Kapitel 16

Owen und ich fuhren zurück nach London. Ich saß am Steuer, und er döste unruhig neben mir, wenn er nicht gerade so tat, als hätte er kein Kopfweh.

«Lassen Sie den Unsinn«, sagte ich.»Ich weiß Bescheid. Sie haben schwer eins abgekriegt, und obwohl Sie dem Arzt gegenüber hinterhältigerweise angedeutet haben, daß Ihr Chef vielleicht nicht mitspielt, gibt Ihr Chef Ihnen die nächsten Tage frei.«

Er grinste.

«Das mit Ihrem Kopf tut mir leid«, sagte ich.

«Ich weiß.«

«Woher?«

«Von Charlie.«

Ich warf ihm einen Blick zu. Sein Gesicht sah im Schein der Armaturenbeleuchtung ruhig und friedlich aus.»Es war ein toller Tag«, meinte er schläfrig.

Um vier Uhr früh kamen wir zu Hause an und hielten auf der Einfahrt. Er wachte fröstelnd auf und blickte glasig aus erschöpften Augen.

«Sie schlafen in meinem Bett«, sagte ich,»und ich nehme das Sofa. «Er öffnete den Mund.»Keine Widerrede«, setzte ich hinzu.

«Na gut.«

Ich schloß den Wagen ab und ging zur Haustür, und wieder fing der Ärger an.

Die Haustür war nicht richtig zu. Owen in seiner Schläfrigkeit merkte es nicht sofort, aber mir rutschte das Herz in die Hose, als ich es sah.

Einbrecher, dachte ich dumpf. Ausgerechnet heute.

Ich stieß die Tür auf. Alles ruhig. In der Diele standen wenig Möbel, und nichts war verändert. Aber oben sah es sicher aus, als hätte ein Sturm gewütet…

«Was ist?«Owen spürte, daß etwas nicht stimmte.

«Die Werkstattür«, sagte ich und zeigte hin.

«O nein!«

Auch sie stand einen Spalt offen, und aufgeschlossen hatte sie der Eindringling bestimmt nicht. Der ganze Rahmen war geborsten, und am Türpfosten standen von oben bis unten die Splitter heraus.

Wir gingen durch den teppichbelegten Flur, stießen die Tür weit auf und machten einen Schritt auf den Betonfußboden.

Einen Schritt — und blieben wie angewurzelt stehen.

Die Werkstatt war vollkommen verwüstet.

Alle Lampen brannten. Sämtliche Schubladen, die Türen sämtlicher Schränke waren geöffnet, ihr zerschlagener Inhalt ringsum verstreut. Die Werkbänke umgestürzt, die

Werkzeugregale mitsamt großen Brocken Putz aus den Wänden gerissen.

Meine ganzen Pläne und Entwürfe waren zerfetzt. Wo ich auch hinsah, zertrampelte Spielzeugmodelle.

Dosen mit Öl und Schmierfett waren über dem

Durcheinander entleert worden, und was nicht ölverschmiert war, war mit der Farbe, die ich für die

Verkehrszählungsschilder gebraucht hatte, bespritzt.

Die Maschinen selbst…

Ich schluckte. Mit diesen Maschinen konnte ich nichts mehr bauen. Nie wieder.

Keine Einbrecher, dachte ich nüchtern.

Bosheit.

Ich war zu entgeistert, um etwas zu sagen, und Owen ging es offenbar genauso, denn eine ganze Weile standen wir nur stumm und regungslos da. Das Chaos brüllte uns seine

Botschaft von Niedertracht und Häme ins Gesicht, und die Intensität des Hasses, der hier gewütet hatte, schlug mir regelrecht auf den Magen.

Als hätten sich meine Füße von mir losgelöst, machte ich zwei Schritte vorwärts.

Aus dem Augenwinkel gewahrte ich eine flüchtige Bewegung hinter der halb offenen Tür. In sofortiger, instinktiver Alarmbereitschaft drehte ich mich um, und was ich sah, war alles andere als beruhigend.

Ganser Mays stand dort, lauernd wie ein Falke. Die lange Nase glich einem spitzen Schnabel, und die Augen hinter der metallgerahmten Brille funkelten irr. Er hatte — das war die Bewegung — beide Arme zum Schlag erhoben, und in den Händen hielt er eine schwere, langstielige Axt.

Eine Tausendstelsekunde bevor die tödliche Schneide dort niederfuhr, wo ich gestanden hatte, sprang ich zur Seite.

