11

Rachel fiel jede Bewegung schwer. Sie war schon erschöpft, wenn sie in ihrem Haus in Florida von einem Zimmer zum anderen ging. In ihrem ganzen Leben war sie noch nie so müde gewesen. Vermutlich habe ich mir eine Grippe eingefangen. Jeff hat Recht. Ich sollte einen Arzt aufsuchen. Ein heißes Bad wird mir gut tun ...

Als Rachel in der Badewanne lag und das belebende heiße Wasser genoss, strich sie mit der Hand beiläufig über ihre Brust und spürte mit einem Mal den Knoten.

Zuerst war sie voll Panik. Dann wollte sie es nicht wahrhaben. Das ist gar nichts. Es ist kein Krebs. Ich rauche nicht. Ich treibe Sport und achte auf mein körperliches Wohlbefinden. In meiner Familie hatte noch nie jemand Krebs. Mir fehlt nichts. Ich muss es einem Arzt zeigen, aber Krebs ist das nicht.

Rachel stieg aus der Wanne, trocknete sich ab und griff zum Telefon.

»Model-Agentur Betty Richman.«

»Ich möchte Betty Richman sprechen. Sagen Sie ihr bitte, Rachel Stevens möchte sie sprechen.«

Kurz darauf war Betty Richman am Apparat. »Rachel, prima, dass Sie sich melden. Ist alles in Ordnung?«

»Natürlich. Wieso fragen Sie?«

»Na ja, Sie haben die Aufnahmen in Rio abgebrochen, und ich dachte, vielleicht -«

Rachel lachte. »Nein, nein. Ich war nur ein bisschen abgespannt, Betty. Ich kann’s kaum abwarten, wieder zu arbeiten.«

»Großartig. Alle Welt verlangt nach Ihnen.«

»Tja, ich bin bereit. Was für Termine stehen an?«

»Warten Sie einen Moment.«

Eine Minute später war Betty Richman wieder am Apparat. »Die nächsten Aufnahmen finden in Aruba statt. Abflug kommende Woche. Sie haben also reichlich Zeit. Die haben ausdrücklich nach Ihnen verlangt.«

»Ich liebe Aruba. Merken Sie mich dafür vor.«

»Schon geschehen. Freut mich, dass es Ihnen wieder besser geht.«

»Mir geht’s großartig.«

»Ich schicke Ihnen alles Erforderliche zu.«

Am folgenden Nachmittag um zwei Uhr hatte Rachel einen Termin bei Dr. Graham Elgin.

»Guten Tag, Dr. Elgin.«

»Was kann ich für Sie tun?«

»Ich habe eine kleine Zyste in der rechten Brust und -«

»Ach, sind Sie schon beim Arzt gewesen?«

»Nein, aber ich weiß, was es ist. Es ist nur eine kleine Zyste. Ich kenne meinen Körper. Ich möchte, dass man sie mikrochirurgisch entfernt.« Sie lächelte. »Ich bin Model. Ich kann mir keine große Narbe leisten. Solange es bei einem kleinen Makel bleibt, kann ich es überschminken. Ließe sich die Operation vielleicht auf morgen oder übermorgen ansetzen? Ich muss nämlich nächste Woche nach Aruba.«

Dr. Elgin musterte sie. In Anbetracht der Umstände wirkte sie ungewöhnlich ruhig. »Erst will ich Sie mal untersuchen, und danach nehme ich eine Biopsie vor. Aber falls es nötig sein sollte, können wir die Operation noch für diese Woche anberaumen.«

Rachel strahlte ihn an. »Wunderbar.«

Dr. Elgin stand auf. »Gehen wir nach nebenan, ja? Ich lasse Ihnen von der Sprechstundenhilfe ein Hemd bringen.«

Eine Viertelstunde später tastete Dr. Elgin unter den prüfenden Blicken einer Sprechstundenhilfe Rachels Brust ab.

»Wie gesagt, Doktor, es ist nur eine Zyste.«

»Nun ja, Miss Stevens, trotzdem würde ich sicherheitshalber gern eine Biopsie vornehmen. Das ist gleich geschehen.«

Rachel versuchte nicht zusammenzuzucken, als Dr. Elgin mit einer dünnen Nadel seitlich in ihre Haut stach und eine Gewebeprobe entnahm.

»Schon vorbei. War doch gar nicht so schlimm, was?«

»Nein. Bis wann ...?«

»Ich schicke die Probe sofort ins Labor. Bis morgen früh müsste ich den vorläufigen zytologischen Befund vorliegen haben.«

Rachel lächelte. »Gut. Dann gehe ich jetzt heim und packe meine Sachen, damit alles bereit ist, wenn ich nach Aruba fliege.«

Sobald Rachel nach Hause kam, holte sie zwei Koffer aus der Abstellkammer und legte sie aufs Bett. Dann ging sie zum Kleiderschrank und suchte die Sachen aus, die sie nach Aruba mitnehmen wollte.

