Kapitel 7

Charlie und Allie blieben zum Abendessen, das heißt, sie machten sich Omeletts und fanden noch etwas genießbaren Käse dazu. Charlie schien derweil Lücken gefüllt zu haben, denn als sie mit ihren Tabletts ins Wohnzimmer kamen, war Allie offensichtlich über ihn im Bild.

«Möchten Sie was essen?«fragte Charlie.

«Nein.«

«Trinken?«

«Seien Sie still.«

«Entschuldigung.«

Der Körper baut Alkohol sehr langsam ab, hatte der Arzt gesagt. Nur 0,1 Promille pro Stunde. Es gab keine Möglichkeit, den Vorgang zu beschleunigen, und kein Kraut war gegen den Kater gewachsen, man mußte ihn einfach durchstehen. Für Leute, die sonst wenig tranken, war es am schlimmsten, weil für den Organismus ungewohnt. Ihr Pech, hatte er lächelnd hinzugefügt.

2,9 Promille fielen in den Bereich Volltrunkenheit. Neunundzwanzig Stunden zum Ausnüchtern. Zehn hatte ich bis jetzt hinter mir. Kein Wunder, daß ich mich so gräßlich fühlte.

Während er sein Omelett aß, winkte mir Charlie mit der Gabel zu.»Was wollen Sie denn jetzt unternehmen?«

«Meinen Sie, ich soll zur Polizei gehen?«fragte ich mit unbeteiligter Stimme.

«Ehm… «

«Eben. Die Polizei kennt mich als den, dem sie heute nacht Gastfreundschaft gewährt hat, und der war so abgefüllt, daß alles, was er zur Anzeige bringt, halluziniert sein könnte.«

«Glauben Sie, Jody und Ganser Mays haben es deshalb gemacht?«

«Warum sonst? Und wahrscheinlich kann ich noch froh sein, daß sie mich nur diskreditiert haben, statt mich gleich um die Ecke zu bringen.«

Allie guckte entsetzt, was ich nett fand. Charlie sah es nüchterner.

«Leichen sind bekanntlich schwer zu beseitigen«, sagte er.

«Ich würde meinen, Jody und Ganser Mays haben schnell die Lage abgeschätzt und sich gesagt, daß es weit weniger gefährlich ist, Sie betrunken in London auszusetzen.«

«Es war noch ein anderer Mann dabei«, sagte ich und beschrieb meinen Freund mit der Sonnenbrille und den Muskelpaketen.

«Vorher schon mal gesehen?«fragte Charlie.

«Noch nie.«

«Der Mann fürs Grobe?«

«Vielleicht hat er auch Grips. Das kann ich so nicht sagen.«

«Eins ist sicher«, sagte Charlie.»Wenn es darum ging, Sie in Mißkredit zu bringen, wird sich Ihre kleine Eskapade bis morgen auf dem Turf herumgesprochen haben.«

Trübe Aussichten, dachte ich. Bestimmt hatte er recht.

Dann würde mir die Lust am Pferderennen noch mehr vergehen.

Allie sagte:»Sie hören es wahrscheinlich nicht gern, aber wenn ich Ihren Namen in den Dreck ziehen wollte, hätte ich heute morgen einen Klatschkolumnisten ans Gericht kommen lassen.«

«O verdammt. «Es wurde schlimmer und schlimmer.

«Wollen Sie da einfach liegenblieben«, sagte Charlie,»und zulassen, daß die triumphieren?«

«Er hat ein Problem«, meinte Allie lächelnd.»Was hatte er denn zu nächtlicher Stunde in Jodys Stall verloren?«

«Ah«, sagte ich.»Genau das ist der springende Punkt. Und wenn ich es Ihnen verrate, müssen Sie mir beide Ihr Ehrenwort geben, daß Sie es nicht weitersagen.«

«Ist das Ihr Ernst?«sagte Allie verwundert.

«Hört sich nicht so an«, bemerkte Charlie.