«Holen Sie Hilfe«, rief ich Owen hastig zu.»Raus hier, und holen Sie Hilfe.«

Undeutlich sah ich sein angespanntes Gesicht, den offenen Mund, die aufgerissenen Augen, die dunkle Blutkruste auf der Wange. Einen Moment lang rührte er sich nicht, so daß ich schon dachte, er wollte nicht gehen, aber als mein Blick dann wieder auf die Tür fiel, war er fort.

Ob Ganser Mays eigens auf mich gewartet hatte oder nicht, jetzt war er jedenfalls entschlossen, mit mir das gleiche zu machen wie mit meinem Eigentum. In den folgenden Minuten lernte ich sehr viel von ihm. Ich lernte Psychoterror kennen. Lernte Todesangst kennen. Lernte, daß es überhaupt nicht komisch ist, unbewaffnet, ungeübt in jeder Form von Selbstverteidigung einem Mann gegenüberzustehen, der morden will und das Werkzeug dafür hat.

Noch dazu war es meine eigene Axt.

Wir spielten eine grauenvolle Form von Fangen rund um die ramponierten Maschinen. Nur ein einziger dieser wilden Hiebe brauchte mich zu treffen, und ich war einen Arm oder ein Bein, wenn nicht mein Leben los. Er schlug zu, wann immer er nah genug herankam, und ich hatte nicht genügend Vertrauen in meine Schnelligkeit oder meine Kraft, um mich ihm entgegenzustellen. Ich konnte immer noch gerade so ausweichen und dem Verhängnis entgehen, indem ich um die kaputte Drehbank lief… um die Fräsmaschine… die Bügelsäge… und zurück zur Drehbank… vom Tod jeweils genau um die Breite jener kostbaren Metallblöcke getrennt.

Immer wieder von einer Seite der Werkstatt zur anderen.

Die Übergänge zwischen geistiger Gesundheit und Wahnsinn sind fließend, und nach der einen oder anderen Definition war Ganser Mays vielleicht normal. Auf alle Fälle vergaß er in seiner rasenden Zerstörungswut durchaus nicht, daß ich durch die Tür entkommen könnte. Von dem Moment an, als ich an ihm vorbeigegangen und in die Werkstatt eingetreten war, ließ er mir keine Chance, den Ausgang wieder zu erreichen.

Werkzeug aus den umgerissenen Regalen lag auf dem

Boden verstreut, aber es waren vorwiegend kleinere Teile, und sie lagen auch nicht um die Maschinen herum, sondern auf der anderen Werkstattseite. Ich hätte den Schutz der Maschinen verlassen und den offenen Raum durchqueren müssen, um mich zu bewaffnen; aber nichts dort war so schwer oder so brauchbar wie die Axt, und wegen Meißeln, Sägen, Bohreisen durfte ich die Deckung nicht aufgeben.

Bis Owen Hilfe brachte, konnte ich mich vielleicht halten…

Atemnot… ich war durchschnittlich fit, aber kein Sportler. Den müden Muskeln blieb der Sauerstoff versagt, meine Bewegungen wurden verhängnisvoll langsam. Ich wußte, ich durfte nicht auf dem Öl ausrutschen, durfte nicht über die Verschraubungen der Bodenplatten stolpern, durfte mich keine Sekunde lang irgendwo festhalten, wenn ich meine Finger behalten wollte.

Er zeigte keine Ermüdung, sein Eifer ließ nicht nach. Ich achtete mehr auf die Axt als auf sein Gesicht, aber was ich von seinen starren, fanatischen, seltsam maskenhaften Zügen zu sehen bekam, ließ nicht hoffen, daß er aufhören könnte, bevor er sein Ziel erreicht hatte. Ihm zureden zu wollen war ungefähr so sinnvoll wie ein Appell an die Vernunft einer Lawine. Ich versuchte es gar nicht erst.

Der Atem rasselte in meinem Hals. Owen… verdammt, wo blieb er? Wenn er sich nicht beeilte, war es zu spät, dann konnte er sich ebenso gut bis morgen Zeit lassen.

Die Axt krachte so dicht an meiner Schulter vorbei, daß mir schauderte und ich zu verzweifeln begann. Er würde mich umbringen. Ich würde ihn spüren, den scharfen Stahl… die Schmerzen erleiden und das Blut spritzen sehen… zerschmettert und zerhackt werden wie alles andere.

