Das Leben kam als undurchdringlicher Schleier zurück. Ich konnte nicht richtig sehen. Nichts erkennen. Hörte seltsame Geräusche. Bekam meinen Körper nicht unter Kontrolle, konnte die Beine nicht bewegen, den Kopf nicht heben. Konnte nicht sprechen. Mir drehte sich alles. Alles war zusammenhanglos und verschwommen.»Betrunken«, sagte jemand deutlich. Das Wort gab keinen Sinn. Ich jedenfalls war nicht betrunken.
«Sturzbesoffen.«
Der Boden war naß. Glänzend. Blendete mich. Ich saß auf dem Boden. Zusammengesackt, etwas Hartes im Rük-ken. Ich schloß die Augen vor dem Geflirr, und alles drehte sich noch schlimmer. Ich merkte, wie ich wegkippte. Schlug mit dem Kopf an. Die Wange im Nassen. Die Nase im Nassen. Lag auf dem harten, nassen Boden. Um mich herum ein Geräusch wie Regen.
«Sachen gibt's«, sagte eine Stimme.»So, dann wollen wir mal.«
Starke Hände griffen mir unter die Achseln und packten meine Fußgelenke. Ich konnte mich nicht wehren. Begriff nicht, wo ich war und was mit mir geschah.
Irgendwie schien ich auf der Rückbank eines Autos zu sein. Ich roch die Polsterung. Lag mit der Nase darauf. Irgend jemand atmete sehr laut. Schnaufte fast. Irgend jemand sagte etwas. Ein Durcheinander von Lauten, die keine Wörter ergaben. Ich konnte es nicht sein, der da sprach. Sicher nicht.
Der Wagen blieb mit einem Ruck stehen. Der Fahrer fluchte. Ich rollte vom Sitz herunter und verlor das Bewußtsein.
Als nächstes dann helles Licht, und wieder trugen mich Leute. Ich versuchte etwas zu sagen. Brachte nur ein Gelalle heraus. Diesmal wußte ich, daß das Gelalle von mir selber kam.
«Er kommt wieder zu sich«, sagte jemand.
«Raus hier mit ihm, bevor er sich übergibt.«
Abmarsch. Ich wieder als Traglast. Laute Tritte auf hallendem Boden.
«Verdammt schwer, der Gute.«
«Wirklich ärgerlich.«
Der Drehwurm blieb. Das ganze Gebäude drehte sich wie ein Karussell.
Karussell.
Ansätze von Selbstgefühl kamen wieder. Ich war nicht bloß ein Haufen seltsamer, irrlaufender Empfindungen. Irgendwo tief im Innern war ich… jemand.
Karussells schwirrten durch mein Bewußtsein. Ich lag auf einem Bett. Grelles Licht blendete mich jedesmal, wenn ich die Augen öffnen wollte. Die Stimmen entfernten sich.
Zeit verging.
Mir wurde unbeschreiblich schlecht. Ich hörte jemand stöhnen. Kam nicht darauf, daß ich selber stöhnte. Nach einiger Zeit merkte ich es dann doch und konnte es abstellen. Schritte kamen wieder. Trapp, trapp. Mindestens zwei
Leute.
«Wie heißen Sie?«
Wie ich hieß? Ich konnte mich nicht erinnern.
«Er ist völlig durchnäßt.«
«Was denn sonst? Er saß im Regen mitten auf dem Gehsteig.«
«Ziehen wir ihm die Jacke aus.«
Sie setzten mich auf und zogen mir die Jacke aus. Ich legte mich wieder hin. Die Hose wurde mir ausgezogen und eine Decke über mich gebreitet.
«Er ist sturzbetrunken.«
«Ja. Ich muß ihn mir aber ansehen. Die sind so lästig, wie sie breit sind. Besteht immer die Gefahr, daß so jemand auf den Kopf gefallen ist und sich einen Schädelbruch zugezogen hat. Dann stirbt er uns am Ende noch weg.«
Ich versuchte ihnen klarzumachen, daß ich nicht betrunken sei. Ein Schädelbruch… verdammt. Ich wollte doch nicht morgen aufwachen und tot sein.»Was sagt er?«Ich versuchte es noch einmal.»Nicht betrunken«, sagte ich.