«Doch. Mein voller Ernst. Habe ich Ihr Wort?«

«Sie beschäftigen sich zuviel mit Spielsachen. Das ist Kinderei.«

«Viele Beamte verpflichten sich eidlich zur Geheimhaltung.«

«Na, also gut«, sagte Charlie genervt.»Ehrenwort.«

«Ehrenwort«, schloß sich Allie unbekümmert an.»Und jetzt raus damit.«

«Ich besitze ein Pferd namens Energise«, sagte ich. Sie nickten beide. Sie wußten es ja.»Mit dem Pferd war ich in einem beschädigten Transporter in Sandown eine halbe Stunde allein. «Wieder nickten sie beide.»Dann habe ich es zu Rupert Ramsey geschickt, und vorigen Sonntag morgen war ich wieder eine halbe Stunde mit ihm allein.«

«Na und?«sagte Charlie.

«Und das Pferd bei Rupert Ramsey ist nicht Energise.«

Charlie fuhr so jäh in die Höhe, daß sein Teller auf dem Teppich landete. Er bückte sich und tastete nach Omelettresten, während sein erstauntes Gesicht mich anschaute.

«Sind Sie sicher?«

«Ganz sicher. Es sieht ihm sehr ähnlich, und wäre ich nicht in dem kaputten Transporter so lange bei dem Pferd gewesen, hätte ich den Unterschied nie bemerkt. Besitzer kennen oft ihre Tiere nicht; das ist ein alter Witz. Aber an dem Tag in Sandown habe ich Energise kennengelernt. Daher wußte ich, als ich Rupert Ramsey besuchte, sehr bald, daß er ein anderes Pferd hat.«

«Also«, sagte Charlie langsam,»sind Sie gestern abend zu Jodys Stall gefahren, um nachzusehen, ob Energise noch dort ist?«

«Ja.«

«Und ist er noch da?«

«Ja.«

«Ganz sicher?«

«Absolut. Er hat eine leicht arabische Nase, eine Kerbe an der linken Ohrenspitze, eine zweipennygroße kahle Stelle an der Schulter. Er stand in Box Nr. 13.«

«Und da haben die Sie entdeckt?«

«Nein. Wissen Sie noch, Allie, wie wir in Newmarket waren?«

«Wie könnte ich das vergessen?«

«Erinnern Sie sich an Hermes?«

Sie krauste die Nase.»War das der Fuchs?«

«Genau. Also, ich bin mit Ihnen zu Trevor Kennet gefahren, weil ich sehen wollte, ob der Hermes in seinem Stall der Hermes war, den Jody gehabt hatte… wenn Sie verstehen, was ich meine.«

«War er es denn?«fragte sie fasziniert.

«Ich bin mir nicht sicher. Ich merkte, daß ich Hermes nicht gut genug kannte, und wenn Jody Hermes vertauscht hat, dann wahrscheinlich vor seinen beiden letzten Rennen im Sommer, denn da ist das Pferd schwach gelaufen und am Schluß des Feldes eingetrudelt.«

«Guter Gott«, sagte Charlie.»Haben Sie Hermes denn auch bei Jody gefunden?«

«Ich weiß es nicht. Da waren drei Füchse. Ohne Abzeichen, genau wie Hermes. Sie sahen sich untereinander sehr ähnlich. Ich konnte nicht sehen, ob einer von ihnen Hermes war. Aber in der Box so eines Fuchses haben Jody und die anderen mich entdeckt, und sie waren mit Sicherheit nicht nur wütend, sondern auch erschrocken.«

«Aber was hätte Jody davon?«fragte Allie.

«Er besitzt auch selbst Pferde«, sagte ich.»Das tun viele Trainer. Sie lassen sie im eigenen Namen laufen und verkaufen sie, wenn sie was taugen, mit Gewinn, vornehmlich an Besitzer, die schon Pferde im Stall haben.«

«Sie meinen also…«, sagte sie,»er hat Rupert Ramsey ein Pferd aus seinem eigenen Bestand geschickt und Energise behalten? Und wenn Energise das nächste große Rennen gewinnt, verkauft er ihn für eine hübsche Stange Geld an einen seiner Kunden und trainiert ihn weiter?«

«So ungefähr.«

«Menschenskind.«

«Ich muß mich fragen«, sagte ich mit einem ironischen Lächeln,»ob er mir nicht schon mal nach so einer Tauschaktion mein eigenes Pferd zurückverkauft hat.«

«Himmel«, sagte Charlie.

