Der Eigentümer des beschädigten Transporters nahm meine Entschuldigung an, erinnerte sich, daß er gut versichert war, und beschloß, auf eine Anzeige zu verzichten. Der Polizist seufzte, strich seine Notizen durch und verschwand. Jody ließ die Rampe herunter, holte Energise heraus und führte ihn schnell in Richtung der Stallungen davon. Ich kehrte unterdessen zu meinem Fernglas zurück, zog meinen lädierten Mantel aus und ging nachdenklich wieder zur Waage.
Der Frieden währte ganze zehn Minuten — bis Jody von den Stallungen zurückkam und feststellte, daß ich ihm seine Handlungsvollmacht nicht wieder zugesprochen hatte.
Er entdeckte mich in der kleinen Gruppe von Leuten, die plaudernd auf dem Platz vor der Waage standen.
«Hör mal, Steven«, sagte er.»Du hast vergessen, ihnen zu sagen, daß ich weiterhin dein Trainer bleibe.«
Er schien unbesorgt, nur ein wenig gereizt wegen meines Versäumnisses. Einen Moment lang wurde ich schwach beim Gedanken an das Unwetter, das gleich wieder losbrechen würde, und machte all die alten verhängnisvollen Zugeständnisse: Er war ein guter Trainer, und meine Pferde siegten schon ab und zu. Auch konnte ich ihn wissen lassen, daß seine Rechnungen ab jetzt scharf kontrolliert wurden.
Und was die andere Sache betraf… da ließen sich Einbußen in Zukunft unschwer vermeiden.
Ich holte tief Luft. Es mußte sein, jetzt oder nie.
«Ich habe es nicht vergessen«, sagte ich gedehnt.»Es bleibt dabei. Ich hole die Pferde ab.«
«Was?«
«Ich hole sie ab.«
Der Ausdruck nackter Feindseligkeit in seinem Gesicht war erschreckend.
«Du Dreckskerl!«sagte er.
Wieder gingen die Köpfe zu uns hin.
Jody ließ noch eine Reihe laut und deutlich artikulierter Schimpfwörter vom Stapel. Die Notizbücher der Presseleute schossen wie Pilze am Rand meines Gesichtsfelds auf, und ich griff zu dem einzigen Mittel, das ihn zum Schweigen bringen würde.
«Ich habe Energise heute am Toto gewettet«, sagte ich.
«Na und?«gab Jody vorschnell zurück, bevor ihn der Sinn meiner Worte wie ein Hammerschlag traf.
«Ich hebe mein Konto bei Ganser Mays auf«, sagte ich.
Jody sah mich zwar mordlüstern an, doch er fragte nicht, warum. Er preßte die Kinnbacken zusammen, warf einen nicht mehr ganz so einladenden Blick auf das interessierte Pressevolk und sagte leise drohend:»Ein Ton von dir, und ich verklage dich wegen Verleumdung.«
«Übler Nachrede«, sagte ich automatisch.
«Was?«
«Verleumdung ist schriftlich, üble Nachrede mündlich.«
«Wenn du den Mund aufmachst«, sagte er,»bist du dran.«
«Schöne Freundschaft«, bemerkte ich.
Seine Augen wurden schmal.»Dich zu schröpfen«, sagte er,»war mir Penny für Penny ein Genuß.«
Eine kurze Stille trat ein. Ich hatte das Gefühl, daß mir der Rennsport gründlich verleidet war und ich nie wieder richtig Spaß daran haben würde. Drei Jahre unbeschwerten Vergnügens, dann diese böse Enttäuschung. Schließlich sagte ich:»Laß Energise hier. Ich übernehme seinen Transport«, und Jody drehte sich mit unbewegter Miene um und rauschte durch die Tür zum Waageraum davon.
Der Transport war kein Problem. Ich vereinbarte mit dem jungen Inhaber und Fahrer einer Ein-Mann-Spedition, daß er Energise fürs erste auf seinem kleinen Frachthof unterbringen und ihn in ein, zwei Tagen zu einem Trainer meiner Wahl schaffen sollte.
