Jede Stadt hat ihren eigenen Rhythmus, und Rom lässt sich auch diesbezüglich mit keiner anderen Stadt der Welt vergleichen. Es ist eine moderne Metropole, eingebunden in ihre jahrtausendealte ruhmreiche Geschichte. In Rom bewegt man sich gemessenen Schrittes, denn es gibt keinerlei Grund zur Eile. Und was heute nicht wird, wird eben morgen.
Dana war seit ihrem zwölften Lebensjahr, als ihre Eltern sie dorthin mitgenommen hatten, nicht mehr in Rom gewesen. Bei der Landung auf dem Aeroporto Leonardo da Vinci kamen ihr zahllose Erlebnisse wieder in den Sinn. Sie erinnerte sich an ihren ersten Tag in Rom, als sie das Kolosseum erkundet hatte, wo einst die Christen den wilden Löwen zum Fraß vorgeworfen worden waren. Danach hatte sie eine Woche lang nicht schlafen können.
Sie hatte mit ihren Eltern den Vatikan besichtigt und die Spanische Treppe, hatte Lire-Münzen in die Fontana di Trevi geworfen und sich dabei gewünscht, ihre Eltern möchten mit der ständigen Streiterei aufhören. Als ihr Vater verschwunden war, hatte sie das Gefühl gehabt, der Brunnen hätte sie im Stich gelassen.
Sie hatte in den Terme di Caracalla, den alten römischen Bädern, eine Aufführung der Oper Othello gesehen - ein Abend, den sie nie vergessen würde.
Sie hatte im berühmten Doney’s an der Via Veneto Eiscreme gegessen und die belebten Straßen in Trastevere erkundet. Dana schwärmte für Rom und die Menschen, die dort lebten. Wer hätte gedacht, dass ich nach all den Jahren auf der Suche nach einem mehrfachen Mörder hierher
Dana stieg im Hotel Ciceroni an der Piazza Navona ab.
»Buon giorno«, begrüßte sie der Geschäftsführer des Hotels. »Wir sind entzückt, dass Sie bei uns wohnen, Miss Evans. Soweit ich weiß, bleiben Sie zwei Tage hier?«
Dana zögerte. »Ich weiß es noch nicht genau.«
Er lächelte. »Spielt keine Rolle. Wir haben eine wunderschöne Suite für Sie. Sagen Sie uns Bescheid, wenn wir irgendetwas für Sie tun können.«
Italien ist so ein freundliches Land. Dana musste an Doro-thy und Howard Wharton denken, ihre ehemaligen Nachbarn. Ich weiß nicht, wie die auf mich gekommen sind, aber sie haben eigens jemand hier einfliegen lassen, um mit mir handelseinig zu werden.
Dana beschloss, die Gelegenheit zu nutzen und die Whartons anzurufen. Sie ließ sich von der Vermittlung mit der Italiano Ripristino Corporation verbinden.
»Ich möchte bitte Howard Wharton sprechen.«
»Könnten Sie den Namen buchstabieren?«
Dana buchstabierte ihn.
»Vielen Dank. Einen Moment.«
Es dauerte ganze fünf Minuten, bis sich die Frau wieder meldete.
»Tut mir Leid. Hier gibt es keinen Howard Wharton.«
Die einzige Bedingung dabei ist, dass wir bis morgen in Rom sein müssen.
Dana rief Dominick Romano an, den Nachrichtenmoderator beim Fernsehsender Italia 1.
»Ich bin’s, Dana. Ich bin hier, Dominick.«
»Dana! Wie schön! Wo wollen wir uns treffen?«
»Schlag du was vor.«
»Wo wohnst du?«
»Im Hotel Ciceroni.«
»Nimm ein Taxi und sag dem Fahrer, er soll dich zum Toula bringen. Ich bin in einer halben Stunde dort.«
Das Toula an der Via Della Lupa war eins der berühmtesten Restaurants von Rom. Als Dana dort eintraf, wartete Romano bereits.
