Kapitel 8

Ob es Owens Fürsorge war oder der natürliche Lauf der Dinge, am Morgen fühlte ich mich wesentlich besser. Das Gesicht im Badezimmerspiegel zierte jetzt zwar ein Zweitagebart, aber es sah nicht mehr so grau aus und guckte nicht mehr so benebelt. Auch die schwarzen Ringe unter den Augen gingen zurück.

Ich rasierte mich und bemerkte beim anschließenden Bad, daß die blauen Flecke jetzt gut ein Fünftel meiner Haut bedeckten. Wahrscheinlich konnte ich froh sein, daß ich nicht wach gewesen war, als ich sie mir einfing. Die lästigen Schmerzen, die sie mir tags zuvor bereitet hatten, waren mehr oder weniger abgeklungen, und mit Kaffee und Frühstück ließ es sich wieder leben.

Die Polizei machte mir in Sachen Lamborghinidiebstahl wenig Hoffnung. Sie ließ sich die Einzelheiten durchgeben und meinte pessimistisch, in acht Tagen würde ich vielleicht was hören; in weniger als einer halben Stunde rief sie dann wutschnaubend wieder an. Kollegen hätten meinen Wagen in der Nacht davor abgeschleppt, weil ich ihn auf einem für Taxis reservierten Platz am Leicester Square geparkt hätte. Ich könne ihn am Abstellplatz Marble Arch abholen und müsse eine Abschleppgebühr zahlen.

Owen erschien um neun mit langem Gesicht und schaute gleich freundlicher drein, als ich ihm das mit dem Wagen erzählte.

«Haben Sie schon die Zeitung gesehen, Sir?«

«Noch nicht.«

Er hielt mir seine hin.»Es ist besser, Sie wissen Bescheid. «Ich faltete sie auseinander. Allie hatte recht gehabt mit dem Klatschkolumnisten. Die Notiz war kurz und bissig und ließ niemand im unklaren.

Grund zum Schämen für den wohlhabenden Pferdebesitzer Steven Scott (35), der gestern morgen in Soho von der Polizei aus dem Rinnstein gezogen wurde. Vor dem Schnellgericht Marlborough Street bekannte sich der sichtlich mitgenommene, verknautschte Scott der Volltrunkenheit für schuldig. Nur kein Mitgefühl. Rennsportfreunde werden sich erinnern, daß Scott kürzlich Jody Leeds (28), den Trainer seiner sämtlichen Sieger, fristlos an die Luft gesetzt hat.

Ich sah meine beiden eigenen Tageszeitungen und die Sporting Life durch. Alle brachten die Geschichte in ähnlicher Form, wenn auch nicht so reißerisch. Geschah ihm recht, dem nach unten Tretenden, daß er selbst mit der Nase im Dreck gelandet war.

Man durfte annehmen, daß die Story an alle Zeitungen gegangen und von den meisten aufgegriffen worden war. Obwohl ich damit gerechnet hatte, gefiel es mir nicht. Kein bißchen.

«Das ist verdammt unfair«, meinte Owen, der den Beitrag in der Life las.

Ich sah ihn überrascht an. Sein normalerweise unbeteiligtes Gesicht verriet hilflosen Zorn, und ich fragte mich, ob sich in seinem Ausdruck mein eigener spiegelte.

«Danke für Ihr Verständnis.«

«Kann nicht anders, Sir. «Seine Züge glätteten sich mehr oder weniger, aber es kostete ihn Mühe.»Kann ich sonst noch was tun, Sir?«

«Den Wagen abholen?«

Er wurde etwas fröhlicher.»Schon unterwegs.«

Seine Fröhlichkeit war jedoch von kurzer Dauer, denn eine halbe Stunde später kam er mit blassem Gesicht und wütender, als ich es für möglich gehalten hätte, zurück.

«Sir!«

«Was ist?«

«Der Wagen, Sir! Der Wagen!«

Seine Gestik, sein Ton sagten alles. Stammelnd vor Wut berichtete er die Einzelheiten. Der linke vordere Kotflügel war völlig zerdrückt. Die Scheinwerfer zertrümmert. Eine Radkappe verschwunden. Die Motorhaube verbeult. Der Lack über die ganze linke Seite zerschrammt bis aufs Metall. Die Beifahrertür war glatt herausgerissen, ihre Scheiben zerschlagen, der Türgriff ab.