«Ein dunkelbraunes Pferd, fast schwarz«, sagte ich.»Der Mann am Tor zeigt Ihnen schon, in welcher Box es steht. Ich glaube allerdings nicht, daß ein Pfleger bei ihm ist.«
Wie sich herausstellte, konnte der Spediteur sogar mit einem Pfleger für Energise dienen.»Der kriegt bei mir alles«, versicherte er.»Seien Sie unbesorgt. «Er hatte zwei andere Pferde zur Rennbahn gebracht, von denen eines im letzten Rennen lief, und spätestens eine Stunde danach, sagte er, würde er aufbrechen. Wir tauschten unsere Telefonnummern und Adressen aus und besiegelten die Abmachung per Handschlag.
Mehr aus Höflichkeit als aus rennsportlichem Interesse ging ich dann wieder hinauf in die Loge des Mannes, der mich zu Mittag eingeladen und sich den Sieg meines Pferdes zusammen mit mir angeschaut hatte.
«Steven, wo haben Sie gesteckt? Wir wollten Ihnen beim Feiern helfen.«
Charlie Canterfield, mein Gastgeber, empfing mich mit offenen Armen, ein Glas Sekt in der einen Hand und eine Zigarre in der anderen. Er saß mit seinen acht bis zehn Gästen um einen großen, weiß gedeckten Tisch in der Mitte des Raumes, den statt des Lunchzubehörs jetzt ein Durcheinander von halbvollen Gläsern, Rennprogrammen, Ferngläsern, Handschuhen, Handtaschen und Wettscheinen schmückte. Ein feiner Schleier von Havannarauch und milde Spirituosendüfte erfüllten die Luft, und draußen hinter der schützenden Glaswand lag der Balkon, von dem aus man auf die kühle und windige Rennbahn blickte.
Vier Rennen waren gelaufen, und zwei kamen noch. Mitte des Nachmittags. Alle waren zufrieden in der Stunde zwischen Kaffee-und-Cognac und Tee-und-Gebäck. Ein gemütlicher kleiner Raum voll freundlichem Geplauder und harmloser Blasiertheit. Wohlmeinende Leute, die niemandem Schaden zufügten.
Ich seufzte im Stillen, gab mich Charlie zuliebe gutgelaunt, trank einen Schluck Sekt und ließ mir von jedermann sagen, wie toll es doch sei, daß Energise gewonnen habe. Alle hätten auf ihn gesetzt, hieß es. Massig Mäuse, lieber Steven. Ein kluges Pferd… und so ein gewiefter kleiner Trainer, Jody Leeds.
«Mhm«, meinte ich in einem trockenen Ton, den keiner hörte.
Charlie bedeutete mir, auf einem freien Stuhl zwischen sich und einer Dame mit einem grünen Hut Platz zu nehmen.
«Auf wen tippen Sie im nächsten Rennen?«fragte er.
Ich sah ihn ohne einen Funken Verständnis an.
«Hab vergessen, wer läuft«, sagte ich.
Charlies Gemütlichkeit war für einen Augenblick verflogen. Ich kannte das schon bei ihm, dieses schnelle Abschätzen einer neuen Situation, und ich wußte, daß hier der Schlüssel zu seinem fabelhaften Geschäftssinn lag. Bei aller körperlichen Trägheit, aller sahneweichen Verbindlichkeit machte sein Verstand doch niemals Pause.
Ich lächelte ihn schief an.
Charlie sagte:»Essen Sie mit mir zu Abend.«
«Heute, meinen Sie?«
Er nickte.
Ich biß mir auf den Daumen und dachte darüber nach.»Also gut.«
«Schön. Sagen wir um acht bei Parkes, am Beauchamp Place.«
«In Ordnung.«
Die Beziehung zwischen Charlie und mir bewegte sich seit Jahren in dem Grenzbereich zwischen Bekanntschaft und echter Freundschaft, wo man Zufallsbegegnungen schätzt und andere selten herbeiführt. An diesem Tag hatte er mich zum ersten Mal in seine Loge eingeladen. Wenn er mich jetzt auch noch zum Abendessen einlud, betraten wir grundsätzlich neues Terrain.