«Ich hatte zwei braune Jungstuten, die ich nicht auseinanderhalten konnte. Die erste siegte eine Zeitlang, dann ließ sie nach. Auf Jodys Rat hin habe ich sie verkauft und mir die zweite zugelegt, die aus seinem Bestand kam. Sie hat von Anfang an gesiegt.«

«Wie wollen Sie das beweisen?«sagte Allie.

«Mir scheint, da haben Sie schlechte Karten«, sagte Charlie.»Zumal nach dieser Strafe wegen Trunkenheit.«

Alle drei sannen wir schweigend über die Lage nach.

«Zum Donnerwetter«, platzte Allie schließlich heraus,»ich weiß wirklich nicht, warum dieser Typ, der Sie bestiehlt und Ihr Ansehen schädigt, ungestraft davonkommen soll.«

«Lassen Sie mir Zeit«, meinte ich nur.»Dann kriege ich ihn schon.«

«Zeit?«

«Zum Nachdenken«, erklärte ich.»Wenn ein Frontalangriff mir nichts als eine sofortige Beleidigungsklage einbringt, muß ich mir eben etwas ausdenken, wie ich ihn mit List von hinten packe.«

Allie und Charlie sahen sich an.

Charlie sagte zu ihr:»Vieles, was er als Kinderspielzeug konzipiert hat, ist sehr nutzbringend auf größere Maßstäbe übertragen worden.«

«So als hätte Cockerell das erste Hovercraft für die Badewanne gebaut?«

«Ganz genau. «Charlie nickte beifällig.»Und der Mann, der das Schießpulver erfunden hat, war nach außen sicher auch ganz harmlos.«

Sie schickte ein Lächeln von ihm zu mir, sah dann plötzlich auf ihre Armbanduhr und stand hastig auf.

«Ach du Schreck, ich hab geschlafen. Ich müßte schon seit einer Stunde weg sein. Meine Schwester frißt mich. Steven.. «

Charlie warf ihr einen resignierten Blick zu und brachte die Teller in die Küche. Ich löste meine faule Haut vom Sofa und stand auf.

«Ich wünschte, du würdest bleiben«, sagte ich.

«Ich muß wirklich zurück.«

«Hast du etwas dagegen, einen unrasierten Trunkenbold zu küssen?«

Anscheinend nicht. Es wurde so gut wie noch nie.

«Seit Kolumbus«, sagte ich,»ist der Atlantik geschrumpft.«

«Kommst du rüber?«

«Geschwommen, wenn's sein muß.«

Sie küßte mich kurz auf die stachlige Wange, lachte und ging schnell hinaus. Das Zimmer wirkte dunkler und leerer.

Mit einer ganz ungewohnten Heftigkeit wünschte ich, sie wäre noch da. In meinem Leben hatte ich wechselnde Frauenbekanntschaften gehabt und war hinterher jedes Mal wieder froh zum Singledasein zurückgekehrt. Mit fünfunddreißig, dachte ich flüchtig, wollte ich vielleicht doch eine Frau.

Charlie kam mit einer Tasse in den Händen aus der Küche.

«Setzen Sie sich, bevor Sie umfallen«, sagte er.»Sie schwanken wie das Empire State Building.«

Ich setzte mich aufs Sofa.

«Und trinken Sie das.«

Er hatte mir eine Tasse Tee gemacht, nicht stark, nicht schwach und mit nur wenig Milch. Ich trank ein paar

Schlucke und dankte ihm.