«Es sieht aus, als hätten sie ihn gegen eine Mauer gefahren oder so etwas, Sir.«

Ich dachte kalt an die Beifahrerseite von Jodys Pferdetransporter, die genauso beschädigt war. Mein Wagen war aus Rache demoliert worden.

«Hat der Schlüssel gesteckt?«fragte ich.

Er schüttelte den Kopf.»Er war nicht abgeschlossen. Ging auch gar nicht, denn das Schloß war kaputt. Und ich habe wie gewünscht nach Ihrer Brieftasche gesucht, aber die war nicht auffindbar. Gar nichts von Ihren Sachen, Sir.«

«Läßt sich der Wagen fahren?«

Er beruhigte sich ein wenig.»Ja, der Motor ist in Ordnung. Die sind ja damit zum Leicester Square. Der Wagen sieht zwar schrottreif aus, aber fahren wird er noch, wie hätten sie ihn sonst dahin gekriegt?«

«Das ist doch immerhin etwas.«

«Ich habe ihn auf dem Abstellplatz stehen lassen. Er muß ohnehin in die Werkstatt, und die können ihn genauso gut von dort abholen.«

«Klar«, stimmte ich zu. Ich nahm an, er hätte es nicht ertragen, einen Totalschaden durch London zu chauffieren; zu Recht war er stolz auf seine Fahrkünste.

Owen ging mit seinen in Aufruhr gebrachten Gefühlen hinunter in die Werkstatt, und ich setzte mich oben mit meinen auseinander. Schließlich spielte mir Jody nur so übel mit, weil ich es gewagt hatte, nachts in seinen Stall einzudringen. War es das wert gewesen? Ich hatte einen ziemlich horrenden Preis für einen kurzen Blick auf Energise bezahlt; aber zumindest wußte ich jetzt, daß Jody ihn vertauscht hatte. Es war eine Tatsache, nicht mehr nur eine Vermutung.

Ich verbrachte den ganzen Morgen am Telefon, um das Chaos zu bereinigen. Veranlaßte die Autoreparatur und bestellte einen Mietwagen. Teilte meiner Bank und ungefähr zehn anderen Stellen mit, daß ich Scheckbuch und Kreditkarten verloren hatte. Versicherte mehreren Verwandten auf Anfrage, daß ich weder im Gefängnis noch ein Quartalsäufer sei. Hörte einer schrill tönenden Dame zu, deren Anruf irgendwie dazwischenrutschte und die mir sagte, sie finde es widerlich, wenn reiche Leute betrunken im Rinnstein lägen. Ich fragte sie, ob es denn für arme Leute in

Ordnung sei und wenn ja, warum die mehr Rechte haben sollten als ich. Fair geht vor, sagte ich. Freiheit, Gleichheit. Sie zischte mir ein unanständiges Wort ins Ohr und legte auf. Es war der einzige Lichtblick des Tages.

Zuletzt rief ich Rupert Ramsey an.

«Was heißt, Sie wollen nicht, daß Energise läuft?«Seine Stimme klang fast so überrascht wie die von Jody in Sandown.

«Ich dachte«, sagte ich schüchtern,»er braucht vielleicht noch Zeit. Sie sagten ja selbst, er müsse aufgebaut werden. Dieses Weihnachtsrennen ist aber schon in ungefähr acht Tagen, und ich will nicht, daß er unter seinen Möglichkeiten läuft.«

Hörbare Erleichterung löste die Überraschung am anderen Ende ab.

«Wenn Sie das so sehen, okay«, sagte er.»Das Pferd hat mich im Training offengestanden etwas enttäuscht. Ich hatte ihn gestern in der schnellen Arbeit neben einem Hürdler, den er in Grund und Boden hätte laufen müssen, und er konnte noch nicht mal mit ihm mithalten. Er macht mir etwas Sorgen. Tut mir leid, daß ich Ihnen nichts Erfreulicheres sagen kann.«

«Schon gut«, sagte ich.»Wenn Sie ihn behalten und Ihr Bestes tun, bin ich zufrieden. Lassen Sie ihn nur nirgends laufen. Ich kann warten. Ich will bloß nicht, daß er Rennen läuft.«

«Alles klar. «Das Lächeln kam mit den Worten durch die Leitung.»Was ist mit den beiden anderen?«

«Sie sind der Trainer. Von Ferryboat erwarte ich nichts weiter, aber auf Dial würde ich gern setzen, wenn Sie sagen, daß er soweit ist.«

«Das ist er schon. Er ist für Newbury in vierzehn Tagen genannt. Da wird er ganz gut laufen, denke ich.«

«Prima.«

«Kommen Sie hin?«Eine sehr beziehungsreiche Frage. Auch er hatte Zeitung gelesen.