Ich nahm zwar an, daß er meine Geistesabwesenheit falsch ausgelegt hatte, aber ich mochte ihn ja, und kein vernünftiger Mensch hätte ein Dinner bei Parkes ausgeschlagen. Ich hoffte nur, er würde den Abend nicht als vergeudet ansehen.
Charlies Gäste brachen langsam auf, um für das nächste Rennen zu wetten. Ich sah in ein Rennprogramm, das noch auf dem Tisch lag, und begriff sofort, wieso ich Charlies Aufmerksamkeit erregt hatte: Zwei großartige Hürdenpferde traten gegeneinander an, und die Zeitungen sprachen seit Tagen von nichts anderem.
Ich sah Charlie an. Seine Augen funkelten belustigt.
«Wer also?«fragte er.
«Crepitas.«
«Wetten Sie?«
Ich nickte.»Habe ich schon. Am Toto.«
Er grunzte.»Mir sind die Buchmacher lieber. Ich weiß gern die Quoten, bevor ich mein Geld ausgebe. «Und für ihn als Investmentbanker war das auch durchaus konsequent.
«Nur kriegt mich jetzt keiner von hier weg.«
«Wir können uns meine Wette teilen«, sagte ich.
«Was haben Sie gesetzt?«fragte er vorsichtig.
«Zehn Pfund.«
Er lachte.»Man munkelt, daß Sie's nicht unter drei Nullen machen.«
«Das ist ein Insiderscherz«, sagte ich,»unter Technikern.«
«Was heißt das?«
«Ich benutze manchmal eine Präzisionsdrehbank. Die kann man auf drei Nullen genau einstellen — null Komma null null null eins. Ein Zehntausendstel Zoll, da ist für mich die Grenze. Kleiner geht's nicht.«
Er lachte leise.»Und Sie setzen nicht schon mal tausend auf ein Pferd?«
«Oh, auch das habe ich schon gemacht.«
Diesmal entging ihm nicht der trockene Unterton. Ich stand beiläufig auf und hielt auf die gläserne Balkontür zu.
«Sie gehen an den Start«, sagte ich.
Wortlos kam er mit hinaus, und wir schauten zu, wie Crepitas und Waterboy, die beiden von ihren Jockeys kaum zu bändigenden Stars, an der Tribüne vorbeitänzelten.
Charlie war etwas kleiner als ich, wesentlich korpulenter und an die zwanzig Jahre älter. Er ging immer perfekt gekleidet, und niemand, der seine weiche Stimme hörte, hätte vermutet, daß sein Vater Fernfahrer gewesen war. Charlie hatte seine Herkunft nie verleugnet. Im Gegenteil, er war zu Recht stolz auf sie. Er hatte als Einheimischer unter dem alten Erziehungssystem ein Stipendium für Eton bekommen und sich mit dem Lehrstoff zugleich die Sprechweise und die Umfangsformen angeeignet. Sein Verstand hatte ihn von jeher durchs Leben getragen wie die Welle den Surfer, und wahrscheinlich war es nur eine besonders glückliche Fügung, daß er in Sichtweite der großen Schule geboren worden war.
Die anderen Gäste kamen jetzt auch auf den Balkon und beanspruchten seine Aufmerksamkeit. Ich kannte die meisten vom Sehen, ein paar vom Hörensagen, keinen näher. Für den Anlaß genügte es, mehr mußte nicht sein.
Die Dame mit dem grünen Hut legte mir eine grün behandschuhte Hand auf den Arm.»Waterboy sieht fabelhaft aus, finden Sie nicht?«
«Fabelhaft«, stimmte ich zu.
Sie strahlte mich kurzsichtig hinter dicken Brillengläsern an.»Könnten Sie mir sagen, was im Ring geboten wird?«
«Natürlich.«
Ich hob mein Fernglas und schaute auf die Tafeln, die vor einem Tribünenabschnitt zu unserer Rechten aufgestellt waren.»Soweit ich sehe, steht Waterboy 20 zu 10 und
Crepitas 22 zu 10.«
«Vielen Dank«, sagte die grüne Dame freundlich.