«Kommen Sie zurecht, wenn ich gehe?«sagte er.»Ich habe eine Verabredung.«

«Natürlich, Charlie.«

«Machen Sie nicht gleich wieder Dummheiten.«

Er knöpfte seinen Mantel zu, winkte mir mitfühlend und ging. Owen hatte inzwischen längst die Schlösser ausgewechselt und war mit einem Ersatzschlüssel losgefahren, um den Wagen abzuholen. Ich war allein in der

Wohnung. Sie wirkte viel stiller als sonst.

Ich trank den Tee aus, lehnte mich in die Kissen zurück und schloß die Augen, matt und erschlagen von Kopf bis Fuß. Verdammter Jody Leeds, dachte ich. Zur Hölle fahren soll er.

Kein Wunder, daß er so wild entschlossen gewesen war, Energise von Sandown mit nach Hause zu nehmen. Sicher hatte er das Double schon in seinem Stall stehen gehabt und nur auf einen günstigen Moment für den Austausch gewartet. Als ich dann sagte, Energise solle sofort woandershin, war er bereit gewesen, alles zu tun, um das zu verhindern. Hätte Jody statt Andy-Fred den Pferdetransporter gesteuert, dann wäre ich, daran zweifelte ich jetzt kaum noch, im Krankenhaus, wenn nicht im Leichenschauhaus gelandet.

Ich dachte über die Pässe nach, die zur Identifizierung britischer Vollblüter ausgegeben werden. Ein Blankopaß enthielt drei stilisierte Umrißlinien eines Pferdes, nämlich eine Seitenansicht links, eine rechts und eine Vorderansicht.

Wenn das Jungtier seinen Namen bekam, meist als Jährling oder Zweijähriges, trug der den Rennstall betreuende Tierarzt dessen Abzeichen in die Graphik ein und fügte eine schriftliche Beschreibung hinzu. Der Paß ging dann an die oberste Rennsportbehörde, die ihn stempelte, zu den Akten nahm und dem Trainer eine Kopie zukommen ließ.

Mir war gelegentlich aufgefallen, daß unter meinen Pferden kaum eine Blesse, ein Stern oder eine weiße Socke zu finden war. Ich hatte mir nie etwas dabei gedacht. Tausende von Pferden haben keine Abzeichen. Mir waren sie ohne sogar lieber.

Einmal ausgestellt, wurden die Pässe selten gebraucht. Von Auslandsreisen abgesehen, gab es meines Wissens die einzige Kontrolle an dem Tag, an dem das Pferd sein erstes Rennen lief, und auch da nicht aus Mißtrauen, sondern nur, um zu prüfen, ob die Beschreibung des Tierarztes wirklich zutraf.

Ich hatte keinen Zweifel, daß das Pferd, das jetzt statt Energise im Stall bei Rupert Ramsey stand, dem Paß von Energise in jeder Hinsicht entsprach. Einzelheiten wie die Form der Nase, die Rippenwölbung, der Winkel des Sprunggelenks standen ja nicht darauf.

Ich seufzte und drehte mich ein wenig, um diverse Wehwehs zu lindern. Ohne Erfolg. Jody hatte mit seinem Stiefel ordentlich ausgeteilt.

Mit Genugtuung dachte ich an den Bauchtritt, den ich Ganser Mays verpaßt hatte. Aber vielleicht hatte auch er sich revanchiert.

Plötzlich kam mir in den Sinn, daß Jody bei unsauberen Rennen gar nicht auf Raymond Child als Reiter angewiesen war. Jedenfalls nicht immer. Wenn er ein leistungsschwaches Double besaß, brauchte er es ja nur anstelle des guten Pferdes einzusetzen, wann immer es ein Rennen zu verlieren galt.

Die Geschichte des Rennsports war voll von Gerüchten über vertauschte Pferde, und zwar gute Pferde, die für schlechte liefen. Jody, da war ich mir sicher, hatte die Sache einfach umgedreht und schlechte Pferde unter dem Namen guter antreten lassen.