«Kommt drauf an, ob ich mich traue«, sagte ich scherzhaft.»Reden wir noch mal drüber.«

Schließlich fuhr ich dann.

Die meisten Leute vergessen schnell, und mir zeigten nicht mehr die kalte Schulter, als ich erwartet hatte. Es war kurz nach Weihnachten, und vielleicht war man allen Mitmenschen noch wohlgesinnt, auch wenn sie Jody Leeds in die Pfanne gehauen und sich eine Strafe wegen Trunkenheit eingehandelt hatten. Man begegnete mir eher mit amüsiertem Gekicher als mit schroffer Mißbilligung, ausgenommen natürlich Quintus Leeds, der seiner Abneigung nach Kräften Luft machte. Er versicherte mir erneut, daß man mich niemals in den JockeyClub wählen würde. Nur über seine Leiche, sagte er. Er und Jody hatten es mit dieser Redewendung.

Um den Jockey-Club tat es mir wirklich leid. Was man auch davon hielt, es war und blieb eine Anerkennung, wenn einem die Mitgliedschaft angetragen wurde. So etwas wie das Ehrenbürgerrecht im Rennsport. Hätte ich mich weiterhin brav von Jody bestehlen lassen, wäre ich reingekommen. Da ich mich gewehrt hatte, blieb ich draußen. Sehr komisch.

Dial machte vieles wieder wett, indem er das Hürdenrennen für Vierjährige mit einer Länge gewann, und selbst Quintus, der jedermann erzählte, es liege alles nur an Jodys Vorarbeit, konnte meine Freude an seinem Endspurt nicht trüben.

Rupert Ramsey, der Dial die dampfenden Flanken klopfte, hörte sich dennoch an, als müsse er sich entschuldigen.

«Energise ist leider noch nicht wieder der Alte.«

Wahrer, als du ahnst, dachte ich. Ich sagte nur:»Macht nichts. Lassen Sie ihn nicht starten.«

«Er ist für das Champion Hurdle genannt«, erwiderte er unschlüssig.»Ich weiß nicht, ob es sich lohnt, ihn beim nächsten Streichungstermin drinzulassen.«

«Nehmen Sie ihn nicht raus«, sagte ich hastig.»Ich meine… auf das Nenngeld kommt es mir nicht an. Es kann ja immer noch sein, daß er die Kurve kriegt.«

«Sicher. «Verständlicherweise war er nicht überzeugt.»Da richte ich mich natürlich nach Ihnen.«

Ich nickte.»Was zu trinken?«schlug ich vor.

«Nur auf die Schnelle. Ich habe noch Starter hier.«

Er kippte seinen Scotch hinunter, lehnte einen zweiten freundlich ab und eilte im Laufschritt zu den Sattelboxen. Ich ging auf die Tribüne hinauf und schaute müßig über die kalte, windige Rennbahn.

In den letzten vierzehn Tagen hatte ich vergeblich überlegt, wer der Doppelgänger von Energise war. Kein Pferd auf Jodys Trainingsliste schien zu passen. Schwarzbraune Pferde waren relativ selten, und keins auf seiner Liste hatte sowohl die richtige Farbe wie auch das richtige Alter. Bei dem Wechselbalg bei Rupert stimmten Farbe, Alter, Höhe und der gesamte Körperbau. Jody hatte ihn sicher nicht zufällig daheim stehen gehabt; er mußte gezielt nach ihm gesucht haben. Aber wie schaffte man sich so einen Doppelgänger an? Man konnte ja schlecht herumfragen, ob irgendwo ein preisgünstiges Ebenbild zu haben war.

Mein schweifender Blick hielt ruckartig inne. In dem Gedränge unten, zwischen den Ständen der Buchmacher, hatte ich eine Sonnenbrille gesehen, die mir bekannt vorkam.

Es war ein grauer Nachmittag. Schnee lag in der Luft, und der Wind fuhr in jeden Ritz zwischen Körper und Seele. Nicht unbedingt ein Tag, an dem man die Augen vor blendendem Licht schützen mußte.

Da war sie wieder. Fest und gerade auf der Nase eines breitschultrigen Mannes. Keine Stoffmütze allerdings. Ein Trilby. Kein Regenmantel; Schafspelz.

