Als Dana an diesem Abend in ihr Zimmer zurückkehrte, blieb sie in der Tür stehen und sah sich unruhig um. Alles sah unverändert aus, und dennoch ... sie hatte das Gefühl, dass irgendetwas anders war. Waren vielleicht ihre Sachen umgeräumt worden? Du fängst schon wieder an zu spinnen, dachte Dana spöttisch. Sie griff zum Telefon und rief zu Hause an.
Mrs. Daley meldete sich. »Bei Evans.«
Gott sei Dank, sie ist noch da. »Mrs. Daley?«
»Miss Evans!«
»Guten Abend. Wie geht’s Kemal?«
»Na ja, der hat’s ganz schön faustdick hinter den Ohren, aber ich komm schon mit ihm klar. Meine Jungs waren genauso.«
»Dann ist also alles . in Ordnung?«
»O ja.«
Dana seufzte erleichtert auf. »Könnte ich ihn vielleicht sprechen?«
»Selbstverständlich.« Dana hörte sie rufen. »Kemal, deine Mutter ist dran.«
Kurz darauf war Kemal am Apparat. »Hi, Dana.«
»Hi, Kemal. Wie geht es dir, mein Guter?«
»Cool.«
»Wir war’s in der Schule?«
»Ganz okay.«
»Und mit Mrs. Daley kommst du einigermaßen zurecht?«
»Ja, die ist mega.«
Sie ist mehr als mega, dachte Dana. Sie ist das reinste Wunder.
»Wann kommst du wieder heim, Dana?«
»Morgen bin ich wieder da. Hast du schon zu Abend gegessen?«
»Ja. War nicht übel, ehrlich gesagt.«
Bist du das wirklich, Kemal?, hätte Dana am liebsten gefragt. Sie war begeistert von der Veränderung.
»Na schön, mein Schatz. Wir sehen uns morgen. Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Dana.«
Als Dana zu Bett gehen wollte, klingelte ihr Handy. Sie ging ran. »Hallo?«
»Dana?«
Sie freute sich unbändig. »Jeff! Ach, Jeff!« Gelobt sei der Tag, an dem ich mir das Handy zugelegt habe.
»Ich musste einfach anrufen, weil du mir ganz fürchterlich fehlst.«
»Du mir auch. Bist du noch in Florida?«
»Ja.«
»Wie sieht es aus?«
»Nicht gut.« Sie hörte, wie er kurz zögerte. »Genau genommen sogar ziemlich schlecht. Rachel hat morgen einen OP-Termin. Sie muss sich die Brust abnehmen lassen.«
»O nein!«
»Sie kommt damit nicht gut klar.«
»Das tut mir schrecklich Leid.«
»Ich weiß. Es ist ein elender Mist. Mein Liebes, ich kann’s kaum erwarten, wieder bei dir zu sein. Habe ich dir schon mal gesagt, dass ich verrückt nach dir bin?«
»Mir geht’s genauso, mein Liebster.«
»Brauchst du irgendwas, Dana?«
Dich. »Nein.«
»Was macht Kemal?«
»Der kommt prima zurecht. Ich habe eine neue Haushälterin, die er mag.«
»Das ist ja eine gute Nachricht. Ich kann’s kaum erwarten, bis wir wieder alle beisammen sind.«
»Ich auch nicht.«
»Pass gut auf dich auf.«
»Mach ich. Ich kann dir gar nicht sagen, wie Leid es mir wegen Rachel tut.«
»Ich werd’s ihr ausrichten. Gute Nacht, Liebste.«
»Gute Nacht.«
Dana öffnete ihren Koffer und nahm ein Hemd von Jeff heraus, das sie aus ihrer Wohnung mitgenommen hatte. Sie zog es unter ihrem Nachthemd an und kuschelte sich hinein. Gute Nacht, mein Liebster.
Am nächsten Morgen flog Dana in aller Frühe nach Washington zurück. Bevor sie ins Büro ging, fuhr sie kurz zu ihrer Wohnung, wo sie fröhlich von Mrs. Daley begrüßt wurde.
»Ist ja großartig, dass Sie wieder da sind, Mrs. Evans. Ihr Junge liefert mich sonst noch.« Aber sie sagte es mit einem Augenzwinkern.
