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Eiligen Schrittes lief sie einen Straßenzug vom Weißen Haus entfernt die Pennsylvania Avenue entlang, zitterte im kalten Dezemberwind, als sie das schreckliche, ohrenbetäubende Heulen der Luftschutzsirenen hörte und dann den Bomber hoch über ihr, bereit, seine tödliche Fracht abzuladen. Sie blieb stehen, wie erstarrt vor Entsetzen, umgeben von Panik und Schrecken.

Mit einem Mal war sie wieder in Sarajevo, vernahm das schrille Pfeifen der fallenden Bomben. Sie kniff die Augen zusammen, doch das Geschehen rundum konnte sie nicht ausblenden. Der Himmel stand in Flammen, und sie war taub vom Lärm der Schnellfeuergewehre, dem Donnern der Flugzeuge und dem Krachen der tödlichen Mörsergranaten. Die Gebäude in der Nähe zerbarsten, es hagelte Zement, Ziegelsteine und Staub. Entsetzte Menschen stoben nach allen Seiten davon, um dem Tod zu entrinnen.

Von weit, weit weg ertönte eine Männerstimme. »Ist alles in Ordnung?«

Langsam, vorsichtig schlug sie die Augen auf. Sie war wieder auf der Pennsylvania Avenue, im fahlen Licht der Wintersonne, und hörte das leiser werdende Geräusch einer Düsenmaschine und die Sirene eines Krankenwagens, die diese Erinnerung ausgelöst hatten.

»Miss - ist alles in Ordnung!«

Nur mühsam fand sie wieder in die Gegenwart zurück. »Ja. Mir - mir geht’s gut, danke.«

Er starrte sie an. »Moment mal! Sie sind Dana Evans. Ich bin ein großer Verehrer von Ihnen. Ich schaue mir jeden Abend Ihre Sendung auf WTN an, und ich habe alle Ihre

Beiträge aus Jugoslawien gesehen.« Er klang hellauf begeistert. »Muss ganz schön aufregend für Sie gewesen sein, von diesem Krieg zu berichten, was?«

»Ja.« Dana Evans’ Hals war trocken. Aufregend, wenn man mit ansehen muss, wie Menschen zerfetzt, Babys in Brunnen geworfen werden, zerrissene Körperteile wie Unrat auf einem rot verfärbten Fluss dahintreiben.

Plötzlich war ihr übel. »Entschuldigen Sie.« Sie wandte sich ab und hastete davon.

Dana Evans war erst drei Monate zuvor aus Jugoslawien zurückgekehrt und ihre Erinnerungen waren noch allzu frisch. Es kam ihr geradezu unwirklich vor, bei hellem Tageslicht ohne jede Angst die Straße entlanggehen zu können, den Gesang der Vögel und das Lachen der Menschen zu hören. In Sarajevo hatte es kein Lachen gegeben, nur das Krachen der einschlagenden Granaten und die qualvollen Schreie, die darauf folgten.

John Donne hatte Recht, dachte Dana. Niemand ist eine Insel. Was einem widerfährt, widerfährt uns allen, denn wir sind alle aus Erde und Sternenstaub gemacht. Gemeinsam erleben wir das Walten der Zeit. Unerbittlich bewegt sich der große Sekundenzeiger des Universums voran, bis die nächste Minute anbricht.

In Santiago wird ein zehnjähriges Mädchen von seinem Großvater vergewaltigt ...

In New York City küssen sich zwei Jungverliebte bei Kerzenschein .

In Flandern gebiert ein siebzehnjähriges Mädchen ein crack-geschädigtes Kind .

In Chicago setzt ein Feuerwehrmann sein Leben aufs Spiel, um eine Katze aus einem brennenden Haus zu retten

In Sao Paulo werden hunderte von Fußballfans zu Tode getrampelt, als bei einem Punktspiel die Tribune einstürzt .

In Pisa weint eine Mutter vor Freude, während sie zusieht, wie ihr Kind die ersten Schritte unternimmt .

All das und unendlich viel mehr ereignet sich innerhalb von nur sechzig Sekunden, dachte Dana. Und die Zeit läuft weiter, bis wir alle in der großen, unbekannten Ewigkeit enden.