Ich setzte mein Fernglas an, um ihn mir genauer anzusehen. Er stand mit dem Rücken zu mir, den Kopf leicht nach links gedreht. Ich sah ihn im Halbprofil, die Wange und dann deutlich die getönten Gläser, als er in ein Rennprogramm schaute.

Graubraune Haare, mittellang. Die Hände in Schweinslederhandschuhen. Bräunliche Tweedhose. Fernglas über die Schulter geschlungen. Ein typischer Rennbahnbesucher unter tausend anderen. Bis auf die Sonnenbrille.

Ich wollte, daß er sich umdrehte. Stattdessen entfernte er sich, immer noch mit dem Rücken zu mir, und verschwand in der Menge. Um es genau zu wissen, mußte ich schon näher an ihn heran.

Den ganzen restlichen Nachmittag hielt ich Ausschau nach einem — irgendeinem — Mann mit Sonnenbrille, doch die einzige, die so ausstaffiert herumlief, war eine Schauspielerin auf der Flucht vor ihren Fans.

Unvermeidlicherweise sah ich mich irgendwann auch Jody gegenüber.

Newbury war sein Lokalmeeting, und da er drei Pferde starten ließ, hatte ich gewußt, er würde dort sein. Eine Woche vorher hatte ich mich noch so gescheut, ihm zu begegnen, daß ich einen Bogen um Newbury machen wollte, hatte schließlich aber eingesehen, daß es notwendig war. Irgendwie mußte ich ihn glauben machen, ich hätte so gut wie keine Erinnerung an meinen nächtlichen Besuch; der Schlag auf den Kopf und die Gehirnerschütterung hätten in meinem Gedächtnis eine einzige große Lücke gerissen.

Er durfte nicht dahinterkommen, daß ich Energise gesehen und erkannt hatte und über den Tausch Bescheid wußte. Das mußte ich aus dem gleichen Grund verhindern, aus dem ich auch die Polizei heraushielt. Dem gleichen Grund, aus dem ich Charlie und Allie zum Stillschweigen verpflichtet hatte. Wenn die Alternative hieß, Betrugsverfahren oder weg mit den Beweisen, würde Jody blitzschnell das Corpus delicti verschwinden lassen. Energise würde lange vor jedem Haftbefehl tot und zu Hundefutter verarbeitet sein.

Den Gedanken, daß Jody ihn bereits getötet haben könnte, verdrängte ich nach Kräften. Er konnte nicht sicher sein, ob ich das Pferd gesehen hatte, sagte ich mir, und wenn ja, ob ich es erkannt hatte. Entdeckt hatten sie mich am Ende der Boxenreihe: Sie konnten nicht wissen, ob ich nicht hinten angefangen hatte und auf dem Weg nach vorn war. Sie konnten nicht mit Sicherheit davon ausgehen, daß ich nach einem vertauschten Pferd gesucht oder auch nur vermutet hatte, es sei eins dort. Sie wußten nicht genau, weshalb ich auf dem Hof gewesen war.

Energise war wertvoll, zu wertvoll, um aus einer Kurzschlußreaktion heraus getötet zu werden. Ich nahm an und hoffte, sie würden ihn nur töten, wenn es nicht anders ging. Warum sonst hätten sie sich solche Mühe geben sollen, meine Glaubwürdigkeit zu erschüttern? Indem sie mich unter Alkohol setzten und nach London spedierten, hatten sie Zeit gewonnen, Energise an einen sicheren Ort zu bringen, und wäre ich im Sturmlauf mit der Polizei zurückgekommen, wären wir sicher mit ganz erstaunter Unschuldsmiene empfangen worden.

«Aber bitte, sucht, wo ihr wollt«, hätte Jody gesagt.

Kein Energise weit und breit.

«Na ja, klar, wenn du betrunken warst, hast du das alles nur phantasiert.«

Ende der Ermittlung und Aus für Energise, denn danach wäre es zu riskant gewesen, ihn noch zu halten.

Konnte ich Jody hingegen einreden, daß ich von nichts wußte, ließ er Energise vielleicht am Leben, und mir blieb die Möglichkeit, ihn wiederzubekommen.

Ich stieß versehentlich vor der Waage mit Jody zusammen. Wir wandten uns einer halb zum anderen, um uns zu entschuldigen, und im Erkennen gefroren uns die Worte auf den Lippen.

Jodys Blick wurde drohend, und meiner vielleicht auch.

