Eiben. Das ist ein Ort im Königreich Connacht. Ich verstehe, daß man fordern kann, Cild solle sich nach dem Gesetz der Fenechus richten, wenn er an diesem Ort geheiratet hat. Kannst du weitere Einzelheiten herausfinden?«

Eadulf setzte eine säuerliche Miene auf. »Vom Abt werde ich nichts erfahren.«

»Dann mußt du herausbekommen, wo Garbs Vater sein rituelles Fasten abhalten will.«

»Spielt das eine Rolle?«

»Ich glaube schon. In meinem Land findet das rituelle Fasten gewöhnlich in Sichtweite der Tür dessen statt, gegen den es gerichtet ist. Es gilt als eine Gotteslästerung und ein Verbrechen, wenn jemand dem Fastenden etwas tut, solange er das troscud abhält. Aber hier, in deinem Land ... Ich weiß nicht, wie man hier so ein Fasten durchführen kann, denn, ganz grob gesagt, eure Leute würden den Brauch nicht achten und wahrscheinlich den Fastenden verletzen.«

»Das ist wahr«, stimmte ihr Eadulf zu. »Bei unseren Leuten wäre das Fasten eine nutzlose Geste.«

Fidelma sank auf ihr Lager zurück. Sie hatte Schwierigkeiten beim Atmen, und ihr Husten quälte sie. Sie faßte Eadulfs Hand.

»Versuch etwas mehr herauszukriegen. Ich meine, Garbs Vater muß das erkannt und einen anderen Plan gemacht haben, um sich dabei zu schützen. Etwas so Ernstes wie ein troscud könnte zum Krieg führen.«

Eadulf lächelte ihr ermutigend zu. »Ich werde ein paar diskrete Erkundigungen einziehen. Aber als erstes muß ich Abt Cild klarmachen, daß wir heute nicht aus der Abtei abreisen können. Inzwischen sorge ich dafür, daß du ausreichend mit Medikamenten versorgt bist.«

Nachdem er noch einen weiteren Aufguß aus den Kräutern hergestellt hatte, die er immer bei sich führte, ließ Eadulf Fidelma in unruhigem Schlummer zurück und begab sich zu Abt Cilds Zimmer.

Der Abt begrüßte ihn unwirsch. »Du willst dich wohl verabschieden? Die Mühe hättest du dir sparen können.«

Eadulf bezwang seinen Ärger über die schroffe Art des Abts.

»Meine Gefährtin und ich können die Abtei heute vormittag noch nicht verlassen ...«, begann er.

Die zornige Miene des Abts ließ ihn innehalten.

»Ihr wagt es, meinen Anordnungen zuwiderzuhandeln?«

Eadulf hob die Hand mit der Fläche nach außen, um die Wut des anderen zu dämpfen.

»Ich muß zu meinem Bedauern sagen, daß meine Gefährtin, Schwester Fidelma, erkrankt ist. Bei diesem Wetter kann sie nicht reisen. Sie muß im Bett bleiben und Medikamente einnehmen, die ich für sie bereitet habe.«

Abt Cild betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Ich bin nicht für ihre Gesundheit verantwortlich. Ich habe weder dich noch sie in meine Abtei eingeladen.«

Diese Gefühllosigkeit erschütterte Eadulf.

»Es ist deine Christenpflicht, reisenden Mönchen und Nonnen Gastfreundschaft zu gewähren. Was für eine Art von Heiliger bist du, daß du auf diese Weise gegen die Regeln des Glaubens verstößt?«

Eadulfs Ton war kalt im Bemühen, sein eigenes Temperament zu zügeln. »Du verweigerst einer Glaubensschwester die Gastfreundschaft mit der Begründung, dies Haus sei nur für Männer bestimmt, doch du nimmst anscheinend weibliche Gäste auf, die keine Nonnen sind. Beim Kreuz Christi, ich werde dafür sorgen, daß Erzbischof Theodor davon erfährt.«

Abt Cild war etwas blaß geworden, als sich Eadulf brüsk abwandte.