Wenn ich zurückschaute, war es allen meinen Pferden ziemlich gleich ergangen. Erst kam eine Phase sporadischer

Erfolge, durchsetzt allerdings mit Fehlschlägen, immer dann, wenn ich große Summen wettete, und danach ein langer Abstieg ohne jeden Erfolg. Sehr wahrscheinlich war die Flaute darauf zurückzuführen, daß ich mittlerweile auf dem Double saß, das in einer viel zu hohen Klasse antrat.

Das hätte erklärt, wieso Ferryboat den ganzen Herbst schwach gelaufen war. Nicht aus Unmut über Raymond Childs Peitsche, sondern weil er gar nicht Ferryboat war. Dasselbe mit Wrecker. Und mindestens bei einem der drei älteren Pferde, die ich in den Norden geschickt hatte.

Das allein waren schon fünf. Dazu die Jungstute. Dazu meine zwei ersten, bereits als Versager weiterverkauft. Acht. Ich hielt es für möglich, daß ich noch den echten Dial hatte und noch den echten Bubbleglass, denn das waren Sieglose, die ihren Wert erst noch beweisen mußten. Danach aber wären auch sie ausgetauscht worden.

Ein systematischer Betrug. Man mußte nur einen Dummen dafür finden.

Ahnungslos war ich zufrieden gewesen. Kein Besitzer erwartet, daß er dauernd gewinnt, und sicher hatte es auch viele Renntage gegeben, an denen Jodys Enttäuschung ungespielt war. Auch die bestangelegten Wetten gingen daneben, wenn das Pferd auf schnellere Gegner traf.

Das Geld, das ich bei Ganser Mays gelassen hatte, war Kleingeld gewesen im Vergleich zum Wert der Pferde.

Unmöglich herauszufinden, wie viele Tausender eigentlich auf diesem Weg verschwunden waren. Nicht nur, weil der Wiederverkaufswert der Doubles nach einer Serie schwacher Rennen gering war, sondern auch, weil die echten Pferde mir Rennpreise hätten bringen können und in Hermes' Fall womöglich auch noch Deckgelder. Der echte Hermes wäre vielleicht dafür geeignet gewesen. Das Double würde als Vierjähriger kontinuierlich verlieren, und niemand würde Nachkommen von ihm haben wollen. Jody hatte mich geschröpft, wo und wie er nur konnte.

Energise…

Mein Ärger nahm plötzlich zu. Für Energise empfand ich mehr Bewunderung und Zuneigung als für alle anderen. Bei ihm ging es nicht um den Geldwert. Er war ein Individuum, das ich in einem Pferdetransporter kennengelernt hatte. Irgendwie würde ich ihn mir zurückholen.

Ich wälzte mich herum und stand auf. Unklug. Die Kopfschmerzen, die mich den ganzen Tag begleitet hatten, dröhnten wie Hammerschläge. Ob das noch der Alkohol war oder die Gehirnerschütterung allein, änderte wenig am unangenehmen Ergebnis. Gereizt ging ich ins Schlafzimmer, zog einen Morgenmantel über Hemd und Hose und legte mich aufs Bett. Der kurze Dezembernachmittag wurde allmählich dämmrig grau, und meiner Schätzung nach waren jetzt zwölf Stunden vergangen, seit Jody mich auf der Straße abgesetzt hatte.

Ich fragte mich, ob der Arzt mit dem in die Vene geleiteten Gin richtig lag. Die Stelle, die er als Einstich gedeutet hatte, war wie vorausgesagt durch die Prellung verschwunden. Ich zweifelte, ob es überhaupt ein Einstich gewesen war. Die Methode schien bei Licht besehen unwahrscheinlich, denn sie hatte einen ganz schlichten Haken: Wieso hätte Jody einen Beutel Kochsalzlösung im Haus haben sollen? Es mochte stimmen, daß es sie in jeder Apotheke zu kaufen gab, aber nicht mitten in der Nacht.

Nur in London gab es auch nachts geöffnete Apotheken. Hätte die Zeit gereicht, um die M4 hinaufzubrettern, die Kochsalzlösung zu kaufen und sie mir einzuträufeln, während der Wagen mitten in London stand? Fast mit Sicherheit nicht. Und wozu die Mühe? Ein in den Schlund gesteckter Gummischlauch hätte es auch getan.