«Geh mir aus dem Weg«, sagte er.

«Hör mal, Jody«, antwortete ich,»du mußt mir helfen.«

«Dir helfe ich so sicher, wie ich dir den Arsch küsse.«

Ich überhörte das und mimte ein wenig Verwirrung.»Bin ich vor etwa vierzehn Tagen mal bei dir im Stall gewesen oder nicht?«

Sofort war er nur noch halb so heftig, aber doppelt so aufmerksam.

«Wie soll ich das verstehen?«

«Ich weiß, es ist blöd… aber irgendwie habe ich mich wohl betrunken und einen schweren Schlag auf den Kopf bekommen, und ich dachte… es kam mir vor, als wäre ich an dem Abend zu dir gefahren, obwohl ich mir, so wie's mit uns steht, beim besten Willen nicht denken kann, warum. Und deshalb frage ich dich, bin ich bei dir gewesen oder nicht?«

Er starrte mich mit zusammengekniffenen Augen an.»Wenn, dann habe ich dich jedenfalls nicht gesehen. «Ich sah auf den Boden, als wäre ich untröstlich, und schüttelte den Kopf.»Ich verstehe das nicht. Normalerweise trinke ich nicht viel. Die ganze Zeit versuche ich das schon auf die Reihe zu kriegen, aber zwischen sechs Uhr abends und dem nächsten Morgen, wo ich mit einem furchtbaren Brummschädel und voller blauer Flecke in einer Polizeistation aufgewacht bin, kann ich mich an nichts erinnern. Ich dachte, du könntest mir vielleicht sagen, was ich dazwischen gemacht hab, denn bei mir ist da Mattscheibe.«

Ich spürte förmlich die Gefühle, die ihn durchliefen. Staunen, Frohlocken, Erleichterung und der Eindruck, unverschämt viel Glück gehabt zu haben. Schon riskierte er wieder starke Töne.

«Warum zum Donnerwetter hättest du mich besuchen sollen? Du konntest mich doch gar nicht schnell genug loswerden.«

«Ich weiß nicht«, sagte ich bedrückt.»Du hast mich wohl nicht angerufen und mich gebeten…«

«Stimmt haargenau. Und laß dich auch bloß nicht blicken. Ich hab die Nase voll und will nichts mehr von dir, selbst wenn du angekrochen kommst.«

Er sah mich finster an, drehte sich um und ging mit langen Schritten davon, und nur, weil ich ahnte, was in ihm vorging, bekam ich den Anflug des zufriedenen Lächelns mit, das er sich nicht ganz verkneifen konnte. Auch mir war zum Lächeln. Wenn er mich so eindringlich ermahnte, von seinem Stall wegzubleiben, sprach alles dafür, daß Energise gesund und munter noch da stand.

Ich beobachtete, wie Jodys kräftiger Rücken sich durchs Gewühl schlängelte, wie die Leute ihn grüßten. Für sie war er ein aufgeweckter junger Trainer, der seinen Weg machte. Für mich ein abgefeimter kleiner Gauner.

Zu Weihnachten hatte ich Allie in Code 4 geschrieben.

«An welchem Abend im neuen Jahr kannst Du mit mir essen gehen und wo? Beiliegend 20 Dollar für die Heimfahrt.«

Am Morgen nach dem Renntag in Newbury erhielt ich ihre Antwort, ebenfalls in Gruppen zu fünf Buchstaben, aber nicht in Code 4. Sie hatte die Nachricht so raffiniert verwürfelt, daß ich zwei Minuten brauchte, um sie zu entschlüsseln. Kurze Mitteilungen waren immer am schwierigsten, und diese war wirklich sehr kurz.

Ich lachte laut. Und sie hatte die zwanzig Dollar behalten.