Dana Evans war siebenundzwanzig Jahre alt und sah bezaubernd aus. Sie war schlank, hatte nachtschwarzes Haar, große, intelligente graue Augen, ein herzförmiges Gesicht und konnte so herzlich lachen, dass es geradezu ansteckend wirkte. Dana war ein Soldatenkind, die Tochter eines Colonels der US-Armee, der als Waffenausbilder von einem Stützpunkt zum anderen gezogen war, und durch dieses unstete Leben hatte sie von klein auf Gefallen am Abenteuer gefunden. Sie wirkte verletzlich und furchtlos zugleich -eine unwiderstehliche Mischung. Wie gebannt hatten die Menschen vor dem Fernseher gesessen, als sie ein Jahr lang vom Krieg auf dem Balkan berichtet hatte, scheinbar ungerührt inmitten des Schlachtengetümmels auf Sendung ging, ihr Leben aufs Spiel setzte und dennoch nüchtern und sachlich blieb, während ringsum Tod und Verderbnis herrschten. Und jetzt war sie sich ständig der Blicke bewusst, die man ihr zuwarf, des Getuschels, das ringsum einsetzte, wenn sie erkannt wurde. Dana Evans war ihr Bekanntheitsgrad eher peinlich.

Rasch ging sie die Pennsylvania Avenue entlang, warf einen Blick auf ihre Uhr, als sie am Weißen Haus vorüberhastete. Ich komme zu spät zur Konferenz, dachte sie.

Der Firmensitz der Washington Tribune Enterprises befand sich an der Sixth Street NW und bestand aus insgesamt vier Gebäuden, die einen ganzen Straßenzug einnahmen - die Druckerei, die Zeitungsredaktion, ein Hochhaus für die Verwaltung und Geschäftsleitung und der Fernsehsender. Die Fernsehstudios des Washington Tribune Network waren im fünften Stock von Haus Nummer vier untergebracht. Hier, wo zahllose Menschen in ihren Kabuffs an den Computern arbeiteten, herrschte stets hektisches Treiben. Ständig gingen neueste Nachrichten von gut einem halben Dutzend Presseagenturen rund um den Globus ein. Dieser gewaltige Apparat erstaunte und faszinierte Dana stets aufs Neue.

Hier hatte Dana auch Jeff Connors kennen gelernt. Jeff, einst ein ausgezeichneter Pitcher in der höchsten BaseballLiga, bis er sich bei einem Skiunfall den Arm gebrochen hatte, war Sportreporter bei WTN und schrieb zudem eine tägliche Kolumne für die Washington Tribune und alle ihr angeschlossenen Presseorgane. Er war Mitte Dreißig, groß und schlank, wirkte jungenhaft und hatte eine locker-lässige Art an sich, mit denen er die Menschen für sich einnahm. Jeff und Dana hatten sich ineinander verliebt und schmiedeten Heiratspläne.

In den drei Monaten seit Danas Rückkehr aus Sarajevo hatte sich in Washington allerhand getan. Leslie Stewart, der frühere Besitzer der Washington Tribune, hatte seine Anteile abgestoßen und sich zurückgezogen, und das Unternehmen war von Elliot Cromwell aufgekauft worden, einem international tätigen Medientycoon.

Die morgendliche Konferenz mit Matt Baker und Elliot Cromwell musste jeden Moment beginnen. Als Dana eintraf, wurde sie von Abbe Lasmann begrüßt, Matts reizvoller rothaariger Sekretärin.

»Die Herren erwarten Sie bereits«, sagte Abbe.

»Danke, Abbe.« Dana ging in das Eckzimmerbüro. »Matt ... Elliot ...«

»Sie sind spät dran«, knurrte Matt Baker.

Baker war ein kleiner, grauhaariger Mann von Anfang fünfzig, blitzgescheit und umtriebig, aber oft auch barsch und ungeduldig. Stets trug er zerknitterte Anzüge, die aussahen, als hätte er darin geschlafen, und Dana vermutete, dass dem auch so war. Er leitete WTN, die Fernsehabteilung der Washington Tribune Enterprises.