Jemand lachte freudlos.
«Das riecht man am Atem.«
Woher wußte ich, daß ich nicht betrunken war? Die
Antwort entzog sich mir. Ich wußte es einfach… weil ich nicht genug… weil ich gar keinen Alkohol getrunken hatte. Woher ich das wußte? Ich wußte es einfach. Woher wußte ich das?
Während diese unergiebigen Gedanken durch das Chaos in meinem Kopf wirbelten, tasteten viele fremde Finger in meiner Frisur herum.
«Er hat sich den Kopf angeschlagen, verdammt. Eine ziemlich starke Schwellung.«
«Sein Zustand hat sich aber nicht verschlechtert, seit er hergebracht wurde. Es geht ihm eher besser.«
«Scott«, sagte ich plötzlich.
«Wie bitte?«
«Scott.«
«Ist das Ihr Name?«
Ich versuchte mich aufzusetzen. Das Licht drehte sich schwindelerregend.
«Wo… bin ich?«
«Das sagen sie alle.«
«In einer Zelle sind Sie, Verehrtester.«
«Was?«sagte ich.
«In einer Zelle im Polizeirevier Savile Row. Sinnlos betrunken.«
Unmöglich.
«Also, Wachtmeister, ich nehme ihm gerade mal Blut ab. Dann erledige ich die anderen Sachen, und danach sehe ich ihn mir zur Sicherheit noch mal an. Glaub zwar nicht, daß wir hier eine Fraktur haben, aber wir dürfen kein Risiko eingehen.«
«In Ordnung, Doc.«
Schwach registrierte ich den Einstich einer Nadel. Zeitverschwendung, dachte ich. Ich war nicht betrunken. Was dann…, außer daß mir schlecht und schwindlig war, daß ich in der Luft hing und mich nicht zurechtfand? Keine Ahnung. Zu viel Mühe, darüber nachzudenken. Ohne Gegenwehr fiel ich in einen Strudel schwarzen Schlafs.
Das nächste Erwachen war in jeder Hinsicht schlimmer. Ich mochte noch gar nicht aus dem Dunkel herausgezerrt werden. Mein Kopf tat furchtbar weh, meine Knochen schmerzten auch ganz schön, und insgesamt kam ich mir vor wie ein schwerer Fall von Seekrankheit.
«Guten Morgen, guten Morgen, verscheucht sind alle Sorgen. Täßchen Tee für Sie, unverdienterweise.«
Ich schlug die Augen auf. Das helle Licht war noch da, aber jetzt erkennbar nicht als aufgeblähter Mond, sondern als eine schlichte Glühbirne unter der Decke.
Ich schaute hin, wo die Stimme hergekommen war. Ein Polizist mittleren Alters stand da mit einem Pappbecher in der Hand. Hinter ihm eine Tür, auf einen Gang geöffnet. Um mich herum die engen Wände einer Zelle. Ich lag auf einem leidlich bequemen Bett, unter zwei warmen Decken.»Werden Sie langsam wieder nüchtern?«»Ich war nicht… betrunken. «Meine Stimme klang heiser, und mein Mund fühlte sich pelzig an wie eine Nerzstola.
Der Polizist hielt mir den Becher hin. Ich mühte mich auf einen Ellbogen hoch und nahm ihn ihm ab.
«Danke. «Der Tee war heiß, stark und gesüßt. Ich wußte nicht genau, ob mir davon nicht noch schlechter wurde.
«Der Arzt hat noch zweimal nach Ihnen gesehen. Sie waren betrunken. Und Sie haben sich den Kopf angeschlagen.«»Aber ich war nicht… «
«Doch, doch. Der Arzt hat ja eine Blutprobe gemacht.«
«Wo sind meine Kleider?«
«Ah ja. Die haben wir Ihnen ausgezogen. Sie waren naß. Ich hole sie.«
Er ging hinaus, ohne die Tür zu schließen, und ich versuchte in den wenigen Minuten seiner Abwesenheit zu sortieren, was los war. Ich konnte mich an einiges in der Nacht erinnern, wenn auch nebelhaft. Ich wußte auch, wer ich war. Immerhin. Ich sah auf meine Uhr: halb acht. Ich fühlte mich hundsmiserabel.