Ich schwenkte das Fernglas ein wenig, um Ganser Mays einzufangen — er stand etwa in der Mitte der Buchmacherreihe vor der Absperrung zur Clubtribüne, ein dünner, mittelgroßer Mann mit einer langen, spitzen Nase, stahlgefaßter Brille und dem Gehabe eines High-Church-Geistlichen. Ich hatte ihn nie besonders gemocht und mich mit ihm höchstens mal über das Wetter unterhalten, aber ich hatte ihm restlos vertraut, und das war dumm gewesen.
Er beugte sich über die Absperrung und redete ernst mit jemand auf der Clubtribüne, der durch eine Gruppe Zuschauer verdeckt wurde. Dann zogen die Leute weiter, und zum Vorschein kam Jody.
Die Wut war Jodys Körperhaltung deutlich anzumerken, und er sprach mit heftig arbeitendem Unterkiefer. Ganser Mays, sehr viel gefaßter, schien bemüht, ihn zu beschwichtigen, und als Jody schließlich wütend abdampfte, blickte er eher nachdenklich als beunruhigt hinter ihm her.
Ganser Mays hatte in seiner Buchmacherlaufbahn den Punkt erreicht, wo herausragender persönlicher Erfolg sich messen ließ am Ansehen eines gutgehenden Unternehmens. Für die Wetter war er zur Institution geworden. Ab Glasgow südwärts trug eine ständig wachsende Zahl von Wettbüros seinen Namen, und vor kurzem hatte er bekanntgegeben, daß er in der nächsten Flachsaison ein Fliegerrennen für Dreijährige sponsern würde.
Bei großen Rennen stand er immer noch selbst an den Rails, um mit seinen zahlungskräftigeren Kunden zu plaudern und sie bei der Stange zu halten. Seinen großen Haifischrachen aufzureißen und immer neue kleine Fische in sich hineinzuschlingen.
Schmerzlich berührt drehte ich das Fernglas weg. Ich würde nie genau erfahren, um wieviel Geld mich Jody und Ganser Mays gebracht hatten, aber von meiner Selbstachtung hatten sie mir nur Reste gelassen.
Das Rennen begann, die Superhürdler liefen sich die Seele aus dem Leib, und Crepitas schlug Waterboy mit einer Länge. Am Totalisator würde ich dafür ein paar Pfund bekommen und für Energise eine ganze Menge, aber die beiden Wettgewinne des Nachmittags konnten meine Schwermut nicht verscheuchen. Ich drückte mich vor Tee und Kuchen, dankte Charlie für den Lunch, verabschiedete mich und ging wieder hinunter zur Waage in der Hoffnung auf einen rettenden Einfall in punkto Trainerwahl.
Ich hörte eilige Schritte hinter mir, und eine Hand packte mich am Arm.
«Ein Glück, daß ich Sie finde.«
Er war außer Atem und sah besorgt aus. Der junge Spediteur, der Energise mitnehmen sollte.
«Was ist los? Eine Panne?«
«Nein… aber Sie sagten doch, Ihr Pferd sei fast schwarz, nicht wahr? Hab ich das richtig verstanden?«
Der Schreck ließ meine Stimme scharf werden.»Ist was mit ihm?«
«Nein… das nicht, nein… Nur, das Pferd, das Mr. Leeds dagelassen hat, ist eine Fuchsstute.«
Ich ging mit ihm zu den Stallungen. Der Wächter freute sich immer noch, daß etwas verkehrt lief.
«Ganz recht«, lächelte er befriedigt.»Leeds hat vor 'ner Viertelstunde ein Pferd mit einem Miettransporter abgeholt. Sein Haustransporter hätte einen Blechschaden, sagte er, und Energise bleibe auf Wunsch des Besitzers hier.«
«Das Pferd, das er dagelassen hat, ist nicht Energise«, sagte ich.
«Dafür kann ich ja wohl nichts, oder?«meinte er spöttisch.
Ich wandte mich an den jungen Mann.»Fuchsstute mit großer Blesse?«
Er nickte.
«Das ist Asphodel. Sie ist heute im ersten Lauf gestartet.