Ich war auf der Seite, wo sich der Elektromotor für die Maschinen befand. Ganser Mays war zwei Schritte entfernt, hob die Axt, sah gnadenlos und wild aus. Ich zitterte, keuchte, suchte immer noch fieberhaft nach einem Fluchtweg, und weniger aus Tücke als um ihn für eine kostbare Sekunde abzulenken, legte ich den Hauptschalter um.

Der Motor summte und aktivierte den Hauptriemen, der das große Rad unter der Decke antrieb und die lange Welle in der

Werkstatt rundlaufen ließ. Die Treibriemen der Maschinen klatschten los wie immer, nur daß diesmal die Hälfte von ihnen durchgehauen war und wie Papierschlangen in der Luft flatterte.

Einen Wimpernschlag lang ließ er mich aus den Augen. Ich lief um den Elektromotor herum, der viel kleiner war als die Maschinen und wenig Schutz bot, und ruckartig drehte er mir wieder den Kopf zu.

Er sah, daß ich ohne Deckung war. Siegesbewußtsein leuchtete in seinem blassen, verschwitzten Gesicht auf. Er schwang die Axt hoch über den Kopf und ließ sie mit voller Wucht auf mich niedersausen. Ich sprang verzweifelt nach der Seite, rutschte aus, stürzte und dachte im Fallen, das sei es gewesen, das sei das Ende, er würde mich erschlagen, bevor ich aufstehen könnte.

Wieder hob er die Axt. Ich sah es kaum und trat verzweifelt nach seinen Fußgelenken. Traf ihn. Brachte ihn für einen Sekundenbruchteil aus dem Gleichgewicht. Es war nur eine Sache von Zentimetern, und der Schlag behielt seine ganze Wucht, bekam aber eine etwas andere Richtung. Anstatt mich zu treffen, fuhr die Axt in den Treibriemen für die Maschinen, und einen verhängnisvollen Augenblick lang hielt Ganser Mays den Stiel fest. Ob er dachte, ich hätte irgendwie die Axt gepackt und wollte sie ihm entreißen, weiß der Himmel. Jedenfalls hielt er sie fest, und der rotierende Riemen riß ihn von den Füßen.

Der Hauptriemen drehte sich mit ungefähr drei Metern pro Sekunde. Nach einer Sekunde war Ganser Mays an dem großen Rad oben. Da ließ er wahrscheinlich den Axtstiel los, aber das Rad erfaßte ihn und quetschte ihn in den schmalen Zwischenraum unter der Decke.

Er schrie… ein lauter, abgewürgter Schrei in höchster Not.

Das Rad drückte ihn unerbittlich auf die andere Seite durch. Ein weicher menschlicher Körper kann einen Motor für Werkzeugmaschinen nicht aufhalten.

Er fiel vom höchsten Punkt herunter und schlug mit einem Übelkeit erregenden Geräusch nicht weit von mir auf dem Beton auf, während ich mich noch hochrappelte. Alles war so ungeheuer schnell geschehen, daß er an der Decke und schon wieder unten war, ehe ich noch auf die Füße kam.

Die Axt hatte sich gelöst und war neben ihm heruntergefallen, so nah, als brauchte er nur die Hand zu heben und könnte weitermachen, wo er aufgehört hatte.

Doch Ganser Mays würde nie wieder aufstehen.

Ich blickte auf ihn nieder, während der Motor dröhnte und das große, todbringende Rad sich wie gewohnt unbeteiligt drehte, und die verbliebenen Treibriemen der Maschinen schlugen leise ihren Takt wie immer.

Man sah kaum Blut. Sein Gesicht war weiß. Die Brille war weg und die Augen halb geöffnet. Die spitze Nase saß völlig schief im Gesicht. Der Hals war in einem unmöglichen Winkel verdreht — und was immer sonst noch gebrochen sein mochte, allein das genügte.

Ich rang erst einmal nach Luft, naßgeschwitzt und zitternd vor Erschöpfung, extremer Anspannung und Furcht. Dann verließen mich mit einemmal die Kräfte, und ich setzte mich neben dem Elektromotor auf den Boden und legte haltsuchend den Arm auf ihn, schlaff wie eine welke Lilie. Null Gedanken. Null Gefühl. Nichts als dumpfe, unsägliche Erschöpfung.

In diesem Augenblick kam Owen zurück. Der Helfer, den er mitbrachte, trug eine echte marineblaue Uniform und ein echtes schwarzweiß kariertes Band um die Mütze. Er sah sich nur kurz um und rief Verstärkung.