»Buon giorno. Schön, dich wieder zu sehen, ohne dass ringsum Bomben fallen.«
»Ganz meinerseits, Dominick.«
»Was für ein sinnloser Krieg.« Er schüttelte den Kopf. »Vermutlich noch sinnloser als die meisten anderen. Bene! Was machst du in Rom?«
»Ich möchte hier mit einem Mann sprechen.«
»Und wie heißt der Glückliche?«
»Vincente Mancino.«
Dominick Romano wurde mit einem Mal ernst. »Weshalb willst du mit ihm sprechen?«
»Vermutlich springt nichts dabei heraus, aber ich stelle gerade ein paar Recherchen an. Erzähl mir was über Manci-no.«
Dominick Romano dachte scharf nach, ehe er das Wort ergriff. »Mancino war Wirtschaftsminister. Er hat Beziehungen zur Mafia. Hat allerhand auf dem Kerbholz. Jedenfalls gab er plötzlich und unerwartet einen wichtigen Posten auf, ohne dass jemand weiß, weshalb.« Romano blickte Dana neugierig an. »Wieso interessierst du dich für ihn?«
Dana ging nicht auf die Frage ein. »Meines Wissens hatte Mancino mit Taylor Winthrop über ein Wirtschaftsabkommen verhandelt, als er abtrat.«
»Ja. Winthrop brachte die Verhandlungen mit jemand anderem zum Abschluss.«
»Wie lange war Taylor Winthrop in Rom?«
Romano dachte kurz nach. »Etwa zwei Monate. Mancino und Winthrop haben sich im Laufe der Zeit angefreundet, zumindest gingen sie oft einen trinken.« Und dann fügte er hinzu: »Irgendwas muss schief gegangen sein.«
»Was?«
»Wer weiß. Darüber sind allerlei Geschichten im Umlauf. Mancino hatte nur ein Kind, eine Tochter namens Pia, und die ist verschwunden. Mancinos Frau erlitt einen Nervenzusammenbruch.«
»Seine Tochter ist verschwunden? Wie meinst du das? Wurde sie entführt?«
»Nein. Sie ist einfach irgendwie« - er versuchte vergeblich, das richtige Wort zu finden - »verschwunden. Niemand weiß, was aus ihr geworden ist.« Er seufzte. »Pia war eine Schönheit, das kann ich dir sagen.«
»Wo hält sich Mancinos Frau auf?«
»Es geht das Gerücht, dass sie sich in einem Sanatorium befindet.«
»Weißt du, wo?«
»Nein. Und dich sollte es besser auch nicht interessieren.« Ihr Kellner kam an den Tisch. »Ich kenne dieses Restaurant«, sagte Dominick Romano. »Soll ich für dich mitbestellen?«
»Gern.«
»Bene.« Er wandte sich an den Kellner. »Primo, pasta e fagioli. Dopo, abbacchio arrosto conpolenta.«
»Grazie.«
Das Essen war hervorragend, und während sie es genossen, plauderten sie locker und zwanglos miteinander. Doch als sie aufstanden und gehen wollten, sagte Romano: »Dana, halte dich von Mancino fern. Er ist nicht der Mann, dem man Fragen stellt.«
»Aber wenn er -«
»Vergiss ihn. Ich sage nur ein Wort - omerta.« »Vielen Dank, Dominick. Ich weiß deinen Rat zu schätzen.«
Vincente Mancinos Büroräume befanden sich in einem modernen Gebäude an der Via Sardegna, das ihm gehörte. Ein stämmiger Wachmann saß an der Rezeption in dem marmorgetäfelten Foyer.
Er blickte auf, als Dana eintrat. »Buon giorno. Posso aiutarla, signorina?«
»Mein Name ist Dana Evans. Ich möchte Signor Vincente Mancino sprechen.«
»Haben Sie einen Termin?«
»Nein.«
»Dann tut es mir Leid.«
»Sagen Sie ihm, es geht um Taylor Winthrop.«
Der Wachmann musterte Dana einen Moment lang, dann griff er zum Telefon und sagte etwas. Er legte den Hörer auf. Dana wartete.