Der Polizist kam mit einem unglaublich verknitterten Anzug wieder, der jeder Ähnlichkeit mit dem entbehrte, in dem ich losgezogen war.
Losgezogen… wohin?
«Hier ist die Savile Row? Londoner West End?«
«Sie erinnern sich also, wie Sie hergekommen sind?«
«Lückenhaft. Nicht genau.«
«Der Streifenwagen hat Sie heute früh gegen vier irgendwo in Soho aufgegriffen.«
«Was hab ich da gemacht?«
«Bin ich überfragt. Soviel ich weiß, gar nichts. Sie haben nur volltrunken bei strömendem Regen auf dem Gehsteig gesessen.«
«Warum bin ich hergebracht worden, wenn ich nichts gemacht habe?«
«Zu Ihrem eigenen Schutz«, sagte er ohne Groll.»Betrunkene, die man sich selbst überläßt, leben gefährlich, deshalb sammeln wir sie ein. Man kann ja nicht zulassen, daß die auf die Fahrbahn laufen und Unfälle verursachen, daß sie sich den Schädel einrennen oder daß sie beim Aufwachen randalieren und Schaufenster einschmeißen, wie manche es tun.«
«Mir ist schlecht.«
«Wundert Sie das? Falls Sie kotzen müssen, unten am Bett steht ein Eimer.«
Er nickte mir nicht ganz ohne Mitgefühl zu und entfernte sich.
Ungefähr eine Stunde später wurde ich zusammen mit drei anderen Herren in dem gleichen bedauerlichen Zustand in die Marlborough Street gebracht und dem Schnellrichter vorgeführt. Betrunkene standen offenbar als erstes auf der Tagesordnung. Täglich.
In der Zwischenzeit hatte ich mich zögernd mit drei Dingen abgefunden.
Erstens, obwohl ich mich nicht erinnern konnte, etwas getrunken zu haben, war ich an diesem Morgen um vier völlig besoffen gewesen.
Zweitens, ob mir jemand abnahm, daß ich um halb zwei stocknüchtern siebzig Meilen entfernt in Berkshire gewesen war, spielte keine Rolle. Man würde dagegenhalten, daß ich auf dem Weg nach London reichlich Zeit gehabt hätte, mich zu betrinken.
Und das dritte, eigentlich unangenehmste, waren die vielen blauen Flecke an meinem Körper, die ich mir nicht erklären konnte.
Nach und nach hatte ich mich an meinen Besuch bei Jody erinnert. Ich wußte wieder, wie ich versucht hatte, es mit drei Mann auf einmal aufzunehmen, in jedem Fall ein törichtes Unterfangen, auch wenn man nicht an einen Spezialisten wie den Mann mit der Sonnenbrille geriet. Ich entsann mich, wie weich seine Nase sich angefühlt hatte, als meine Faust sie traf, und ich wußte auch, daß ich dafür Schläge von ihm bezogen hatte. Dennoch…
Ich zuckte die Achseln. Vielleicht erinnerte ich mich nicht an alles; daß ich mich betrunken hatte, wußte ich ja auch nicht mehr. Oder aber… Nun, Ganser Mays und Jody hatten Grund genug, mich nicht zu mögen, und Jody hatte Stiefeletten getragen.
Die Gerichtsverhandlung dauerte zehn Minuten.»Tatbestand Vollrausch «wurde mir vorgeworfen. Tatbestand? fragte ich. In der Tat, kam es zurück.»Schuldig oder nicht schuldig?«»Schuldig«, sagte ich resigniert.