»Warte!«

Der scharfe Befehl zwang Eadulf zur Umkehr.

»Was meinst du damit? Wovon redest du - von welchen weiblichen Gästen, die keine Nonnen sind?«

Eadulf lächelte maliziös. »Gestern abend auf meinem Weg zur Kapelle erblickte ich eine Dame. Ist es ein Geheimnis, daß sie sich hier aufhält?«

In Abts Cilds blassem Gesicht zuckten plötzlich Muskeln. Einen Moment schien es, als sei alle Aggressivität von ihm gewichen. Er setzte sich und starrte Eadulf mit einer beinahe Mitleid erweckenden Miene an.

»Erzähl mir genau, was du gesehen hast«, sagte er leise in bittendem Ton. Eadulf vernahm ein merkwürdiges Stocken in seiner Stimme.

Knapp berichtete er dem Abt, daß er eine junge Frau in dem kleinen Hof hinter der Kapelle beobachtet hatte. Auf einmal merkte er, daß der Abt leicht zitterte.

»Blond, sagst du, in einem roten Kleid und mit Juwelen?«

»So habe ich sie beschrieben«, bestätigte Eadulf und fragte sich, was diesen erstaunlichen Wandel in der Haltung des Abts hervorgerufen hatte.

»Du lügst mich nicht an?« Die Frage wäre eine Beleidigung gewesen, doch der Ton des Abts war fast flehend. »Schwörst du, daß du diese Frau tatsächlich gesehen hast?«

Eadulf setzte bereits zu einer heftigen Erwiderung an, doch der Mann tat ihm leid.

»Natürlich«, brummte er. »Ich habe nicht die Angewohnheit, Dinge zu berichten, die ich nicht gesehen habe. Aber genug davon. Ich meine, du kannst nicht behaupten, bestimmte Grundsätze zu vertreten, und gleichzeitig verbergen, daß du selbst dich nicht daran hältst. Ich verspreche dir, daß Erzbischof Theodor von deiner unwürdigen Behandlung Schwester Fidelmas erfahren wird. Wehe dir, wenn ihr durch deine gefühllose Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Krankheit etwas zustößt.«

Wieder wandte sich Eadulf zur Tür, und wieder rief ihn Abt Cild zurück. Er wirkte immer noch unruhig und verunsichert, was Eadulf auf seine Drohung zurückführte, den Erzbischof zu informieren.

»Ich schicke den Apotheker der Abtei, damit er diese . diese Schwester Fidelma untersucht. Wenn er bestätigt, was du sagst, darf sie hierbleiben, bis sie wieder reisefähig ist.«

Abt Cild nahm eine kleine bronzene Handglocke und läutete. Fast sofort war Bruder Willibrod zur Stelle.

»Schicke Bruder Higbald zu Schwester Fidelma. Er soll feststellen, wie es ihr geht, und mir umgehend berichten, wie krank sie ist.«

Bruder Willibrod blickte beunruhigt drein. »Krank, Pater Abt?« Er schaute Eadulf unsicher an. »Sie ist krank?« flüsterte er ängstlich. »Es ist doch nicht -nicht die Gelbe Pest?« Rasch bekreuzigte er sich.

Abt Cild schnaubte unwirsch, weil seine Anordnung nicht augenblicklich befolgt wurde. Allmählich rötete sich sein Gesicht wieder, und sein altes Selbst kehrte anscheinend zurück.

Eadulf schüttelte den Kopf. »Es ist nur eine starke Erkältung, und sie braucht weiter nichts als Ruhe, Wärme und Bequemlichkeit. Und vielleicht ein bißchen christliche Nächstenliebe«, setzte er grimmig hinzu.

Bruder Willibrod entschuldigte sich sofort. »Es ist nur, weil wir ständig in Furcht vor dem Ausbruch der schrecklichen Gelben Pest leben . Sie hat so viele unserer Menschen hinweggerafft, und .«

»Je eher du Bruder Higbald zu der Frau schickst, desto eher wissen wir, was ihr fehlt, Bruder Willi-brod«, schnauzte der Abt.