Der Rennkalender kam mit der gleichen Post. Ich ging mit dem Kalender und einer Tasse Kaffee zu dem großen Balkonfenster und setzte mich in einen Sessel, um zu lesen. Der Himmel über dem Tiergarten im Regent's Park sah so schwer und grau, so Schneeverhangen aus wie tags zuvor. Am Kanal unten malten die kahlen Zweige der Bäume schwarze Netze auf das braune Wasser und die Uferwiesen, und wie immer zerstörte der Verkehrsstrom die Illusion ländlichen Friedens. Mir gefiel diese Sicht auf das Leben, die wie meine Arbeit ein Kompromiß zwischen alten, primitiven Wurzeln und funkelnagelneuer Technologie war. Wo sich die Kraft des Alten mit den Annehmlichkeiten des Neuen verband, dachte ich, entstand Zufriedenheit. Wäre ich eine heidnische Gottheit gewesen, dann am liebsten die Elektrizität, die dem Himmel entsprang und Maschinen antrieb. Geheimnisvoll tödliche Naturgewalt, gebändigt, nutzbar gemacht und jederzeit verfügbar. Mein Onkel, der Schweißer, hatte mir als Kind die Elektrizität wie ein lebendes Wesen geschildert.»Der Strom holt dich, wenn du nicht aufpaßt. «Es sollte eine Warnung sein; und ich hatte mir den Strom als feuerspeiendes Ungetüm vorgestellt, das in den Drähten auf der Lauer lag.

Die steifen gelben Seiten des Rennkalenders knisterten vertraut, als ich sie aufschlug. Das wöchentlich erscheinende offizielle Organ des Rennsports listet auf zahlreichen zweispaltigen Seiten die für die bevorstehenden Rennen genannten Pferde auf. Dem Namen des Pferdes sind jeweils die Namen des Besitzers und des Trainers beigefügt, sein Alter und das Gewicht, das es im Rennen tragen muß.

Mit dem Bleistift in der Hand, um nicht versehentlich eine Zeile zu überspringen, sah ich wie in den beiden vorangegangenen Wochen die Namen, Besitzer und Trainer aller für Hürdenrennen genannten Pferde durch.

Grapevine (Mrs. R. Wantage) B. Fritwell…. 6 11 11

Pirate Boy (Lord Dresden) A.C. Barnes……… 10 11 4

Hopfield (Mr. Paul Hatheleigh) K. Poundsgate. 5 11 2

Sie waren zahllos. Seufzend hakte ich die Nennungen für Worcester ab. Dreihundertachtundsechzig für ein einziges Sieglosenrennen und dreihundertneunundvierzig für das nächste, und nichts dabei, was ich suchte.

Mein Kaffee war fast kalt. Ich trank ihn trotzdem und nahm mir die Rennen in Taunton vor.

Wieder Hunderte von Namen, aber Fehlanzeige.

Ascot nichts; Newcastle nichts. Warwick, Teesside, Plumpton, Doncaster dasselbe.

Ich legte den Kalender erst mal weg und ging auf den Balkon, um Luft zu schnappen. Bitterkalte Luft, die in die Lungen schnitt. Urzeitliche Polarluft, befrachtet mit Stadtdreck; wieder diese Mischung. Die Zootiere im Park waren ruhig, wohlgeborgen in geheizten Häusern. Im Sommer machten sie mehr Lärm.

Zurück an die Arbeit.

Huntingdon, Market Rasen, Stratford on Avon… ich seufzte, bevor ich an Stratford heranging, und sah nach, wieviel noch kam. Nottingham, Carlisle und Wetherby. Noch ein Morgen für die Katze, dachte ich.

Wandte mich wieder Stratford zu, und da stand es.

Ich kniff die Augen zusammen und las sorgfältig noch einmal nach, als könnte der Name verschwinden, wenn ich wegsah.

Etwa in der Mitte der vierundsechzig Nennungen für das Shakespeare Novice Hurdle.

Padellic (Mr.J. Leeds)J. Leeds…….5 10 7

Padellic.

Der Name erschien hier zum ersten Mal in Verbindung mit Jody. Ich kannte die Namen seiner Stammpferde und hatte nach einem neuen, einem unbekannten gesucht. Einem unbekannten Pferd, das, wenn meine Theorien stimmten, Jody selbst gehörte. Und da war es.

Farbe und Abzeichen von Padellic standen nicht im Kalender. Ich stürzte förmlich zu dem Regal mit meinen Rennberichten und schlug in sämtlichen Indizes nach.

Ziemlich klar, dachte ich. Er war als schwarzbrauner fünfjähriger Wallach aufgeführt, ein Halbblut von einem Vollblutvater aus einer Hunterstute. Er war von einem Mann trainiert worden, von dem ich noch nie gehört hatte, und in drei Hürdenrennen für Vierjährige gelaufen, ohne sich zu plazieren.

Ich rief den Trainer sofort an und gab mich als ein Mr. Robinson aus, der billig ein siegloses Pferd erstehen wollte.