Elliot Cromwell war Mitte sechzig, ein freundlicher, aufgeschlossener Mann, der oft und gern lächelte. Er war Milliardär, aber es gab zig verschiedene Versionen darüber, wie er sein riesiges Vermögen angehäuft hatte, darunter auch einige weniger schmeichelhafte. In der Medienbranche, wo es doch in erster Linie um die Verbreitung von Informationen geht, war er allen ein Rätsel.

Er wandte sich Dana zu. »Matt sagt, dass wir die Konkurrenz wieder schlagen«, sagte er. »Ihre Quoten steigen weiter.«

»Das höre ich gern, Elliot.«

»Dana, ich verfolge jeden Abend Dutzende von Nachrichtensendungen, aber Ihre ist anders als alle übrigen. Ich weiß nicht genau, warum, aber sie gefällt mir.«

Dana hätte Elliot Cromwell den Grund erklären können. Andere Nachrichtensprecher trugen die neuesten Ereignisse einem gesichtslosen Millionenpublikum vor, ohne auf ihre Zuschauer in irgendeiner Weise einzugehen. Dana indessen hatte beschlossen, die Sache persönlich zu gestalten. An einem Abend stellte sie sich vor, dass sie mit einer einsamen Witwe sprach, am nächsten mit einem gebrechlichen, hilflos ans Bett gefesselten Menschen, am dritten mit einem Handelsvertreter, der irgendwo fern von seiner Familie allein vor dem Fernseher saß. Ihre Nachrichten klangen eindringlich und direkt, und die Zuschauer mochten sie und reagierten entsprechend darauf.

»Meines Wissens haben Sie heute Abend einen interessanten Gast zum Interview eingeladen«, sagte Matt Baker.

Dana nickte. »Gary Winthrop.«

Gary Winthrop war Amerikas Märchenprinz. Er entstammte einer der bekanntesten Familien des Landes, ein gut aussehender Mann in den besten Jahren mit viel Charisma.

»Er tritt nicht gern in der Öffentlichkeit auf«, sagte Cromwell. »Wie haben Sie ihn dazu bewegen können?«

»Wir haben ein gemeinsames Hobby«, erklärte ihm Dana.

Cromwell furchte die Stirn. »Wirklich?«

»Ja.« Dana lächelte. »Ich gucke mir gern einen Monet oder van Gogh an, und er kauft sie gern. Aber im Ernst - ich habe ihn schon mal interviewt, und wir haben uns angefreundet. Wir bringen einen Bericht über die Pressekonferenz, die er heute Nachmittag gibt. Danach kommt mein Interview.«

»Wunderbar.« Cromwell strahlte.

Die nächste Stunde sprachen sie über die neue Sendung, die die Fernsehgesellschaft plante, ein einstündiges Kriminalmagazin mit dem Titel Alibi, das Dana produzieren und moderieren sollte. Es sollte zweierlei Zwecken dienen: Zum Einen auf Justizirrtümer und Unrecht aufmerksam machen, damit man sie wieder gutmachen konnte, und zum Zweiten das Publikum dazu anhalten, beim Lösen ungeklärter Kriminalfälle mitzuwirken.

»Es gibt jede Menge Magazinsendungen«, warf Matt warnend ein. »Folglich müssen wir besser sein als die anderen. Ich möchte, dass wir mit einem richtigen Hammer anfangen. Irgendwas, was die Zuschauer fesselt und -«

Die Gegensprechanlage summte. Matt Baker drückte eine Taste. »Ich habe doch gesagt, keine Anrufe. Warum -?«

Abbes Stimme drang aus dem Lautsprecher. »Tut mir Leid. Ein Gespräch für Miss Evans. Jemand aus Kemals Schule ist dran. Es klingt dringend.«

Beklommen und mit heftigem Herzklopfen ging Dana ans Telefon. »Hallo ... Ist mit Kemal alles in Ordnung?« Sie hörte einen Moment lang zu. »Aha ... Ich verstehe ... Ja, ich komme gleich vorbei.« Sie legte den Hörer auf.