Bruder Willibrod nickte eifrig zur Bestätigung und verschwand eilig aus dem Zimmer.

»Ich sollte dem Apotheker erklären, womit ich sie behandelt habe«, meinte Eadulf, doch Abt Cild hielt ihn zurück.

»Ich nehme an, sie kann sich mit Bruder Higbald verständigen und es ihm selbst sagen?« fragte er höhnisch. »Es ist besser, wenn Bruder Higbald sie allein untersucht, ohne daß man ihm sagt, was er finden soll.«

Eadulfs Miene versteinerte. Der Mann war ganz wie vorher, ungeduldig und arrogant. Eadulf wollte ihn nicht reizen - es war schließlich wichtig, daß Fidelma sich erholen konnte, bevor sie weiterreisten -, aber ganz konnte er es sich nicht verkneifen.

»Wäre ich in deiner Lage, Abt Cild, würde ich mich über den glücklichen Zufall freuen, der eine Person wie Fidelma von Cashel gerade zu diesem Zeitpunkt in deine Abtei führte.«

Abt Cilds Augen verengten sich.

»Das mußt du mir erklären«, antwortete er.

»Ganz einfach. Schwester Fidelma hat in ihrem Land einen guten Ruf als Anwältin. Sie war sogar die juristische Beraterin der irischen Delegation auf der Synode von Whitby vor zwei Jahren.«

Einen Moment stutzte Abt Cild, als ihm die Erinnerung kam.

»Schwester Fidelma? Sie bewahrte die Beratung vor dem Abbruch und die Königreiche vor einem Bürgerkrieg, nachdem eine der führenden Delegierten ermordet worden war?«

»Ebenjene Schwester Fidelma ist hier. Sie ist befreundet mit König Oswy von Northumbria und Äbtissin Hilda.«

Abt Cild entspannte sich plötzlich mit einem der seltsamen, unerklärlichen Stimmungsumschwünge, die Eadulf bereits mehrmals an ihm beobachtet hatte. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und schaute Eadulf scharf an.

»Warum sollte ihre Anwesenheit hier mich interessieren? Was willst du damit andeuten?«

»Ich weise dich lediglich darauf hin, daß sie dich in der Angelegenheit von Gadras troscud beraten könnte.«

Abt Cild blinzelte und atmete tief aus. »Das ist eine Angelegenheit, die weder dich noch irgend jemand andern etwas angeht.«

»Das Gesetz geht mich schon etwas an, Abt Cild. Die Rituale des Gesetzes haben unterschiedliche Formen, doch ihre Moral läßt sich nicht leugnen. Wenn du ein Opfer bist, dann sprich dich aus und laß dir von Fidelma helfen, einen Weg zu finden, dieses rituelle Fasten gegen dich zu beenden. Wenn du dich vor dem Gesetz zu verantworten hast, dann laß dich von jemand beraten, der etwas von diesem Ritual des tros-cud versteht. Wenn man diese Sache falsch angeht, könnten daraus Krieg und großes Blutvergießen entstehen.«

Abt Cild hob den Kopf, seine dunklen Augen blickten unergründlich.

»Wenn es dazu kommt, werde ich mich zu schützen wissen«, antwortete er finster.

»Das hört sich nach Rückgriff auf Gewalt an. Ist das nicht eine eigenartige Haltung für jemanden von geistlichem Stande?« meinte Eadulf. »Warum willst du dich nicht mit dem Gesetz schützen, wenn du, wie du behauptest, keine Missetat begangen hast?«

Abt Cilds Augen funkelten plötzlich hell, und Eadulf fiel auf, daß seine Hände die Tischkante umklammerten.

»Ich brauche mich dir gegenüber nicht zu rechtfertigen.«

»Das vielleicht nicht«, stellte Eadulf gelassen fest. »Stimmt es, daß du eine Ehefrau namens Gelgeis hattest?«

Die Wangen des Abts röteten sich. Er gab keine Antwort, und Eadulf drängte ihn weiter.