Was, in aller Welt, werde ich herausfinden?
Das Telefon klingelte, worauf der Wachmann den Hörer abnahm und einen Moment lang lauschte. Er wandte sich an Dana. »Zweiter Stock. Dort wird Sie jemand abholen.« »Vielen Dank.«
»Prego.«
Vincente Mancinos Büro war klein und unscheinbar, ganz und gar nicht das, was Dana erwartet hatte. Mancino saß an einem alten, zerschrammten Schreibtisch. Er war um die sechzig, mittelgroß, mit breiter Brust, schmalen Lippen, weißem Haar und einer Hakennase. Er hatte die kältesten Augen, die Dana je gesehen hatte. Auf dem Schreibtisch stand in einem Goldrahmen ein Foto von einem bildschönen Teenager.
»Sie kommen also wegen Taylor Winthrop?«, fragte Man-cino, als Dana eintrat. Er sprach mit tiefer, schnarrender Stimme.
»Ja. Ich wollte mit Ihnen darüber reden, was -«
»Da gibt es nichts zu bereden, signorina. Er ist bei einem Brand umgekommen. Er schmort in der Hölle, und seine Frau und seine Kinder schmoren ebenfalls in der Hölle.«
»Darf ich mich hinsetzen, Mr. Mancino?«
Er holte zu einem barschen Nein aus, sagte dann jedoch: »Scusi. Wenn ich mich aufrege, vergesse ich manchmal meine Manieren. Prego, si accomodi. Bitte nehmen Sie Platz.«
Dana ließ sich auf einem Sessel ihm gegenüber nieder. »Sie und Taylor Winthrop haben ein Wirtschaftsabkommen zwischen Ihren Regierungen ausgehandelt.«
»Ja.«
»Und Sie haben sich miteinander angefreundet?«
»Eine Zeit lang, forse.«
Dana warf einen Blick auf das Foto am Schreibtisch. »Ist das Ihre Tochter?«
Er antwortete nicht.
»Sie ist bildschön.«
»Ja, sie war sehr schön.«
Dana blickte ihn verdutzt an. »Lebt sie nicht mehr?« Sie sah, wie er sie musterte, sich überlegte, ob er mit ihr reden sollte.
»Ob sie noch lebt?«, sagte er, als er schließlich das Wort ergriff. »Wer weiß.« Er klang mit einem Mal leidgeprüft. »Ich habe ihren amerikanischen Freund, diesen Taylor Winthrop, in mein Haus eingeladen. Er hat bei uns gegessen. Ich habe ihn meinen Freunden vorgestellt. Wissen Sie, wie er es mir vergolten hat? Er hat meine wunderschöne, jungfräuliche Tochter geschwängert. Sie war sechzehn Jahre alt. Sie hatte Angst, es mir zu beichten, weil sie wusste, dass ich ihn töten würde, daher ... ließ sie sich auf eine Abtreibung ein.« Er stieß das Wort aus wie einen Fluch. »Winthrop hatte Angst, dass es bekannt werden könnte, deshalb schickte er Pia nicht zu einem Arzt. Nein. Er ... er schickte sie zu einem Metzger.« Tränen traten ihm in die Augen. »Einem Metzger, der ihr die Gebärmutter herausgerissen hat. Meine sechzehnjährige Tochter, signorina ...« Mit erstickter Stimme fuhr er fort. »Taylor Winthrop hat nicht nur das Leben meiner Tochter zerstört, er hat auch meine Enkel ermordet und deren Kinder und Kindeskinder. Er hat die gesamte Familie Mancino für alle Zeiten ausgelöscht.« Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen. »Jetzt haben er und seine ganze Familie für seinen Sündenfall gebüßt.«
Dana saß stumm da, sprachlos.