«Padellic?«sagte er mit unverfälschtem Birminghamer Akzent.»Den Krampen habe ich mir im Oktober vom Hals geschafft. Unnützes Tier. Konnte sich noch nicht mal die Füße warmlaufen. Steht er wieder zum Verkauf? Wundern tut's mich nicht. Eine echte Schlafmütze ist das.«

«Ehm… wo haben Sie ihn verkauft?«

«Auf der gemischten Auktion in Doncaster. Grausliches Zeug hatten die da. Er ging für vierhundert Pfund weg, und das war noch viel für ihn. Gab nur das eine Gebot. Der Typ hätte ihn bestimmt auch für dreihundert haben können. Ich war mit den vier hochzufrieden, das kann ich Ihnen sagen.«

«Wissen Sie, wer ihn gekauft hat?«

«Hm?«Die Frage schien ihn zu überraschen.»Keine Ahnung. Der hat bei den Versteigerern bar bezahlt und keinen Namen angegeben. Ich sah nur, wie er sein Gebot abgab. Großer, schwerer Typ. War mir noch nie untergekommen. Mit Sonnenbrille. Hab ihn auch seitdem nicht mehr gesehen. Er hat bar bezahlt und das Pferd mitgenommen, und ich war richtig froh, es loszusein.«

«Wie ist das Pferd?«

«Sag ich doch, ein Lahmarsch.«

«Nein, wie es aussieht, meine ich.«

«Hm? Ich denke, Sie wollen es kaufen.«

«Nur auf dem Papier sozusagen. Ich dachte«, log ich,»es gehöre noch Ihnen.«

«Ach so. Na, schwarz ist er. Mehr oder weniger schwarz, mit etwas Braun um die Nüstern.«

«Nichts Weißes an ihm?«

«Kein Haar. Rabenschwarz. Schwarze taugen oft nichts.

Ich habe ihn selbst gezogen, verstehen Sie? Sollte ein Brauner werden, wurde aber schwarz. Wobei er nicht schlecht aussieht. Im Bau stimmt er. Aber das ist auch alles. Kein Speed.«

«Kann er springen?«

«Ach, na ja. Wenn man ihm Zeit läßt. Nicht schlecht.«

«Gut, vielen Dank.«

«Sie würden es bereuen«, meinte er warnend.»Lassen Sie die Finger davon.«

«Ich kaufe ihn nicht«, versicherte ich ihm.»Vielen Dank noch mal für Ihren Rat.«

Nachdenklich legte ich auf. Natürlich konnte es sein, daß Dutzende namenloser, kräftiger Männer mit Sonnenbrille auf den Auktionen herumliefen und langsame schwarze Pferde ohne Abzeichen gegen Barzahlung kauften; vielleicht war es aber auch nicht so.

Das Telefon klingelte unter meiner Hand. Ich nahm beim ersten Klingeln ab.

«Steven?«

Unverkennbar, die bekannte Zigarren-und-Portwein-Stimme.»Charlie.«

«Haben Sie schon zu Mittag gegessen? Ich bin gerade um die Ecke in Euston aus dem Zug gestiegen und dachte — «

«Bei mir oder wo?«

«Ich komme zu Ihnen.«

«Prima.«

Er kam strahlend und gut aufgelegt, da er gerade drei Millionen in der Nähe von Rugby investiert hatte. Im Gegensatz zu manchen anderen Bankern überzeugte Charlie sich immer gern selbst von der Lage der Dinge. Schriftliche Berichte seien gut und schön, meinte er, aber eine Sache beschnuppern sei besser. Wenn ein Projekt verkehrt roch, rückte er kein Geld dafür heraus. Charlie ging nach seiner Nase, und seine Nase war Gold wert.

Jetzt versenkte er das besagte Organ dankbar in einem großen Scotch mit Wasser.

«Was halten Sie von so einem kleinen Imbiß a la Bert?«meinte er im Auftauchen.»Ehrlich gesagt bin ich es leid, im Restaurant zu essen.«

Wir zogen einträchtig in die Küche und aßen Brot mit Speck, Currybohnen und Würstchen, eins schlimmer als das andere für die Taille, am schlimmsten für die von Charlie. Er klopfte sich liebevoll auf den Bauch.»Muß demnächst mal wieder abnehmen. Aber heute nicht«, sagte er.

Zum Kaffeetrinken setzten wir uns wieder gemütlich ins Wohnzimmer.