Nachdenklich massierte ich mir den Hals. Kein wundes Gefühl in der Kehle. Es bewies so und so nichts.

Noch weniger wahrscheinlich war, daß Ganser Mays, zu Besuch bei Jody, Injektionsnadel und Tropf dabeihatte. Rabenschwarzes Pech, dachte ich düster, daß ich ausgerechnet an einem der seltenen Abende bei Jody herumschnüffeln mußte, wo er nicht um halb elf im Bett lag. Wahrscheinlich war trotz aller Vorsicht der Strahl meiner Taschenlampe zu sehen gewesen. Wahrscheinlich war Jody mit hinausgekommen, um seine Gäste zu verabschieden, und sie hatten den wandernden Lichtschein entdeckt.

Ganser Mays. Ihn verabscheute ich auf eine ganz andere

Weise als Jody, denn ich hatte nie Sympathie für ihn empfunden. Von Jody fühlte ich mich zutiefst getäuscht, doch Ganser Mays hatte ich nie als Mensch vertraut, sondern ihn lediglich für einen ehrlichen Vertreter seines Berufsstands gehalten.

Nach Bert Huggernecks Schilderung von der Übernahme der kleinen Buchmacherfirma stand zu vermuten, daß Ganser Mays so viel Berufsehre besaß wie eine Krake. Seine

Fangarme schnellten vor, er umschlang das Opfer und saugte es aus.

Im Geist sah ich eine ganze Schar verzweifelter kleiner Männer in ihren Büros auf dem Boden sitzen, weil der Gerichtsvollzieher die Möbel gepfändet hatte, und vor Erleichterung schluchzen, wenn Ganser Mays anrief und sich erbot, ihnen die Bürde ihres Mietvertrags für einen Apfel und ein Ei abzunehmen. Und ich sah die gleiche Schar von kleinen Männern sich in schäbigen Kneipen betrinken vor Kummer über den Anblick der funkelnagelneuen

Ladenfronten, die sich aus der Asche ihres Untergangs erhoben.

Sicherlich waren die kleinen Männer unvorsichtig gewesen. Sie hätten den scheinbar todsicheren Tip nicht unbesehen schlucken dürfen, auch wenn sich die scheinbar sicheren Tips davor immer als Treffer erwiesen hatten. Jeder Kartenhai weiß, daß man dem Opfer, das man erst einmal gewinnen läßt, nachher am meisten abknöpfen kann.

Wenn Ganser Mays mich und andere im kleinen auf diese Tour kontinuierlich abgezogen hatte, wie mußte es ihn dann erst verlockt haben, ganze Firmen, die ihm eine Angriffsfläche boten, an sich zu reißen. Er hatte den Saft herausgesaugt, die Schalen ausgespuckt und war fett geworden.

Unmöglich zu beweisen, dachte ich. Wo falsche Tips herkamen, ließ sich nie genau feststellen, und die Schar bankrotter kleiner Männer sah in Ganser Mays wahrscheinlich ihren Retter, nicht den Initiator ihres Unglücks.

Ich stellte mir den Lauf der Ereignisse beim Start von Energise in Sandown aus der Sicht von Jody und Ganser Mays vor. Zuerst mußten sie übereingekommen sein, mich zu einer hohen Wette zu bewegen und das Pferd dann verlieren zu lassen. Vielleicht auch das Double an seiner Stelle einzusetzen. Bis zum Tag vor dem Rennen war das wohl ihr Plan. Aber ich weigerte mich zu wetten. Und ließ mich nicht überreden. Schneller Kriegsrat. Man wollte mich lehren, dann zu wetten, wenn mein Trainer es mir sagte. Das Pferd… Energise selbst… sollte auf Sieg laufen.