»Ich hoffe, er macht Ihnen nicht zu viel Ärger.«
»Ärger? Ganz und gar nicht. Ich freue mich, dass er mit seinem neuen Arm so gut zurechtkommt.«
Dana blickte sie erstaunt an. »Trägt er ihn etwa?«
»Selbstverständlich. Er trägt ihn in der Schule.«
»Das ist ja wunderbar. Das freut mich sehr.« Sie blickte auf ihre Uhr. »Ich muss ins Studio. Ich komme heute Nachmittag vorbei und kümmere mich um Kemal.«
»Der wird aber froh sein, wenn er Sie wieder sieht. Er hat Sie vermisst, wissen Sie? Machen Sie nur weiter. Ich packe Ihre Sachen aus.«
»Vielen Dank, Mrs. Daley.«
Dana ging in Matts Büro und berichtete ihm, was sie in Aspen erfahren hatte.
Ungläubig schaute er sie an. »Am Tag nach dem Brand ist der Elektriker einfach verschwunden?«
»Ohne den ausstehenden Lohn abzuholen.«
»Und am Tag bevor der Brand ausbrach, war er im Haus der Winthrops?«
»Ja.«
Matt schüttelte den Kopf. »Das wird ja immer merkwürdiger.«
»Matt, Paul Winthrop war das nächste Familienmitglied, das ums Leben kam. Kurz nach dem Brand ist er in Frankreich mit dem Auto tödlich verunglückt. Ich möchte dort hinfahren. Mal sehen, ob es irgendwelche Zeugen des Unfalls gibt.«
»Gut. Elliot Cromwell hat sich nach Ihnen erkundigt«, fügte er dann hinzu. »Er möchte, dass Sie gut auf sich aufpassen.«
»Da ist er nicht der Einzige«, erwiderte Dana.
Dana wartete bereits, als Kemal aus der Schule nach Hause kam. Kemal trug seine Armprothese, und Dana hatte den Eindruck, dass er viel ruhiger wirkte.
»Da bist du ja wieder.« Er umarmte sie.
»Hallo, mein Schatz. Du hast mir gefehlt. Wie war’s in der Schule?«
»Nicht schlecht. Wie war die Reise?«
»Die war prima. Ich habe dir etwas mitgebracht.« Sie gab Kemal den handgewebten indianischen Beutel und die Mokassins, die sie in Aspen erstanden hatte. Danach kam der schwierige Teil. »Kemal, ich muss leider noch mal ein paar Tage weg.« Dana wappnete sich bereits für das Schlimmste, doch Kemal sagte lediglich: »Okay.«
Nicht einmal die Andeutung eines Wutanfalls. »Ich bringe dir wieder was Schönes mit.«
»Ein Geschenk für jeden Tag, den du weg bist?«
Dana lächelte. »Hör mal, du gehst doch erst in die siebte Klasse, aber du klingst wie ein angehender Anwalt.«
Er saß gemütlich in einem Lehnsessel, hatte ein Glas Scotch in der Hand und ließ den Fernseher laufen. Auf dem Bildschirm vor ihm sah er Dana und Kemal am Tisch sitzen, während Mrs. Daley das Abendessen auftrug, offenbar Irish Stew.
»Das ist ja köstlich«, sagte Dana gerade.
»Besten Dank. Freut mich, dass es Ihnen schmeckt.«
»Ich hab dir doch gesagt, dass sie eine prima Köchin ist«, sagte Kemal.
Das ist ja fast so, als ob man bei ihnen im Zimmer sitzt, dachte er, statt sie nur von der Wohnung nebenan aus zu beobachten.
»Erzähl mir, wie es in der Schule läuft«, sagte Dana.
»Ich mag meine neuen Lehrer. Mein Mathelehrer ist schwer auf Zack ...«
»Großartig.«
»Die Jungs in dieser Schule sind auch viel netter. Die finden meinen neuen Arm geil.«
»Ganz bestimmt.«
»Ein Mädchen in meiner Klasse ist ziemlich hübsch. Ich glaub, sie mag mich. Lizzy heißt sie.«
»Magst du sie auch, mein Schatz?«
»Klar. Sie ist echt knies.«
Er wird älter, dachte Dana, und wider Erwarten versetzte ihr das einen Stich. Als Kemal im Bett lag, ging sie in die Küche und sprach mit Mrs. Daley.
»Kemal kommt mir so . so ausgeglichen vor. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin«, sagte Dana.