»Was ist los?«, fragte Matt.

»Ich soll zur Schule kommen und Kemal abholen«, sagte Dana.

Elliot Cromwell runzelte die Stirn. »Ist das der Junge, den Sie aus Sarajevo mitgebracht haben?«

»Ja.«

»Eine tolle Geschichte.«

»Ja«, sagte Dana verhalten.

»Haben Sie den nicht auf irgendeinem Grundstück aufgestöbert?«

»So ist es«, erwiderte Dana.

»Er hatte irgendeine Krankheit oder so was Ähnliches?«

»Nein«, sagte sie entschieden, weil sie keine Lust hatte, über diese Zeit zu reden. »Kemal hat einen Arm verloren. Er wurde von einer Bombe weggerissen.«

»Und Sie haben ihn adoptiert.«

»Offiziell noch nicht, Elliot. Aber ich habe es vor. Vorerst bin ich nur sein Vormund.«

»Nun denn, holen Sie ihn ab. Über Alibi sprechen wir später weiter.«

Als Dana in der Theodore Roosevelt Middle School eintraf, begab sie sich unverzüglich zum Rektorat. Vera Kostoff, die stellvertretende Schulleiterin, eine verhärmt wirkende, vorzeitig ergraute Frau um die fünfzig, saß an ihrem Schreibtisch. Kemal hockte ihr gegenüber. Er war zwölf Jahre alt, klein für sein Alter, schmal und blass, hatte zerzauste blonde Haare und ein trotziges Kinn. Sein rechter Hemdsärmel hing leer herunter. Hier in diesem Zimmer wirkte er noch schmächtiger als sonst.

Als Dana in das Büro kam, spürte sie sofort die Spannung, die in der Luft lag.

»Hallo, Mrs. Kostoff«, sagte sie mit strahlender Miene.

»Kemal.«

Kemal starrte auf seine Schuhe.

»Soweit ich weiß, ist irgendetwas vorgefallen«, fuhr Dana fort.

»Ja, das kann man wohl sagen, Miss Evans.« Sie reichte Dana ein Blatt Papier.

Dana schaute verdutzt darauf. Vidja stand dort, pizda, zbosti, fukati, nezakonski otrok, umreti, tepec. Sie blickte auf. »Ich - ich verstehe nicht recht. Das ist Serbisch, nicht wahr?«

»So ist es«, erwiderte Mrs. Kostoff verkniffen. »Kemal hat das Pech, dass ich zufällig Serbin bin. Diese Ausdrücke hat Kemal im Unterricht gebraucht.« Ihr Gesicht war rot angelaufen. »So drücken sich nicht einmal serbische Lastwagenfahrer aus, Miss Evans, und ich lasse mir von diesem Knaben hier keine solchen Kraftausdrücke bieten. Kemal hat mich eine pizda geheißen.«

»Eine pi-?«, sagte Dana.

»Ich bin mir durchaus darüber im Klaren, dass Kemal noch nicht lange in diesem Land weilt, und ich habe mich wirklich um Nachsicht bemüht, aber sein - sein Betragen ist abscheulich. Ständig ist er auf Streit aus, und als ich ihn heute Morgen getadelt habe, hat er - hat er mich beleidigt. Das geht zu weit.«

»Sie sind sich doch sicherlich bewusst, wie schwer er sich hier tut, Mrs. Kostoff, und -«

»Wie schon gesagt, ich bin durchaus nachsichtig mit ihm, aber er stellt meine Geduld auf eine harte Probe.«

»Ich verstehe.« Dana blickte zu Kemal. Er starrte nach wie vor mürrisch auf seine Schuhe.

»Ich hoffe, dass dies der letzte derartige Vorfall war«, sagte Mrs. Kostoff.

»Ich auch.« Dana stand auf.

»Ich habe Kemals Zeugnis für Sie.« Mrs. Kostoff öffnete eine Schublade, zog ein Blatt Papier heraus und reichte es Dana.

»Danke«, sagte Dana.

Auf der Heimfahrt schwieg Kemal.