»Meine Tochter ist in einem Kloster, signorina. Ich werde sie nie wieder sehen. Ja, ich habe mich mit Taylor Winthrop eingelassen.« Er warf Dana einen stechenden Blick aus seinen kalten, stahlgrauen Augen zu. »Aber es war ein Pakt mit dem Teufel.«
Damit wären es also schon zwei, dachte Dana. Und das Treffen mit Marcel Falcon steht mir noch bevor.
Dana flog mit einer Maschine der KLM nach Brüssel, als sie mit einem Mal wahrnahm, dass sich jemand auf dem Sitz neben ihr niederließ. Sie blickte auf. Es war ein attraktiver, freundlich wirkender Mann, der die Stewardess offenbar gefragt hatte, ob er den Platz wechseln dürfte.
Lächelnd blickte er Dana an. »Guten Morgen. Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Meine Name ist David Haynes.« Er sprach mit englischem Akzent.
»Dana Evans.«
Er verzog keine Miene, kannte sie offenbar nicht. »Ein zauberhaftes Flugwetter, nicht wahr?«
»Herrlich«, pflichtete Dana ihm bei.
Er musterte sie bewundernd. »Sind Sie geschäftlich nach Brüssel unterwegs?«
»Teils geschäftlich, teils zum Vergnügen.«
»Haben Sie dort Freunde?«
»Ein paar.«
»Ich kenne Brüssel wie meine Westentasche.«
Warte, wenn ich das Jeff erzähle, dachte Dana. Und dann fiel es ihr wieder ein. Er ist bei Rachel.
Er musterte sie. »Sie kommen mir irgendwie bekannt vor.«
Dana lächelte. »Das passiert mir öfter. Muss irgendwie an meinem Gesicht liegen.«
Als die Maschine am Flughafen von Brüssel gelandet war und Dana in die Haupthalle kam, griff ein Mann, der etwas abseits stand, zu seinem Handy und machte Meldung.
»Haben Sie ein Fahrzeug hier?«, fragte David Haynes.
»Nein, aber ich kann -«
»Wenn Sie bitte erlauben möchten.« Er geleitete Dana zu einer ellenlangen Limousine samt Chauffeur. »Ich lasse Sie bei Ihrem Hotel absetzen«, erklärte er Dana. Er sagte dem Chauffeur Bescheid, worauf sich die Limousine in den Verkehr einfädelte. »Sind Sie zum ersten Mal in Brüssel?«
»Ja.«
Sie kamen an einer großen, lichtdurchfluteten Kaufhalle vorbei. »Falls Sie sich hier etwas Schönes besorgen wollen«, sagte Haynes, »kann ich Ihnen das hier nur empfehlen - die Galeries Saint Hubert.«
»Das sieht ja verlockend aus.«
»Halten Sie kurz an, Charles«, sagte Haynes zum Fahrer. Dann wandte er sich wieder Dana zu. »Dort steht der Brunnen mit dem Manneken Pis.« Es war eine Bronzefigur, ein kleiner Junge, der in einer Muschelschale stand und herunterpinkelte. »Eine der berühmtesten Statuen der Welt.«
Als ich im Gefängnis saß, sind meine Frau und die Kinder umgekommen. Wenn ich zu Hause gewesen wäre, hätte ich sie vielleicht retten können.
»Falls Sie heute Abend Zeit haben«, sagte David Haynes gerade, »würde ich Sie gern -«
»Tut mir Leid«, erwiderte Dana. »Aber ich habe schon etwas vor.«
Matt wurde in Elliot Cromwells Büro zitiert.
»Uns fehlen zwei unserer wichtigsten Leute, Matt. Wann kommt Jeff endlich zurück?«
»Kann ich nicht genau sagen, Elliot. Er ist bei seiner Exfrau, wie Sie sicher wissen, und leistet ihr Beistand. Ich habe ihm geraten, unbezahlten Urlaub zu nehmen.«
»Aha. Und wann kommt Dana aus Brüssel zurück?«
Matt musterte Elliot Cromwell. Ich habe ihm nicht gesagt, dass Dana in Brüssel ist, dachte er.