Jody Leeds trainiert sie. Sie gehört mir nicht.«
«Was mach ich denn jetzt mit ihr?«
«Lassen Sie sie hier«, sagte ich.»Es tut mir leid. Schicken Sie mir eine Rechnung für die Stornierung.«
Er sagte lächelnd, das werde er nicht tun, und stellte damit mein Vertrauen in die Menschheit fast wieder her. Ich dankte ihm, daß er sich die Mühe gemacht hatte, mich zu suchen, anstatt den Mund zu halten, das falsche Pferd wegzubringen und mir eine Rechnung für die getane Arbeit zukommen zu lassen. Er sah mich an, als faßte er nicht, wie jemand so zynisch sein konnte, und ich dachte mir, daß ich das auch erst von Jody gelernt hatte.
Jody hatte sich Energise also doch geschnappt.
Ich war stocksauer, auch wegen meiner eigenen Kurzsicht. Wenn er imstande war, mich von Andy-Fred über den Haufen fahren zu lassen, hätte ich wissen müssen, daß er nicht beim ersten Rückschlag aufgeben würde. Er war fest entschlossen gewesen, mich zu überlisten und Energise mit nach Hause zu nehmen, und ich hatte seine Sturheit wie auch seine Frechheit unterschätzt.
Je rascher ich Jody loswurde, desto besser. Ich ging zu meinem Wagen und dachte, als ich die Rennbahn verließ, einzig und allein daran, welchem Trainer ich meine Pferde anvertrauen sollte und wie schnell der Wechsel zu bewerkstelligen wäre.
Charlie lächelte über die blanke helle Tischplatte bei Parkes hinweg und schob die leere Kaffeetasse zur Seite. Seine Zigarre war halb geraucht, sein Portwein halb getrunken und sein Magen, wenn ich von meinem ausging, wohlig gefüllt mit gutem Essen, dem vielleicht besten in ganz London.
Ich fragte mich, wie Charlie in jungen Jahren ausgesehen hatte, vor dem Wohlstandsbauch und den Hängebacken. Erfolgreiche Geschäftsleute durften ruhig ihr Teil wiegen, dachte ich. Hager und hungrig waren die Anfänger, die Hitzköpfe, die es eilig hatten. Charlie strahlte mit jedem überschüssigen Pfund Reife und Kompetenz aus.
Er hatte glattes, angegrautes Haar, oben dünn und an den Seiten zurückgekämmt. Tiefliegende Augen, große Nase, fester, gerader Mund. Nach herkömmlichen Maßstäben kein gutaussehendes Gesicht, aber eines, das sich einprägte. Wer einmal mit Charlie zusammengetroffen war, erkannte ihn in der Regel sofort wieder.
Er war allein gekommen, und das von ihm gewählte Restaurant bestand aus mehreren eher kleinen Räumen mit jeweils drei oder vier Tischen; ein ruhiger Ort, an dem man ungestört war. Charlie hatte vom Pferderennen, vom Essen, vom Premierminister und vom Stand der Börse geredet, war aber noch nicht zur Sache gekommen.
«Ich habe den Eindruck«, sagte er freundlich,»daß Sie auf etwas warten.«
«Sie haben mich noch nie zum Essen eingeladen.«
«Ich bin gern in Ihrer Gesellschaft.«
«Und das ist alles?«
Er tippte die Asche von seiner Zigarre.»Natürlich nicht«, sagte er.
«Das dachte ich mir«, erwiderte ich lächelnd.»Aber wahrscheinlich habe ich mich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen von Ihnen bewirten lassen.«
«Wissentlich?«
«Mag sein. Ich weiß nicht so genau, was Sie beschäftigt.«
«Ihre Geistesabwesenheit«, sagte er.»Wenn jemand wie Sie so abhebt…«
«Also doch«, seufzte ich.»Nun, das war kein produktiver Zustand der Entrückung, sondern die Nachwirkung eines wohl endgültigen Streits, den ich kurz vorher mit Jody Leeds gehabt habe.«
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.»Wie schade.«
«Daß wir uns gestritten haben, oder daß keine Inspiration im Spiel war?«
«Beides, würde ich sagen. Worum ging es bei dem Streit?«
«Ich habe ihm gekündigt.«
Er machte große Augen.»Ja, aber wieso denn?«
«Wenn ich das jemand erzähle, will er mich wegen übler Nachrede verklagen.«
«Was Sie nicht sagen!«Charlie wirkte wieder voll und ganz interessiert, wie ein Pferd, das neuen Biß bekommt.