»Was soll ich nur mit dir machen?«, sagte Dana. »Wieso bist du ständig auf Streit aus, und weshalb benutzt du solche Ausdrücke?«

»Ich hab nicht gewusst, dass sie Serbisch kann.«

»Ich muss wieder ins Studio, Kemal«, sagte sie, als sie vor ihrem Wohnhaus anlangten. »Kommst du hier allein klar?«

»Top.«

Als Kemal das zum ersten Mal zu ihr gesagt hatte, hatte Dana gedacht, er hätte sie nicht verstanden, doch sie begriff rasch, dass dies zu dem Geheimjargon gehörte, den die jungen Leute sprachen. »Top« hieß so viel wie »ja«. Angehörige des anderen Geschlechts wurden als »Knies« bezeichnet - knackig, niedlich und scharf. Alles war entweder cool oder geil, krass oder mega. Wenn ihm etwas nicht gefiel, war es ätzend.

Dana holte das Zeugnis heraus, das Mrs. Kostoff ihr gegeben hatte. Sie kniff die Lippen zusammen, als sie es las. Geschichte vier. Englisch vier. Naturkunde vier. Sozialkunde sechs. Mathematik eins.

Ach Gott, was soll ich nur machen?, dachte Dana, während sie das Zeugnis betrachtete. »Darüber sprechen wir ein andermal«, sagte sie. »Ich bin spät dran.«

Kemal war Dana ein Rätsel. Wenn sie beisammen waren, benahm er sich tadellos, er war liebevoll, zuvorkommend und reizend. Am Wochenende zogen Dana und Jeff mit ihm kreuz und quer durch Washington, gingen in den National Zoo mit seinem sehenswerten Aufgebot an wilden Tieren und betrachteten die aus den Dschungeln Chinas stammenden Riesenpandas. Sie besuchten das National Air & Space Museum, wo sie Kemal die von der Decke baumelnde Maschine zeigten, mit der die Gebrüder Wright den ersten Motorflug unternommen hatten, besichtigten das Skylab und fassten das Mondgestein an. Sie gingen ins Kennedy Center und zum Arena Stage. Sie luden Kemal zu einer Pizza bei Tom Tom ein, zu Tacos bei Mextec und Brathähnchen nach Südstaatenart bei Georgia Brown’s. Kemal genoss jede einzelne Sekunde. Er liebte diese gemeinsamen Unternehmungen mit Dana und Jeff über alles.

Doch wenn Dana zur Arbeit gehen musste, verwandelte sich Kemal in einen anderen Menschen. Er wurde feindselig und widerspenstig. Dana konnte auf Dauer keine Haushaltshilfe halten, und die Mädchen, die abends auf Kemal aufpassten, erzählten die reinsten Horrorgeschichten.

Jeff und Dana versuchten gütlich auf ihn einzuwirken, doch es nützte nichts.

Vielleicht braucht er psychologischen Beistand, dachte Dana. Sie hatte keine Ahnung, welche Ängste und Schrecken Kemal plagten.

Die Abendnachrichten von WTN gingen über den Äther. Richard Melton, Danas gut aussehender Ko-Moderator, und Jeff Connors saßen neben ihr.

». und nun zum Ausland«, sagte Dana gerade. »Zwischen England und Frankreich gibt es nach wie vor Reibereien wegen des Rinderwahnsinns. Ein Bericht von Rene Linaud aus Reims.«

»Schalten Sie auf Satellit«, befahl Anastasia Mann im Regieraum.

Eine Viehweide inmitten einer typisch französischen Landschaft tauchte auf den diversen Bildschirmen auf.

Die Studiotür ging auf, und etliche Männer kamen herein und gingen auf das Moderatorenpult zu.

Alle blickten auf. »Dana, Sie kennen doch Gary Winthrop«, sagte Tom Hawkins, der ehrgeizige junge Produzent der Abendnachrichten.

»Natürlich.«

Leibhaftig sah Gary Winthrop noch besser aus als auf den Fotos. Er war Mitte vierzig, hatte strahlend blaue Augen, lächelte freundlich und sprühte förmlich vor Charme.