»Sie tun mir einen Gefallen.« Mrs. Daley lächelte. »Ich komm mir vor, als ob ich eins von meinen Kindern wieder hätte. Die sind jetzt alle erwachsen, müssen Sie wissen. Kemal und ich haben mächtig Spaß miteinander.«
»Ich bin ja so froh.«
Dana wartete bis nach Mitternacht, und als Jeff bis dahin immer noch nicht angerufen hatte, ging sie zu Bett. Sie lag da und fragte sich, was Jeff wohl machen mochte, ob er vielleicht mit Rachel schlief, und im gleichen Moment schämte sie sich für ihre Gedanken.
Der Mann in der Wohnung nebenan erstattete Bericht. »Alles ruhig.«
Ihr Handy klingelte.
»Jeff, mein Schatz. Wo bist du?«
»Ich bin im Doctors Hospital in Florida. Die Brustamputation ist überstanden. Der Onkologe ist noch dabei, das Gewebe zu untersuchen.«
»Ach Jeff! Hoffentlich hat es sich nicht schon ausgebreitet.«
»Das hoffe ich auch. Rachel möchte, dass ich noch ein bisschen länger bei ihr bleibe. Ich wollte dich fragen, ob -« »Natürlich. Du musst.«
»Es handelt sich nur um ein paar Tage. Ich rufe Matt an und sage ihm Bescheid. Läuft droben bei euch irgendwas Spannendes?«
Einen Moment lang war Dana versucht, Jeff von Aspen zu erzählen und dass sie weitere Nachforschungen anstellen wollte. Er hat genug um die Ohren. »Nein«, sagte Dana. »Nichts Neues.«
»Gib Kemal einen Kuss von mir. Die übrigen sind für dich.«
Als Jeff den Hörer auflegte, kam eine Schwester auf ihn zu.
»Mr. Connors? Dr. Young möchte Sie sprechen.«
»Die Operation ist gut verlaufen«, teilte Dr. Young Jeff mit, »aber sie wird viel seelischen Beistand brauchen. Sie wird das Gefühl haben, sie wäre keine richtige Frau mehr. Wenn sie aufwacht, wird sie zunächst panisch reagieren. Sie müssen ihr klar machen, dass es völlig normal ist, Angst zu zeigen.«
»Schon verstanden«, sagte Jeff.
»Und die Angst und die Depressionen werden wiederkehren, wenn wir mit der Bestrahlung beginnen, damit sich der Krebs nicht weiter ausbreitet. So etwas kann sehr belastend sein.«
Jeff saß da und dachte über all das nach.
»Hat Sie jemanden, der für sie sorgt?«
»Mich.« Und im gleichen Moment war Jeff klar, dass er der einzige Mensch war, den Rachel hatte.
Der Flug mit der Air France nach Nizza verlief ohne besondere Vorkommnisse. Dana schaltete ihren Laptop ein und ging noch einmal sämtliche Informationen durch, die sie bislang zusammengetragen hatte. Aufregend, aber noch keineswegs schlüssig. Beweise, dachte Dana. Ohne handfeste Beweise keine Story.
»Angenehmer Flug, nicht?«
Dana drehte sich zu dem Mann um, der neben ihr saß. Er war groß, attraktiv und sprach mit französischem Akzent.
»Ja, durchaus.«
»Sind Sie schon mal in Frankreich gewesen?«
»Nein«, sagte Dana. »Das ist das erste Mal.«
Er lächelte. »Ah, Sie werden Ihre Freude haben. Es ist ein wunderbares Land.« Er lächelte versonnen und beugte sich zu ihr. »Haben Sie Freunde, die Ihnen Land und Leute zeigen können?« »Ich treffe mich mit meinem Mann und den drei Kindern«, sagte Dana.
»Dommage.« Er nickte, wandte sich ab und griff zu seiner France-Soir.
Dana widmete sich wieder ihrem Computer. Ein Artikel erregte ihre Aufmerksamkeit. Paul Winthrop, der bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, hatte ein Hobby gehabt.
Autorennen.
Als die Maschine der Air France auf dem Flughafen von Nizza gelandet war, ging Dana in die belebte Ankunftshalle und begab sich zum Büro der Mietwagenfirma. »Mein Name ist Dana Evans. Ich habe einen -«
Der Angestellte blickte auf. »Ah! Miss Evans. Ihr Wagen steht bereit.« Er reichte ihr ein Formular. »Sie müssen das nur noch unterschreiben.«
Na, das ist ein Service, dachte Dana. »Ich brauche eine Karte von Südfrankreich. Hätten Sie zufällig -«
»Natürlich, mademoiselle.« Er griff hinter den Schalter und suchte eine Karte hervor. »Voila.« Er blickte Dana nach, als sie wegging.