Stunden später, als alle aus dem Haus waren, ging ich noch einmal hinunter in die Werkstatt. Oben war wunderbarerweise nichts angerührt worden. Entweder hatten wir durch unsere Rückkehr den Programmablauf unterbrochen, oder er hatte nur die Werkstatt im Visier gehabt. Jedenfalls konnte ich beim Anblick des friedlichen Wohnzimmers gehörig aufatmen.

Owen und ich hatten schlapp herumgesessen, während die Routinearbeit der Polizei ihren Lauf nahm, und nach mehrmaliger Befragung und dem Abtransport des verstorbenen Mr. Mays waren wir endlich wieder allein.

Es war schon Sonntagmorgen. Unbekümmert strahlte die Sonne am Himmel. Regent's Park glitzerte im Frost, und die

Pfützen waren eisüberzogen.

«Gehen Sie schlafen«, sagte ich zu Owen.

Er schüttelte den Kopf.»Ich fahre mal besser heim.«

«Kommen Sie wieder, wenn Sie auskuriert sind.«

Er lächelte.»Morgen«, sagte er.»Dann wird erst mal gefegt.«

Als er fort war, wanderte ich ziellos umher, las Kaffeetassen auf, leerte Aschenbecher und dachte unzusammenhängende Gedanken. Zu müde und zu unruhig, um zu schlafen, landete ich schließlich noch einmal in der verwüsteten Werkstatt.

Der Geist des Toten war verschwunden. Die Luft vibrierte nicht mehr von gewalttätigem Haß. Im Morgenlicht sah die ganze schmutzige Bescherung einfach nach den Überresten einer abstrusen Orgie aus.

Ich ging langsam durch den Raum, drehte hier und da einen Gegenstand mit dem Fuß um. Die Arbeit von zwanzig Jahren lag in Scherben vor mir. Pläne wie zu Konfetti zerrissen. Zertretenes Spielzeug. Nichts war zu retten oder zu reparieren.

Kopien der Entwürfe konnte ich mir wohl beschaffen, denn natürlich hatte das Patentamt Ablichtungen davon. Aber die Originale und die ganzen handgefertigten Modelle waren unwiederbringlich verloren.

Ich stieß auf die Reste des Karussells, das ich mit fünfzehn gebaut hatte. Das erste Rola; der Anfang von allem. Ich hockte mich hin und wühlte in den Einzelteilen, während ich an jenen fernen, entscheidenden Sommer dachte, in dem ich aus der Werkstatt meines Onkels tagelang nicht herauskam und die Ideen wie eine Fontäne frischen Bohröls meinem halb kindlichen, halb erwachsenen Verstand entsprungen waren.

Ich hob eins der kleinen Pferde auf. Das blaue, mit weißer Mähne, weißem Schweif. Das zuletzt gebaute von den sechsen. Der goldene Gerstenzuckerstab, der es mit der kreisenden Kuppel verbunden hatte, war zwei Zentimeter über dem Rücken des Pferdes abgeknickt. Ein Vorderbein und ein Ohr fehlten ihm.

Ich drehte es betrübt in den Händen und sah unendlich traurig auf das Chaos. Arme kleine Spielsachen. Armes kleines Spielzeug, aus und vorbei.

Letztlich hatte es mich doch sehr viel gekostet, Energise zurückzubekommen.

Dreh die Kurbel, hatte Charlie gesagt, und all die kleinen Spielsachen drehen sich auf ihren Spindeln und tun, was sie tun sollen. Aber Menschen waren kein Spielzeug, und Jody, Macrahinish und Ganser Mays hatten sich gewaltsam selbständig gemacht und das Spiel aus dem Ruder laufen lassen.

Hätte ich das Recht nicht selbst in die Hand genommen, wäre ich nicht zusammengeschlagen und wegen Trunkenheit verurteilt worden. Ich hätte den Kaufpreis für Black Fire gespart und eine Menge anderer Ausgaben. Ich hätte Owen nicht den gefährlichen Einsatz als Wächter zugemutet und brauchte mich nicht verantwortlich zu fühlen für den finanziellen Ruin von Jody und Felicity, für den nächsten Gefängnisaufenthalt von Macrahinish und den Tod von Ganser Mays.

Überflüssig zu sagen, daß ich ihnen so viel Böses nicht gewünscht hatte oder daß sie alles der eigenen Gewalttätigkeit zuzuschreiben hatten. Ich war es, der ihnen den ersten Anstoß gab.

War das richtig von mir?

Wünschte ich, ich hätte es nicht getan?

Ich stand auf, lächelte unglücklich über das Chaos um mich herum und wußte, daß die Antwort auf beide Fragen nein war.

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