«Könnte er das denn?«
«Wahrscheinlich.«
Charlie zog an der Zigarre und stieß den Rauch aus dem Mundwinkel langsam wieder aus.»Wollen Sie es drauf ankommen lassen?«
«Auf Ihre Diskretion könnte man wohl zählen…«
«Unbedingt«, sagte er.»Versprochen.«
Ich glaubte ihm. Ich sagte:»Er hat einen Weg gefunden, mich um große Summen zu prellen, ohne daß ich davon etwas gemerkt habe.«
«Aber Sie müssen doch gewußt haben, daß jemand…«
Ich schüttelte den Kopf.»Ich bin sicher nicht der erste, den man auf die Tour verladen hat. Es ist ein Kinderspiel.«
«Lassen Sie hören«, sagte Charlie.»Das interessiert mich jetzt.«
«Gut. Dann nehmen Sie mal an, Sie sind an sich ein guter Pferdetrainer, aber Sie haben ein ungebremstes Verlangen nach unverdienten Einkünften.«
«Was folgt dann?«fragte Charlie.
«Als erstes«, sagte ich,»braucht man dafür einen begeisterungsfähigen Dummen, der Geld hat und wenig vom Rennsport versteht.«
«Sie?«fragte Charlie.
«Mich. «Ich nickte traurig.»Jemand empfiehlt Sie mir als guten Trainer, und mich beeindruckt das Flair von Kompetenz und Hingabe, das Sie umgibt, also frage ich Sie, ob Sie mir ein gutes Pferd besorgen könnten, da ich gern Besitzer werden möchte.«
«Und ich kaufe preiswert ein gutes Pferd und knöpfe Ihnen ein Vermögen dafür ab?«
«Nein. Sie kaufen das beste Pferd, das Sie kriegen können. Ich bin hingerissen, Sie fangen mit dem Training an, und schon bald ist das Pferd bereit für die Rennbahn. Nun erzählen Sie mir, daß Sie einen sehr vertrauenswürdigen Buchmacher kennen, und machen mich mit ihm bekannt.«
«Hm, hm!«
«Sie sagen es. Aber der Buchmacher ist hoch angesehen, und da ich es nicht gewohnt bin, größere Summen zu wetten, bin ich froh, mich in so würdigen Händen zu wissen. Sie als mein Trainer sagen mir, mein Pferd berechtige zu großen
Hoffnungen, da dürfe ich bei seinem ersten Rennen ruhig einmal eine kleine Wette auf Sieg und Platz wagen. Hundert Pfund vielleicht.«
«Eine kleine Wette!«rief Charlie aus.
«Sie heben hervor, daß das gerade mal die Trainingsgebühr für drei Wochen sei«, sagte ich.
«Tu ich das?«
«Tun Sie. Ich schlucke erst mal, weil ich bis jetzt immer nur Zehner gewettet habe, und dann setze ich die hundert auf Sieg und Platz. Aber das Pferd läuft wirklich gut und wird Dritter, und der Buchmacher zahlt ein wenig, statt mich blechen zu lassen.«
Ich trank meinen Rest Portwein. Charlie trank ebenfalls aus und bestellte Kaffee nach.