«Fünf Pfund Strafe. Brauchen Sie eine Zahlungsfrist?«
«Nein, Sir.«
«Gut. Der nächste, bitte.«
Von dem kleinen Vorzimmer aus, wo ich die Strafe zahlen sollte, rief ich Owen Idris an. Die Zahlung hatte sich doch als problematisch erwiesen, da in meinem provisorisch getrockneten Anzug keine Brieftasche zu finden war. Auch kein Scheckbuch. Und im übrigen auch keine Schlüssel. Konnte das alles in Savile Row geblieben sein? fragte ich. Jemand hörte nach. Fehlanzeige. Man hatte mich mit leeren Taschen aufgegriffen. Kein Identitätsnachweis, kein Geld, keine Schlüssel, kein Schreiber, kein Taschentuch.
«Owen? Stecken Sie zehn Pfund ein, und kommen Sie mit dem Taxi zum Gericht in der Marlborough Street.«»Sehr wohl, Sir.«»Jetzt gleich.«
«Natürlich.«
Ich fühlte mich grauenhaft. Ich nahm mir einen Stuhl und fragte mich, wie lange es dauerte, bis eine halbe Flasche Schnaps abgebaut war.
Owen kam nach einer halben Stunde und gab mir wortlos das Geld. Auch sein Gesicht verriet keine Überraschung darüber, mich in einer so mißlichen Lage zu sehen und obendrein noch unrasiert. Ich war mir nicht sicher, ob ich seine mangelnde Überraschung zu schätzen wußte. Mir fiel auch keine plausible Erklärung ein. Ich zahlte einfach die fünf Pfund und sah zu, daß ich nach Hause kam. Owen saß im Taxi neben mir und musterte mich alle hundert Meter verstohlen von der Seite.
Ich schleppte mich hinauf ins Wohnzimmer und warf mich aufs Sofa. Owen war unten geblieben, um das Taxi zu bezahlen, und ich hörte ihn in der Diele mit jemand reden. Jetzt bloß kein Besuch, dachte ich. Ich wollte nichts als vierundzwanzig Stunden lang vergessen.
Der Besucher war Charlie.
«Ihr Diener sagt, Ihnen geht's nicht gut.«
«Mhm.«
«Du lieber Gott!«Er stand neben mir und sah auf mich nieder.»Was ist denn mit Ihnen passiert?«
«Lange Geschichte.«
«Hm. Ob Ihr Diener uns einen Kaffee kocht?«
«Fragen Sie ihn… er wird in der Werkstatt sein. Da drüben ist die Sprechanlage. «Ich nickte zur Tür auf der anderen Seite und wünschte, ich hätte es nicht getan. Mein ganzer Hirnkasten fühlte sich mürbe an.
Charlie redete über die Sprechanlage mit Owen, und Owen kam mit seinem höflichsten Gesicht herauf und hantierte in der Küche mit Filtern.
«Was ist mit Ihnen?«fragte Charlie.
«Kaputt, betrunken und…«Ich schwieg.
«Und was?«
«Nichts.«
«Sie brauchen einen Arzt.«
«Ich war bei einem Polizeiarzt. Oder vielmehr… er bei mir.«
«Sie müßten mal Ihre Augen sehen«, sagte Charlie ernst.»Und ob es Ihnen paßt oder nicht, ich rufe Ihnen jetzt einen Arzt. «Er ging in die Küche, um Owen nach der Nummer zu fragen, und ich hörte kurz den Nebenanschluß klingeln, als er sein Vorhaben ausführte. Dann kam er zurück.
«Was ist mit meinen Augen?«
«Punktgroße Pupillen und glasiger Blick.«
«Reizend.«
Owen kam mit dem Kaffee, doch so angenehm er duftete, ich brachte kaum etwas davon herunter. Beide Männer sahen mich mit einem Ausdruck an, den man nur besorgt nennen konnte.
«Wie sind Sie in diesen Zustand geraten?«fragte Charlie.
«Soll ich gehen, Sir?«fragte Owen höflich.