Jeanette Rhodes, ihre Putzfrau, kam in ihr Schlafzimmer.

»Fahren Sie schon wieder weg, Miss Stevens?«

»Ja.«

»Und wohin geht’s diesmal?«

»Nach Aruba.«

»Wo ist das?«

»Das ist eine herrliche Insel in der Karibik, unmittelbar vor der Nordküste von Venezuela. Ein wahres Paradies. Großartige Strände, wunderbare Hotels und köstliches Essen.«

»Klingt nicht schlecht.«

»Übrigens, Jeanette, es wäre mir lieb, wenn Sie dreimal die Woche kommen könnten, während ich weg bin.«

»Natürlich.«

Am nächsten Morgen um neun Uhr klingelte das Telefon.

»Miss Stevens?«

»Ja.«

»Hier ist Dr. Elgin.«

»Hallo, Doktor. Haben Sie schon einen Operationstermin angesetzt?«

»Miss Stevens, ich habe soeben den zytologischen Befund erhalten. Könnten Sie vielleicht in meine Praxis kommen, damit wir -«

»Nein. Ich will ihn sofort hören, Doktor.«

Ein kurzes Zögern am anderen Ende. »Ich bespreche so etwas ungern am Telefon, aber der zytologische Befund deutet darauf hin, dass Sie Krebs haben.«

Jeff tippte gerade seine regelmäßig erscheinende Sportkolumne, als das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab. »Hallo?«

»Jeff ...« Sie weinte.

»Rachel, bist du das? Was ist los? Was ist passiert?«

»Ich - ich habe Brustkrebs.«

»O mein Gott. Wie weit fortgeschritten?«

»Ich weiß es noch nicht. Ich muss erst noch zur Mammographie. Jeff, ich steh das nicht alleine durch. Ich weiß, dass ich sehr viel von dir verlange, aber könntest du vielleicht runterkommen?«

»Rachel, ich - so leid’s mir tut, aber ich -«

»Nur für einen Tag. Bloß bis ich - Bescheid weiß.«

Wieder weinte sie.

»Rachel ...« Er war hin- und hergerissen. »Ich werd’s versuchen. Ich ruf dich später noch mal an.«

Sie schluchzte so laut, dass sie kein Wort mehr hervorbrachte.

»Olivia«, sagte Dana, als sie aus der Redaktionskonferenz kam, »buchen Sie für mich morgen früh einen Flug nach Aspen in Colorado. Besorgen Sie mir dort ein Hotel. Ach ja, und einen Mietwagen möchte ich auch.«

»Gut. Mr. Connors wartet in Ihrem Büro auf Sie.«

»Danke.« Dana ging hinein. Jeff stand am Fenster und blickte hinaus. »Hallo, mein Schatz.«

Er drehte sich um. »Hi, Dana.«

Er hatte einen sonderbaren Gesichtsausdruck. Dana blickte ihn besorgt an. »Ist alles in Ordnung?«

»Das lässt sich nicht so eindeutig beantworten«, sagte er bedrückt. »Ja und nein.«

»Setz dich doch«, sagte Dana. Sie nahm auf einem Sessel ihm gegenüber Platz. »Was ist los?«

Er atmete tief durch. »Rachel hat Brustkrebs.«

Dana war einen Moment lang wie vor den Kopf geschlagen.

»Ich - das tut mir ja so Leid. Wird sie wieder gesund?«

»Sie hat heute Morgen angerufen. Sie weiß noch nicht, wie ernst es ist. Aber sie ist außer sich vor Angst. Sie möchte, dass ich nach Florida komme und ihr beistehe, wenn sie den Befund erfährt. Ich wollte erst mit dir darüber reden.«

Dana ging zu Jeff und schloss ihn in die Arme. »Natürlich musst du hin.« Dana dachte an das Mittagessen mit Rachel, daran, wie wunderbar sie ihr vorgekommen war.

»Ich bin in ein, zwei Tagen wieder zurück.«

Jeff war in Matt Bakers Büro.

»Ich muss ein paar Tage weg, Matt. Es handelt sich um einen Notfall.«

»Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Jeff?«

»Ja. Es geht um Rachel.«

»Ihre Exfrau?«

Jeff nickte. »Sie hat gerade erfahren, dass sie Krebs hat.«

»Tut mir Leid.« »Jedenfalls braucht sie ein bisschen moralische Unterstützung. Ich will heute Nachmittag nach Florida fliegen.«

»Dann mal los. Maury Falstein wird für Sie einspringen. Sagen Sie mir Bescheid, wie es steht.«

»Wird gemacht. Danke, Matt.«

Zwei Stunden später saß Jeff in einer Maschine nach Miami.

Dana überlegte fieberhaft, was sie mit Kemal machen sollte. Ich kann nicht nach Aspen fahren, ohne dass ich jemanden an der Hand habe, auf den ich mich verlassen kann, dachte sie. Aber wer soll das schaffen - die Wohnung sauber halten, die Wäsche waschen und sich nebenbei um den trotzigsten kleinen Jungen auf der ganzen Welt kümmern?