»Hast du deine Meinung zum Zölibat vor oder nach deiner Heirat geändert?«

»Ich heiratete, als ich ...«, begann Abt Cild, für einen Moment überrumpelt. Dann unterbrach er sich und sah Eadulf trotzig an. »Ich habe dir schon gesagt, daß dich das nichts angeht. Du bist nicht mehr der ge-refa von Seaxmund’s Ham.«

»Was ist wahr an Garbs Beschuldigungen?« fragte Eadulf ruhig weiter und überging Abt Cilds Empörung.

»Kein Wort davon ist wahr!«

»Aber du hast gerade zugegeben, daß du diese Gelgeis geheiratet hast. Ich nehme an, daß sie wirklich Garbs Schwester und Gadras Tochter war und daß du sie im Königreich Connacht geheiratet hast?«

»Das leugne ich nicht. Doch woher weißt du, daß es in Connacht war? Das hat Garb nicht erwähnt.«

»Maigh Eo - die Ebene der Eiben - liegt in Con-nacht.«

»Du bist gut unterrichtet, Eadulf von Seaxmund’s Ham«, murmelte der Abt.

»Du bist nicht der einzige Angelsachse, der an den Universitäten von Eireann studiert hat«, erwiderte Eadulf. »Jedenfalls lautet die Antwort auf meine Frage, daß du deine Frau nach dem Gesetz der Fenechus geheiratet hast?«

»Auch das leugne ich nicht.«

»Und jetzt ist sie tot?«

Abt Cild schob das Kinn vor und stand auf.

»Sie ist tot. Das weiß ich ganz bestimmt. Niemand kann etwas anderes beweisen! Hörst du? Ich dulde es nicht, daß du das Gegenteil behauptest!«

Eadulf war verblüfft.

»Ich habe doch nicht ...«, begann er. Dann bemerkte er den Blick des Abts und fuhr fort: »Ich versuche dir nur zu helfen. Es ist eine sehr schwerwiegende Anklage gegen dich erhoben worden. Wäre es dir da nicht recht, wenn dich jemand berät, der das Gesetz kennt, nach dem man dich beschuldigt?«

»Ein ausländisches Gesetz, das in diesem Land keine Gültigkeit besitzt. Wenn ich angegriffen werde, habe ich hier einen guten Schiedsmann.«

Erst verstand ihn Eadulf nicht. Dann folgte er dem bedeutungsvollen Blick des Abts zu einer nahen Wand. Dort hingen ein Schwert und ein Schild. Am vorigen Abend war es zu dunkel gewesen, als daß Eadulf diese unpassende Dekoration bemerkt hätte. Schwert und Schild eines Kriegers hingen im Zimmer eines Abts.

Eadulf öffnete den Mund, doch der Abt winkte ihm zu schweigen.

»Wir wollen darüber nicht mehr sprechen, Bruder Eadulf. Und du sagst darüber zu niemandem etwas. Du wirst die . die Frau, die du gestern abend gesehen haben willst, nicht erwähnen. Ist das klar?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich Abt Cild um und verließ das Zimmer. Eadulf dachte über das Verhalten des Abts nach. Es kam ihm der Gedanke, daß er den Abt der Heuchelei überführt hatte. Könnte die Frau, die er gesehen hatte, Cilds Geliebte sein oder . Er riß die Augen auf. Der Einfall wäre Fidelmas kühnen Folgerungen würdig. Könnte die Frau Cilds Ehefrau Gelgeis sein und Cild dem Rest der Welt weismachen, sie wäre tot, um zu verheimlichen, daß er nach wie vor mit ihr zusammenlebte, während er vorgab, sich zum Zölibat zu bekennen? Ein verlockender Gedanke! Vielleicht glaubte ihre Familie deswegen, er habe sie umgebracht. Er wünschte, Fidelma ginge es so gut, daß er darüber mit ihr sprechen könnte, doch er beschloß, sie nicht damit zu behelligen. Abt Cild war zweifellos ein schlauer Fuchs.

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