«Beim nächsten Start des Pferdes«, fuhr ich fort,»sagen Sie, nun sei es wirklich top, es könne nicht verlieren, und wenn ich jemals eine große Wette anlegen wolle, dann sei jetzt die Zeit dafür, bevor alle Welt auf den Karren aufspringe. Der Buchmacher bietet mir einen guten Kurs, und ich gehe auf Wolken und wage den Sprung.«
«Tausend?«
Ich nickte.»Tausend.«
«Und?«
«Es spricht sich rum, und das Pferd startet als Favorit. Aber es ist nicht sein Tag. Es läuft schlechter als beim ersten Mal und wird Fünfter. Sie sind außer sich. Da kommen Sie nicht mit. Prompt tröste ich Sie und sage Ihnen, daß es nächstes Mal bestimmt wieder besser läuft.«
«Aber es läuft beim nächsten Mal nicht besser?«
«Es läuft. Es gewinnt wunderschön.«
«Aber Sie haben nicht auf das Pferd gesetzt?«
«Doch. Diesmal ist die Quote nicht wie davor 35 zu 10, sondern 70 zu 10. Ich setze fünfhundert, gewinne dreitausend und freue mich riesig. Ich habe den Verlust vom letzten Mal mehr als wettgemacht und außerdem ja noch das Sieggeld bekommen. Ich zahle die Trainingsrechnungen aus dem Gewinn, habe einen Teil vom Kaufpreis für das Pferd bereits wieder eingebracht und bin hochzufrieden mit meinem Besitzerdasein. Ich bitte Sie, mir noch ein Pferd zu kaufen.
Auch zwei oder drei, wenn es sich anbietet.«
«Und diesmal bekommen Sie teure Versager?«
«Keineswegs. Mein zweites Pferd ist ein fabelhafter Zweijähriger. Er gewinnt sein Debüt. Ich habe zwar nur hundert auf ihn gesetzt, aber da er 110 zu 10 steht, bin ich trotzdem sehr zufrieden. Also ermutigen Sie mich bei seinem nächsten Lauf, den es als von allen Zeitungen getippter heißer Favorit antritt, zu einer richtig großen Wette auf mein Pferd. So eine Gelegenheit bekommt man nicht oft, sagen Sie, die Konkurrenz sei chancenlos. Ich lasse mich überzeugen und setze dreitausend Pfund.«
«Mein Gott«, sagte Charlie.
«Ganz recht. Mein Pferd springt ab und übernimmt die Führung wie ein echter Champion, und alles läßt sich bestens an. Nach fünfhundert Metern, auf halber Strecke, bricht dann eine Gurtschnalle, der Sattel löst sich, und der Jockey muß anhalten, so gut es geht, denn er sitzt schon fast unten.«
«Dreitausend!«sagte Charlie.
«Vergeigt«, nickte ich.»Sie sind untröstlich. Der Gurt war neu, die Schnalle fehlerhaft. Macht nichts, sage ich schwer schluckend, aber freundlich. Es kommen auch wieder bessere Tage.«
«Und so ist es?«
«Sie haben es erfaßt. Nächstes Mal ist das Pferd wieder Favorit, und ich setze fünfhundert. Es siegt, und wenn ich diesmal auch nicht alles, was ich verloren habe, zurückgewinne, holt das Pferd doch zum zweiten Mal ein ordentliches Sieggeld heim; das Ganze ist also kein
Verlustgeschäft, und es bringt mir viel Spaß und Aufregung. Nein, ich bin durchaus zufrieden.«
«Es geht also weiter?«
«Jetzt geht's erst richtig los. Ich finde es immer spannender, den Pferden zuzuschauen. Besonders schön finde ich es, wenn es meine Pferde sind, und obwohl mich mein Hobby mit der Zeit natürlich eine ganze Menge kostet — denn die wenigsten Besitzer verdienen dabei —, bin ich doch rundum glücklich und finde mein Geld gut angelegt.«
«Und was passiert?«
«Eigentlich gar nichts«, sagte ich.»Mich beschleicht nur so ein hartnäckiger Verdacht, und ich sperre mich dagegen und denke, wie furchtbar ungerecht so was doch ist nach all den Siegern, die Sie für mich trainiert haben. Aber der Verdacht bleibt. Mir ist einfach aufgefallen, daß meine Pferde dann nicht siegen, wenn ich ganz groß wette.«
«Das könnten viele Besitzer sagen«, meinte Charlie.