«Nein. Nehmen Sie Platz, Owen. Sie können es ruhig auch hören…«Er setzte sich bequem in einen kleinen Sessel, ohne sich zu zieren oder sich breitzumachen. Ich schätzte Owens Anpassungsfähigkeit und sein gelassenes Verhältnis zu Lohn und Arbeit über alles, denn sie ermöglichten uns eine Beziehung, in der wir beide, Herr wie bezahlter Diener, unsere Würde wahren konnten. Vor noch nicht einem Jahr hatte ich ihn eingestellt; ich hoffte, er blieb, bis er umfiel.
«Ich bin gestern abend nach Einbruch der Dunkelheit zum Stall von Jody Leeds gefahren. Ich hatte kein Recht, ihn zu betreten. Jody und zwei andere Männer überraschten mich dabei, wie ich mir in einer Box ein Pferd ansah. Es kam zu einem Handgemenge, und ich schlug mir — vermutlich an der Krippe — den Kopf an und verlor das Bewußtsein.«
Ich machte eine Atempause. Meine Zuhörer schwiegen.
«Als ich zu mir kam, saß ich sturzbetrunken auf einem Gehsteig in Soho.«
«Unmöglich«, sagte Charlie.
«Nein. Es ist passiert. Die Polizei hat mich aufgegriffen, wie sie es anscheinend mit allen Betrunkenen tut, die auf dem Pflaster stranden. Den Rest der Nacht habe ich in einer Zelle verbracht, dann mußte ich fünf Pfund Strafe zahlen, und jetzt bin ich hier.«
Eine lange Pause trat ein.
Charlie räusperte sich.»Ehm… das wirft einige Fragen auf.«
«Allerdings.«
Owen sagte ruhig:»Der Wagen, Sir. Wo haben Sie den Wagen gelassen?«Der Wagen war sein besonderer Liebling, gehegt und gepflegt wie Tafelsilber.
Ich erklärte ihm genau, wo ich ihn abgestellt hatte. Und fügte hinzu, daß ich die Schlüssel vermißte, ebenso wie meine Schlüssel für die Wohnung und die Werkstatt.
Charlie und Owen zeigten sich bestürzt und kamen überein, daß Owen, noch bevor er den Wagen abholte, alle meine Schlösser auswechseln sollte.
«Die Schlösser habe ich selbst gebaut«, wandte ich ein.
«Möchten Sie, daß Jody hier hereinmarschiert, während Sie schlafen?«
«Nein.«
«Dann wechselt Owen die Schlösser aus.«
Ich machte keine Einwendungen mehr. Seit einiger Zeit schon tüftelte ich an einem neuartigen Schloß, doch ich hatte es noch nicht angefertigt. Es war aber reif. Ich würde es als Spielzeug für Kinder, die ihre Geheimnisse wegschließen wollten, anlegen und patentieren lassen, und wer weiß, in zwanzig Jahren sicherte es vielleicht die Hälfte aller Türen im Land gegen Einbrecher. Mein Schloß kam ohne Schlüssel, ohne Elektronik aus, und es ließ sich nicht knak-ken. Ich hatte es komplett im Kopf, seine Arbeitsteile griffen nahtlos ineinander.
«Geht es Ihnen gut?«sagte Charlie unvermittelt.
«Bitte?«
«Einen Moment lang sah es aus…«Er brach ab und sprach den Satz nicht zu Ende.
«Ich liege nicht im Sterben, falls Sie das meinen. Ich habe nur so eine Idee für ein neues Schloß.«
Charlies Aufmerksamkeit erhöhte sich so schnell wie in Sandown.
«Revolutionär?«fragte er hoffnungsvoll.
Ich lächelte innerlich. Das Wort paßte in mehr als einer Hinsicht, denn einige Teile des Schlosses würden sich drehen wie eine Revolvertrommel.
«Könnte man sagen«, stimmte ich zu.
«Denken Sie… an meine Bank.«
«Ja.«
«Niemand außer Ihnen würde etwas erfinden, wenn er halb tot ist.«
«Ich sehe vielleicht aus, als wäre ich halb tot«, sagte ich,»aber ich bin es nicht. «Vielleicht fühlte ich mich so, aber das würde vorbeigehen.