»So trifft man sich wieder, Dana. Danke, dass Sie mich eingeladen haben.«

»Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind.«

Dana blickte sich um. Ein halbes Dutzend Sekretärinnen, die alle so taten, als hätten sie hier etwas Dringendes zu tun, tummelte sich mit einem Mal im Studio. Gary Winthrop ist so was bestimmt gewohnt, dachte Dana amüsiert.

»Ihr Beitrag kommt in ein paar Minuten. Setzen Sie sich loch zu mir. Das ist Richard Melton.« Die beiden Männer Schüttelten sich die Hand. »Jeff Connors kennen Sie ja bestimmt, nicht wahr?«

»Selbstverständlich. Sie sollten selber wieder antreten, Jeff, statt nur von den Spielen zu berichten.«

»Ich wünschte, ich könnte es«, erwiderte Jeff zerknirscht.

Der Beitrag aus Frankreich ging zu Ende, und danach kam eine Werbepause. Gary Winthrop nahm Platz und wartete, bis der letzte Spot vorüber war.

»Bitte bereithalten«, meldete sich Anastasia Mann aus dem Regieraum. »Wir spielen das Band ein.« Lautlos zählte sie mit dem Zeigefinger ab. »Drei . zwei . eins.«

Auf dem Monitor tauchte das Portal des Georgetown Museum of Art auf. Ein Kommentator mit dem Mikrofon in der Hand trotzte tapfer dem kalten Wind.

»Wir befinden uns hier vor dem Georgetown Museum of Art, in dem soeben ein Empfang zu Ehren von Mr. Gary Win-throp stattfindet, der dem Museum eine Spende von fünfzig Millionen Dollar überreicht hat. Begeben wir uns hinein.«

Das Bild wechselte zu einem weitläufigen Museumssaal, in dem sich zahlreiche Würdenträger, Vertreter der Stadt und diverse Fernsehteams um Gary Winthrop scharten. Morgan Ormond, der Direktor des Museums, überreichte ihm eine große Plakette.

»Mr. Winthrop, im Namen unseres Museums, der vielen Menschen, die hierher kommen, sowie all unserer Förderer möchte ich mich bei Ihnen für diese überaus großzügige Spende bedanken.«

Rundum gingen Blitzlichter los.

»Ich hoffe«, sagte Gary Winthrop, »dass dadurch jungen amerikanischen Malern die Möglichkeit geboten wird, sich nicht nur künstlerisch auszudrücken, sondern ihre Werke auch öffentlich auszustellen, damit sie weltweit Anerkennung finden.«

Lauter Beifall aus dem Publikum.

»Bill Toland vom Georgetown Museum of Art«, sagte der Kommentator. »Zurück ins Studio. Dana?«

Das rote Licht an der Kamera blinkte auf.

»Vielen Dank, Bill. Mr. Gary Winthrop hat sich freundlicherweise bereit erklärt, zu uns zu kommen und mit uns über Sinn und Zweck seiner enormen Spende zu sprechen.«

Die Kamera fuhr zurück, bis sie auch Gary Winthrop erfasste, der neben Dana im Studio saß.

»Mr. Winthrop«, begann Dana, »soll diese Spende von fünfzig Millionen Dollar dazu verwendet werden, neue Bilder für das Museum anzukaufen?«

»Nein. Sie ist in erster Linie für den Ausbau eines neuen Flügels gedacht, der vor allem jungen amerikanischen Künstlern vorbehalten sein soll, die ansonsten wenig Gelegenheit haben zu zeigen, was sie können. Darüber hinaus soll ein Teil des Geldes in Stipendien für künstlerisch begabte Jugendliche aus problematischen Innenstadtbezirken fließen. Die jungen Leute heutzutage wachsen doch ohne jedes Kunstverständnis auf. Der eine oder andere hört vielleicht mal irgendwas von französischen Impressionisten, aber mir geht es vor allem darum, dass sie sich auf ihr eigenes Erbteil besinnen, denn auch Amerika hat mit Künstlern wie Sargent, Homer und Remington einiges zu bieten. Diese Spende soll dazu verwendet werden, junge Künstler zu fördern und allen jungen Menschen die Kunst näher zu bringen.«