Sie rief Pamela Hudson an. »Tut mir Leid, dass ich Sie behellige, aber ich muss eine Weile weg und brauchte jemanden, der bei Kemal bleibt. Kennen Sie zufällig eine gute Haushälterin, die überdies eine Engelsgeduld hat?«

Einen Moment lang herrschte Schweigen. »Zufällig wüsste ich da jemanden. Sie heißt Mary Rowane Daley und stand vor etlichen Jahren in unseren Diensten. Sie ist ein Schatz. Mal sehen, ob ich sie erreichen kann. Ich sage ihr, dass sie sich bei Ihnen melden soll.«

»Danke«, sagte Dana.

»Dana«, sagte Olivia eine Stunde später, »eine Mary Daley ist am Apparat und möchte Sie sprechen.«

Dana nahm den Hörer ab. »Mrs. Daley?«

»Ja. Höchstpersönlich.« Sie sprach mit breitem irischem Zungenschlag. »Mrs. Hudson hat gesagt, Sie brauchten jemand, der für Ihren Sohn sorgt.«

»So ist es«, sagte Dana. »Ich muss ein, zwei Tage wegfahren. Könnten Sie vielleicht morgen früh - sagen wir um sieben Uhr - vorbeikommen, damit wir alles besprechen können?«

»Selbstverständlich. Zufällig bin ich nämlich momentan frei.«

Dana nannte Mrs. Daley ihre Adresse.

»Ich komme vorbei, Miss Evans.«

Am nächsten Morgen um Punkt sieben Uhr stand Mary Daley vor der Tür. Sie war allem Anschein nach um die fünfzig, rundlich und untersetzt, wirkte munter und fröhlich und strahlte über das ganze Gesicht. Sie gab Dana die Hand.

»Freut mich sehr, Sie mal kennen zu lernen, Miss Evans. Ich schau mir immer Ihre Sendungen an, wenn ich dazu komme.«

»Vielen Dank.«

»Und wo ist der junge Herr des Hauses?«

»Kemal«, rief Dana lauthals.

Kurz darauf kam Kemal aus seinem Zimmer. Er musterte Mrs. Daley mit einer Miene, als wollte er sagen, ätzend.

Mrs. Daley lächelte ihn an. »Kemal, nicht wahr? Ich hab noch nie jemand mit Namen Kemal kennen gelernt. Du siehst aus, als ob du’s faustdick hinter den Ohren hast.« Sie ging zu ihm. »Du musst mir unbedingt verraten, was deine Leibspeisen sind. Ich bin nämlich eine prima Köchin. Wir wollen uns doch eine schöne Zeit machen, Kemal.«

Hoffentlich, dachte Dana beschwörend. »Mrs. Daley, können Sie bei Kemal bleiben, solange ich weg bin?«

»Selbstverständlich, Miss Evans.«

»Wunderbar«, antwortete Dana dankbar. »Leider haben wir nicht allzu viel Platz. Was die Schlafgelegenheiten angeht -«

Mrs. Daley strahlte sie mit breitem Lächeln an. »Nur keine Sorge. Die Klappcouch da tut’s für mich vollkommen.«

Dana atmete erleichtert auf. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Ich muss Kemal zur Schule bringen. Kommen Sie doch einfach mit. Sie können ihn dann um Viertel vor zwei wieder abholen.«

»Soll mir recht sein.«

Kemal wandte sich an Dana. »Du kommst doch wieder zurück, Dana, oder?«

Dana schloss ihn in die Arme. »Natürlich komme ich wieder zurück, mein Schatz.«

»Wann?«

»In ein paar Tagen.« Wenn ich etwas mehr weiß.

Als Dana ins Studio kam, lag ein kleines, hübsch verpacktes Päckchen auf ihrem Schreibtisch. Neugierig betrachtete sie es, dann riss sie es auf. Darin befand sich ein goldener Kugelschreiber. »Liebe Dana«, stand auf der beiliegenden Karte, »wir wünschen Ihnen eine angenehme Reise.« Unterzeichnet war sie mit Die Bande.

Sehr aufmerksam. Dana steckte den Stift in ihre Handtasche.

Als Dana ins Flugzeug stieg, klingelte ein Mann in Arbeitskleidung an der Wohnung der Whartons. Der Nachmieter öffnete die Tür, warf ihm einen kurzen Blick zu, nickte und schloss sie wieder. Daraufhin ging der Mann zu Danas Apartment und klingelte.

Mrs. Daley öffnete die Tür. »Ja?«

»Miss Evans hat mich herbestellt. Ich soll ihren Fernseher reparieren.«

»Wenn das so ist. Kommen Sie rein.«

Mrs. Daley sah dem Mann zu, als er zum Fernsehgerät ging und sich an die Arbeit machte.

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