«Ich wünschte, ich würde leben wie Sie«, sagte er.»So entspannt und zwanglos.«

Ich lächelte. Mein ruhiges Leben hätte ihn innerhalb von drei Wochen in den Wahnsinn getrieben. Er brauchte Hektik, Big Business, schnelle Entscheidungen, das Jonglieren mit Finanzen, das Ausüben von Macht. Und bei so einem Leben, gestand ich mir ein, würde ich noch schneller durchdrehen.

«Haben Sie Ihr Schloß fertig?«fragte er. Er zündete sich dabei eine Zigarre an, und die Worte klangen beiläufig, aber ich fragte mich auf einmal doch, ob er deswegen gekommen war.

«Halb«, sagte ich.

Er schüttelte sein Streichholz, um es zu löschen.»Halten Sie mich auf dem laufenden«, sagte er.

«Versprochen.«

Er zog den Rauch der Havanna ein und nickte, und jetzt stand es in seinen Augen, daß er innerlich für die Bank im Dienst war.

«Wofür würden Sie mehr tun«, fragte ich.»Für mich als Freund oder für mich als Erfinder?«

Er war ein wenig verblüfft.»Kommt drauf an, was Sie wollen.«

«Praktische Hilfe bei einer Gegenoffensive.«

«Gegen Jody?«

Ich nickte.

«Für Sie als Freund«, sagte er.»Das ist ein

Freundschaftsdienst. Sie können auf mich zählen.«

Seine Bestimmtheit überraschte mich. Er sah es mir an und lächelte.

«Was der Ihnen angetan hat, war teuflisch. Vergessen Sie nicht, ich war ja hier. Ich habe gesehen, in welcher Verfassung Sie waren. Wie die Anklage wegen Trunkenheit

Sie getroffen hat, und Gott weiß, was für Schmerzen Sie auszustehen hatten. Sie sahen ziemlich fertig aus, das steht fest.«

«Tut mir leid.«

«Ach was. Wenn er Ihnen nur die Taschen ausgeräumt hätte, würde ich Ihnen wahrscheinlich mit gutem Rat, aber nicht mit Tat zur Seite stehen.«

Das hatte ich nicht erwartet. Im Gegenteil, ich hätte angenommen, daß der finanzielle Verlust ihn mehr empören würde als der Gesichtsverlust.

«Wenn Sie meinen…«, sagte ich unsicher.

«Aber klar. «Er war entschlossen.»Um was geht es Ihnen?«

Ich hob den Rennkalender auf, der neben meinem Sessel auf dem Boden lag, und erklärte, wie ich Padellic gesucht und gefunden hatte.

«Er ist auf der Versteigerung in Doncaster von einem kräftigen Mann mit Sonnenbrille bar gekauft worden und in Jodys Besitz übergegangen.«

«Verdächtig.«

«Ich würde mein Haus gegen einen Mäusepieps wetten, daß Rupert Ramsey sich momentan abrackert, um ihn für das Champion Hurdle fit zu kriegen.«

Charlie rauchte gemächlich.»Rupert Ramsey hat Padellic, meint aber, er habe Energise. Ist das richtig?«

Ich nickte.

«Und Jody beabsichtigt, Energise in Stratford on Avon als Padellic laufen zu lassen?«

«Sieht mir ganz danach aus«, sagte ich.

«Mir auch.«

«Nur ganz so einfach ist es nicht.«

«Wieso nicht?«

«Weil ich«, sagte ich,»noch zwei Rennen gefunden habe, für die Padellic genannt ist, und zwar in Nottingham und Lingfield. Alle drei Rennen finden in zehn bis vierzehn Tagen statt, und man kann nicht wissen, für welches Jody sich entscheidet.«

«Warum wäre das wichtig?«

Ich sagte es ihm.

Er hörte mit weit aufgerissenen Augen zu, und seine Brauen kletterten immer höher. Schließlich lächelte er.

«Wie wollen Sie also rausfinden, welches Rennen er nimmt?«

«Ich dachte«, sagte ich,»Sie könnten vielleicht Ihren Freund Bert mobilisieren. Er würde vieles für Sie tun.«

«Was denn genau?«

«Meinen Sie, Sie könnten ihn überreden, sich in einem von Ganser Mays' Wettbüros um eine Stelle zu bewerben?«

Charlie lachte.»Wieviel darf ich ihm erzählen?«

«Nur, auf was er achten soll. Nicht warum.«

«Sie sind unvergleichlich, Steven.«

«Und noch eins«, sagte ich,»wissen Sie was über die Fahrzeitbegrenzung für LKW-Fahrer?«

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