Die Türklingel schrillte.
«Falls es nicht der Arzt ist«, bat Charlie Owen,»sagen Sie, unser Freund sei nicht da.«
Owen nickte kurz und ging nach unten, doch als er wiederkam, war nicht der Arzt bei ihm, sondern ein unerwarteter und viel willkommenerer Besuch.
«Miss Ward, Sir.«
Noch bevor er ausgeredet hatte, kam sie zur Tür hereingefegt wie ein Schwall frischer Luft, ihr Gesicht so klar und schön, ihre Kleider so gepflegt, wie ich verschmuddelt und verdreckt war.
Sie sah aus wie das blühende Leben, ihre Vitalität erhellte den Raum.
«Steven!«
Zwei Schritte vor dem Sofa blieb sie wie angewurzelt stehen und starrte mich an. Sie blickte zu Charlie und Owen.»Was fehlt ihm?«
«Zuviel herumgesumpft«, sagte ich.»Darf ich liegenbleiben?«
«Grüß Sie«, sagte Charlie höflich.»Ich bin Charlie Canterfield. Ein Freund von Steven. «Er gab ihr die Hand.
«Alexandra Ward«, antwortete sie ein wenig verwirrt.
«Ihr kennt euch schon«, sagte ich.
«Was?«
«Von der Walton Street.«
Sie sahen sich an und begriffen, was ich meinte. Charlie übernahm es, Allie zu erklären, wie ich in einen so bedauerlichen Zustand geraten war, und Owen ging die Schlösser kaufen. Ich lag auf dem Sofa und ließ mich treiben. Der ganze Morgen kam mir sprunghaft und unzusammenhängend vor, als müßten meine Gedanken Kluft für Kluft überwinden.
Allie zog einen ledernen Hocker heran und setzte sich neben mich, ein sehr heilsames Beginnen. Sie legte ihre Hand auf meine. Noch besser.
«Sie sind verrückt«, sagte sie.
Ich seufzte. Man konnte nicht alles haben.
«Haben Sie vergessen, daß ich heute abend abreise?«
«Nein«, sagte ich.»Obwohl es jetzt so aussieht, als müßte ich mein Angebot, Sie zum Flughafen zu bringen, zurückziehen. Ich glaube, ich bin nicht fahrtüchtig. Und mein Wagen ist auch weg.«
«Deswegen bin ich eigentlich gekommen. «Sie zögerte.»Ich will mich nicht mit meiner Schwester zanken…«Sie schwieg und ließ die familiären Spannungen unausgesprochen.»Ich wollte auf Wiedersehen sagen.«
«Und tschüs?«
«Wie meinen Sie?«
«Auf bald oder endgültig?«
«Was wäre Ihnen denn lieber?«
Charlie lachte leise.»Das scheint mir aber eine gefährliche Frage zu sein.«
«Sie sollen doch gar nicht zuhören«, sagte sie mit gespielter Strenge.
«Auf bald«, sagte ich.
«Gut. «Sie zeigte ihr strahlendes Lächeln.»Das ist mir recht.«
Charlie wanderte im Zimmer umher und schaute sich um, machte aber keine Anstalten zu gehen. Allie kümmerte sich nicht um ihn. Sie strich mir das Haar aus der Stirn und küßte mich sanft. Ich ließ es mir nur zu gern gefallen.
Bald darauf kam der Arzt. Charlie öffnete ihm und informierte ihn offenbar auf dem Weg nach oben. Er und
Allie verzogen sich in die Küche, wo ich sie frischen Kaffee kochen hörte.
Der Arzt half mir, mich bis auf die Unterhose freizumachen. Ich hätte viel lieber meine Ruhe gehabt. Er klopfte meine Reflexe ab, leuchtete mir in die Augen und Ohren und betastete meine vielen blauen Flecke. Dann setzte er sich auf den Hocker, den Allie herangeholt hatte, und kniff sich in die Nase.»Gehirnerschütterung«, sagte er.»Bleiben Sie acht Tage im Bett.«
«Seien Sie nicht albern«, protestierte ich.