«Klar. Aber wenn ich meine verlorenen großen Einsätze zusammenzähle, komme ich auf annähernd vierzigtausend Pfund.«
«Guter Gott.«
«Ich schäme mich zwar für mein Mißtrauen, aber das gibt mir doch zu denken. Ich sage mir, angenommen — nur mal angenommen —, immer wenn ich mehr als tausend setze, tun sich mein Trainer und mein Buchmacher zusammen, kassieren kurzerhand das Geld und sorgen dafür, daß mein Pferd nicht gewinnt? Angenommen, wenn ich dreitausend setze, machen sie halbe-halbe damit, und das Pferd läuft schlecht, bleibt stehen, oder die Gurtschnalle bricht? Ich sage mir, angenommen, danach geht es voll austrainiert in sein sorgsam ausgesuchtes nächstes Rennen und gewinnt, was mich natürlich freut — und diesmal haben mein Buchmacher und mein Trainer selbst auf das Pferd gesetzt, mit dem Geld, das sie mir vorher abgeknöpft haben…«
Charlie sah mich fasziniert an.
«Gewinnt mein Pferd, gewinnen sie. Verliert mein Pferd, verlieren sie nicht ihr Geld, sondern lediglich meines.«
«Raffiniert.«
«Ja. So vergehen Wochen, bis die Flachsaison beendet ist, und jetzt sind die Springer an der Reihe. Sie als mein Trainer haben einen wunderschönen jungen Hürdler, ein echtes Spitzenpferd, für mich entdeckt und gekauft. Ich setze bei seinem Debüt ein paar Pfund auf ihn, und er gewinnt leicht. Ich bin begeistert. Aber ich bin auch besorgt, denn Sie erzählen mir von einem für ihn maßgeschneiderten Rennen in Sandown Park, das er mit Sicherheit gewinnen wird, und Sie raten mir, ganz groß auf ihn zu wetten. Mittlerweile hege ich die schlimmsten Bedenken und Befürchtungen, und gerade weil ich das Pferd so bewundere, möchte ich nicht, daß ihm bei dem Versuch zu siegen, wo es doch verlieren soll, das
Herz gebrochen wird; also sage ich, ich setze nicht auf ihn.«
«Was schlecht ankommt?«
«Ganz schlecht. Sie drängen mich wie noch nie, eine große Wette anzulegen. Ich weigere mich. Sie sind ausgesprochen sauer und versichern mir, daß das Pferd siegen und meine Entscheidung mir noch leid tun wird. Ich sage, ich warte bis zum nächsten Mal. Sie sagen, daß ich einen großen Fehler mache.«
«Wann sage ich das alles?«
«Gestern.«
«Und heute?«fragte Charlie.
«Heute ist mein Mißtrauen stärker denn je. Heute denke ich, Sie lassen das Pferd vielleicht siegen, nur um mir zu zeigen, daß es dumm von mir war, es nicht zu wetten — damit Sie mich beim nächsten Mal dann ohne Mühe zu einer noch größeren Wette überreden können.«
«Hoppla.«
«Ja. Darum sage ich Ihnen heute auch nicht, daß ich — wegen meiner bösen Zweifel — vor einiger Zeit ein Wettkonto am Totalisator eröffnet habe, und ebenso verschweige ich Ihnen, daß ich über das Konto tausend Pfund auf mein Pferd gesetzt habe.«
«Hinterhältig.«
«Aber sicher.«
«Und Ihr Pferd gewinnt«, sagte Charlie kopfnickend.
«Es lief hervorragend…«Ich lächelte schief.»Nach dem Rennen sagen Sie mir, ich sei selbst schuld, daß ich es nicht gesetzt hätte. Sie hätten ja versucht, mich dazu zu bewegen. Nächstes Mal sollte ich doch besser auf Ihren Rat hören.«
«Und dann?«
«Dann«, seufzte ich,»wurde der wochenlange Verdacht schlagartig zur Gewißheit. Ich wußte, daß er mich auch anderweitig betrogen hatte. In Kleinigkeiten. Kleine Verstöße gegen die Freundschaft. Nichts Schwerwiegendes. Ich sagte ihm, es werde kein nächstes Mal geben, denn ich würde ihm meine Pferde wegnehmen.«
«Was meinte er dazu?«
«Er hat nicht gefragt, warum.«
«Herrje«, sagte Charlie.