Gut. Aber der Chef von Bert Huggerneck fuhr nach Sandown in der Erwartung, ja der Gewißheit, daß Energise verlieren würde. Das konnten ihm nur Jody und Ganser Mays gesagt haben. Allenfalls noch Raymond Child. Ich überlegte, daß es aufschlußreich sein könnte herauszufinden, wann genau der Chef Bert Huggernecks den Tip bekommen hatte. Vielleicht konnte Bert ihn danach fragen.

Meine Gedanken schweiften zu Rupert Ramseys Büro und der leuchtendgrünen Wolle von Poppet Vine. Sie und ihr Mann hatten ein Wettkonto bei Ganser Mays, und Felicity Leeds hatte das arrangiert. Säuerlich fragte ich mich, ob Felicity etwa über Jodys Betrügereien im Bilde war. Vermutlich schon, denn sie kannte all ihre Pferde. Die Pfleger hielt es vielleicht nicht lange, weil ihnen die Arbeit zu hart war, aber Felicity ritt jeden Morgen zweimal aus und putzte und fütterte abends. Wenn ein Pferd vertauscht wurde, konnte ihr das nicht entgehen.

Ob sie Ganser Mays nun aus Loyalität, gegen Provision oder aus sonst einem Grund Kunden zuführte, wußte ich nicht, doch alles, was ich hörte und in Erfahrung brachte, sprach dafür, daß Jody Leeds und Ganser Mays zwar auf getrennten Wegen profitierten, durchweg aber gemeinsame Sache machten.

Dazu kam noch der dritte Mann, unser Schwerathlet mit Sonnenbrille. Die Axt im Haus. Ihn würde ich wohl nie vergessen: Regenmantel über schrankbreiten Schultern,

Mütze in der Stirn, dunkle Gläser vor den Augen… fast eine Verkleidung.

Aber ich hatte ihn nicht gekannt, ihn ganz bestimmt noch nie gesehen. Wozu hatte er morgens um halb zwei eine Verkleidung gebraucht, wo das Zusammentreffen mit mir doch völlig unerwartet kam?

Ich wußte von ihm nur, daß er irgendwann Boxen gelernt hatte. Daß seine Stellung innerhalb des Trios ihn dazu berechtigte, eigene Entscheidungen zu treffen, denn die beiden anderen hatten ihm nicht gesagt, er solle mich schlagen; er hatte es von sich aus getan. Daß Ganser Mays und Jody der Meinung waren, seiner zusätzlichen Kräfte zu bedürfen, falls ein Betrugsopfer einmal aggressiv werden sollte, denn sie selbst waren keine Hünen, auch wenn Jody auf seine Art durchaus Stärke besaß.

Der Nachmittag verging, und es wurde Abend. Bis jetzt hatte ich nur versucht, mir über das Geschehene und die Tragweite des Geschehenen klarzuwerden. All das war weit davon entfernt, mir aus der Patsche zu helfen oder Jody das Leben schwerzumachen. Als ich versuchte, da heranzugehen, hatte ich Mattscheibe.

In der Stille hörte ich deutlich das Geräusch der sich öffnenden Haustür. Mein Herz machte einen Satz. Der Puls ging so heftig wie in Jodys Stall. Der Verstand folgte, streng wie ein Schulmeister, und befahl mir, mich nicht so anzustellen.

Niemand außer Owen hatte die neuen Schlüssel. Niemand außer Owen konnte hereingekommen sein. Dennoch war ich erleichtert, als das Licht unten anging und ich seine vertrauten Schritte auf der Treppe hörte.

Er betrat das dunkle Wohnzimmer.

«Sir?«

«Im Schlafzimmer«, rief ich.

Er kam an die Tür, hob sich dunkel gegen den erhellten Flur ab.»Soll ich Licht machen?«

«Nein, lassen Sie nur.«

«Sir…«Seine Stimme kam mir plötzlich seltsam vor. Unsicher. Oder bekümmert.

«Was ist los?«

«Ich konnte den Wagen nicht finden. «Er stieß die Worte hervor. Der Kummer war offensichtlich.