»Es geht das Gerücht«, sagte Dana, »dass Sie für einen Sitz im Senat kandidieren wollen, Mr. Winthrop. Ist da etwas Wahres dran?«

Gary Winthrop nickte. »In meiner Familie ist es schon seit langem üblich, dass man sich in den Dienst der Öffentlichkeit stellt. Wenn ich etwas zum Nutzen dieses Landes beitragen kann, werde ich alles in meiner Macht Stehende dazu tun.«

»Vielen Dank für Ihren Besuch, Mr. Winthrop.«

»Ich danke Ihnen.«

In der anschließenden Werbepause verabschiedete sich Gary Winthrop und verließ das Studio.

»Wir könnten ein paar mehr von seiner Sorte im Kongress gebrauchen«, sagte Jeff Connors, der neben Dana saß.

»Amen.«

»Vielleicht sollten wir ihn klonen. Übrigens - was macht Kemal?«

Dana zuckte zusammen. »Jeff - bitte erwähne Kemal und Klonen nicht in einem Atemzug. Das ertrage ich nicht.«

»Hat sich die Sache mit der Schule heute Morgen regeln lassen?«

»Ja, aber das war heute. Morgen ist -«

»Wir sind wieder dran«, sagte Anastasia Mann. »Drei ... zwei ... eins ...«

Das rote Licht blinkte auf. Dana blickte auf den Teleprompter. »Und nun zum Sport, mit Jeff Connors.«

Jeff wandte sich in die Kamera. »Die Washington Bullets waren heute Abend von allen guten Geistern verlassen. Juwan Howard hat ein paar Zaubertricks versucht, doch Gheorghe Muresan und Rasheed Wallace kochten ihr eigenes Süppchen, und was dabei herauskam, war bitter und schmeckte ihnen überhaupt nicht .«

Die beiden Männer, die um zwei Uhr morgens in Gary Winthrops Stadtvilla eindrangen, nahmen sich zunächst die Bilder im Salon vor. Der eine trug eine Zorro-Maske, der andere war als Batman verkleidet. Sie gingen in aller Ruhe ans Werk, schnitten die Gemälde aus dem Rahmen und verstauten sie in einem großen Jutesack.

»Wann kommt der Wachmann wieder vorbei?«, fragte Zorro.

»Um vier Uhr früh«, erwiderte Batman.

»So ein geregelter Dienstplan kommt uns doch sehr entgegen, meinst du nicht?«

»Doch.«

Batman nahm ein Bild von der Wand und ließ es krachend zu Boden fallen. Die beiden Männer hielten inne und lauschten. Nichts tat sich.

»Versuch’s noch mal«, sagte Zorro. »Ein bisschen lauter.«

Batman ergriff ein anderes Gemälde und warf es mit aller Kraft auf den Boden. »Mal sehen, was sich jetzt tut.«

Gary Winthrop, der oben in seinem Schlafzimmer lag, fuhr hoch. Er setzte sich im Bett auf. Hatte er eben ein Geräusch gehört, oder hatte er nur geträumt? Er lauschte einen Moment lang. Kein Ton. Unsicher stand er auf, ging hinaus in den Gang und drückte auf den Lichtschalter. Der Flur blieb dunkel.

»Hallo. Ist da unten jemand?« Keine Antwort. Er stieg die Treppe hinab und ging den Gang entlang, bis er auf die Tür zum Salon stieß. Er hielt inne und starrte ungläubig auf die beiden Maskierten.

»Was, zum Teufel, machen Sie hier?«

Zorro wandte sich an ihn. »Hallo, Gary. Tut mir Leid, dass wir Sie geweckt haben. Schlafen Sie weiter.« Plötzlich hatte er eine mit einem Schalldämpfer versehene Beretta in der Hand. Er drückte zweimal ab, sah, wie Gary Winthrops Brust zerfetzt wurde. Zorro und Batman betrachteten ihn einen Moment lang, nachdem er zu Boden gestürzt war. Dann wandten sie sich zufrieden ab und nahmen die übrigen Bilder von der Wand.

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