«Wäre das beste«, meinte er knapp.
«Hindernisjockeys reiten und siegen mit einer Gehirnerschütterung.«
«Hindernisjockeys sind ausgemachte Narren. «Er musterte mich verdrießlich.»Wären Sie ein Jockey, würde ich sagen, ein Zwölferfeld ist über Sie hinweggetrampelt.«
«Und so?«
«Hat Sie jemand geschlagen?«
Das war keine Frage, wie man sie von seinem Arzt erwartet. Schon gar nicht so sachlich gestellt.
«Ich weiß es nicht«, sagte ich.
«Klar wissen Sie das.«
«Ich gebe zu, daß es mir ein bißchen so vorkommt, aber wenn man mich geschlagen hat, war ich bewußtlos.«
«Mit einem schweren, stumpfen Gegenstand«, ergänzte er.»Die Flecke sind groß. «Er deutete auf mehrere ausgedehnte, sich rötende Stellen an meinen Oberschenkeln, an Armen und Oberkörper.
«Ein Stiefel?«sagte ich.
Er sah mich nüchtern an.»Sie haben schon an die Möglichkeit gedacht?«
«Zwangsläufig.«
Er lächelte.»Ihr Freund, der mich hereingelassen hat, sagte, Sie seien auch betrunken gemacht worden, während Sie bewußtlos waren.«
«Ja. Schlauch in den Hals?«tippte ich an.
«In welchem Zeitraum?«
Ich grenzte es möglichst genau ein. Er schüttelte zweifelnd den Kopf.»Ich glaube nicht, daß in den Magen geleiteter Alkohol so schnell zu einer derartigen Vergiftung führt. Es dauert recht lange, bis eine so große Menge Alkohol durch die Magenwand in die Blutbahn absorbiert wird. «Er dachte laut nach.»Zwei Komma neun Promille… und Sie waren nach dem Schlag auf den Kopf vielleicht zwei Stunden oder etwas länger bewußtlos. Hm.«
Er beugte sich vor, ergriff meinen linken Unterarm und inspizierte ihn minuziös von allen Seiten. Dann machte er das gleiche mit dem rechten Arm und wurde fündig.
«Da«, rief er aus.»Sehen Sie das? Ein Einstich. Direkt in die Vene. Den haben Sie durch den Schlag, der das Gewebe rundherum gequetscht hat, zu vertuschen versucht. In ein paar Stunden ist der Einstich nicht mehr zu sehen.«
«Betäubungsmittel?«fragte ich zweifelnd.
«Nein, mein Lieber. Wahrscheinlich Gin.«
«Gin!«
«Warum nicht? Direkt in die Blutbahn. Sehr viel effizienter als ein Magenschlauch. Führt wesentlich schneller zum Ziel. Eigentlich tödlich. Und insgesamt weniger mühsam.«
«Aber… wie denn? Man kann doch eine Ginflasche nicht an eine Kanüle anschließen.«
Er grinste.»Nein, nein. Man würde einen Tropf legen. Mit physiologischer Kochsalzlösung. Gängige Ware. Gibt's in Plastikbeuteln in jeder Apotheke. Man gießt einfach einen halben Liter Gin in die Lösung und läßt sie direkt in die Vene tropfen.«
«Aber wie lange würde das dauern?«
«Na, so etwa eine Stunde. Ein böser Schock für den Organismus.«
Ich dachte darüber nach. Wenn es so geschehen war, dann hatte ich auf dem größten Teil der Fahrt nach London Gin ins Blut geträufelt bekommen. Um es noch an Ort und Stelle zu machen und dann loszufahren, war die Zeit zu knapp gewesen.
«Und wenn ich zu mir gekommen wäre?«fragte ich.
«Sind Sie zum Glück aber nicht. Wäre kein Problem gewesen, Sie wieder bewußtlos zu schlagen, denke ich mal.«
«Sie nehmen das alles sehr gelassen hin«, sagte ich.
«Sie doch auch. Und es ist ja auch interessant, nicht wahr?«
«Durchaus«, sagte ich trocken.