«Nehmen Sie sich einen starken Drink, dann kommen Sie wieder und erzählen.«

Er zögerte kurz, ging dann aber ins Wohnzimmer, und ich hörte Glas auf Glas klirren. Ich tastete nach der

Nachttischlampe und knipste sie an. Sah mit zusammengekniffenen Augen auf die Uhr. Halb sieben. Allie war jetzt in Heathrow, bestieg ihr Flugzeug, winkte ihrer Schwester, flog davon.

Owen kam mit zwei Gläsern wieder, zweimal Scotch mit Soda. Er stellte mir eins auf den Nachttisch und unterbrach mich höflich, als ich Einwendungen machen wollte.

«Gegen den Kater, Sir. Sie wissen schon.«

«Man wird doch nur betrunkener davon.«

«Aber man fühlt sich besser.«

Ich deutete auf meinen Schlafzimmersessel, und er setzte sich zwanglos wie schon einmal und sah mich mit besorgter Miene an. Er hielt sein Glas bereit, trank aber nicht. Seufzend stützte ich mich auf einen Ellenbogen und machte den Anfang. Der erste Schluck schmeckte scheußlich, der zweite schon besser, der dritte nach Whisky Soda.

«Okay«, sagte ich.»Was ist mit dem Wagen?«

Owen trank auch rasch einen Schluck. Sein beklommener Gesichtsausdruck verstärkte sich.

«Ich bin wie gewünscht mit der Bahn nach Newbury gefahren und habe mir dort ein Taxi genommen. Wir fuhren zu der Stelle, die Sie mir auf dem Stadtplan gezeigt hatten, aber der Wagen war nicht da. Daraufhin nahmen wir uns die anderen Straßen in der Nähe von Mr. Leeds' Stall vor, aber umsonst. Der Taxifahrer wurde ziemlich patzig. Wir hätten alles abgesucht, meinte er. Ich ließ ihn in einem größeren Umkreis herumfahren, aber da Sie sagten, Sie seien vom Wagen aus zu Fuß zu dem Stall gegangen, konnte er eigentlich nicht mehr als eine Meile entfernt stehen.«

«Höchstens eine halbe«, sagte ich.

«Nun, Sir, der Wagen war nicht da. «Er nahm noch einen Schluck.»Ich wußte nicht recht weiter. Ich ließ mich zur Polizei in Newbury bringen, aber die wußten auch nichts. Sie riefen ein paar andere Polizeiwachen an, weil ich keine Ruhe gab, aber da hat kein Mensch was von dem Auto gesehen.«

Ich überlegte ein wenig.»Die hatten natürlich den Schlüssel.«

«Ja, daran habe ich auch gedacht.«

«Der Wagen könnte also jetzt so ziemlich überall sein.«

Er nickte unglücklich.

«Macht nichts«, sagte ich.»Ich melde ihn als gestohlen. Irgendwo taucht er schon wieder auf. Das sind ja keine richtigen Autodiebe. Eigentlich war damit zu rechnen, daß er weg ist, denn wenn sie abstreiten wollen, daß ich vergangene Nacht in den Stallungen war, kann ihnen nichts daran liegen, daß mein Wagen ein paar hundert Meter entfernt gefunden wird.«

«Meinen Sie, die haben ihn gesucht?«

«Die wußten schon, daß ich nicht mit dem Fallschirm gelandet war.«

Er lächelte matt, trank, ließ aber einen Rest übrig.

«Soll ich Ihnen was zu essen holen, Sir?«

«Mir ist nicht danach.«

«Trotzdem. Es ist wirklich besser. Ich springe gerade zum Schnellimbiß. «Er setzte sein Glas ab, zog los, ehe ich widersprechen konnte, und kam zehn Minuten darauf mit einem frisch gebratenen Hähnchen wieder.

«Auf Fritten legen Sie sicher keinen Wert«, sagte er. Er stellte mir den Teller hin, holte Messer, Gabel und Serviette und trank sein Glas aus.

«Ich geh dann mal, Sir«, sagte er,»wenn Sie zurechtkommen.«

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