»Wo ist Dana gerade, Matt?«, fragte Elliot Cromwell in der Chefetage des Verwaltungshochhauses von WTN.
»Sie ist in Frankreich.«
»Kommt sie voran?«
»Dafür ist es noch zu früh.«
»Ich mache mir Sorgen um sie. Meiner Meinung nach ist sie zu viel unterwegs. Reisen kann heutzutage gefährlich sein.« Er zögerte kurz. »Viel zu gefährlich.«
In Nizza war es empfindlich kühl, und Dana fragte sich, welche Witterung an dem Tag geherrscht hatte, an dem Paul Winthrop umkam. Sie stieg in den Citroen, der für sie bereitstand, und fuhr die Grande Corniche hinauf, vorbei an malerischen kleinen Küstendörfern.
Der Unfall hatte sich etwas nördlich von Beausoleil ereignet, auf der Landstraße bei Roquebrune-Cap-Martin, einem Ferienort hoch über dem Mittelmeer.
Dana bremste ab, als sie sich der Ortschaft näherte und die scharfen Kurven und den steilen Abhang unmittelbar daneben sah. Sie fragte sich, an welcher Stelle Paul Winthrop von der Fahrbahn abgekommen war. Was hatte er hier überhaupt gemacht? Hatte er sich mit jemandem getroffen? Hatte er an einem Rennen teilgenommen? War er hier im Urlaub gewesen? Auf Geschäftsreise?
Roquebrune-Cap-Martin ist eine mittelalterliche Ortschaft mit einer alten Burg, einer Kirche, urzeitlichen Höhlen und luxuriösen Villen, die hie und da in der Landschaft verstreut sind. Dana fuhr zur Ortsmitte, stellte ihren Wagen ab und begab sich auf die Suche nach dem Polizeirevier. Sie sprach einen Mann an, der aus einem Geschäft kam.
»Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wo das Polizeirevier ist?«
»Je ne parle pas anglais, j’ai peur de ne pouvoir vous aider, mais -«
»Police. Police.«
»Ah, oui.« Er deutete mit dem Finger nach links vorn. »La deuxieme rue a gauche.«
»Merci.«
»De rien.«
Das Polizeirevier war ein altes, weiß getünchtes Gebäude, von dem der Putz abbröckelte. Drinnen saß ein etwa fünfzig Jahre alter Polizist in Uniform an einem Schreibtisch. Er blickte auf, als Dana hereinkam.
»Bonjour, Madame.« »Bonjour.«
»Commentpuis-je vous aider?«
»Sprechen Sie Englisch?«
Er dachte kurz nach. »Ja«, sagte er unwillig.
»Ich möchte mit dem Leiter Ihrer Polizeidienststelle sprechen.«
Er musterte sie einen Moment lang mit fragender Miene. Dann lächelte er mit einem Mal. »Ah, Commandant Frasier. Oui. Einen Moment.« Er griff zum Telefon und sprach hinein. Dann nickte er und wandte sich wieder an Dana. Er deutete den Flur entlang. »La premiere porte.«
»Vielen Dank.« Dana ging den Flur entlang, bis sie auf die erste Tür stieß. Commandant Frasiers Büro war klein, aber ordentlich. Der Commandant war ein schmucker Mann mit einem schmalen Schnurrbart und forschenden braunen Augen. Er stand auf, als Dana eintrat.
»Guten Tag, Commandant.«
»Bonjour, mademoiselle. Was kann ich für Sie tun?«
»Mein Name ist Dana Evans. Ich arbeite für den Fernsehsender WTN in Washington D.C., und möchte eine Reportage über die Familie Winthrop machen. Meines Wissens wurde Paul Winthrop hier in der Gegend bei einem Autounfall getötet.«
»Oui. Terrible! Terrible. Auf der Grande Corniche muss man vorsichtig fahren. Es kann sein tres dangereux.«
»Ich habe gehört, dass Paul Winthrop bei einem Rennen umkam und -«
»Non. An dem Tag war kein Rennen.«
»Nein?«
»Non, mademoiselle. Ich hatte persönlich Dienst, als sich der Unfall ereignete.«
»Aha. Saß Mr. Winthrop allein in dem Wagen?«
»Oui.«
»Commandant Frasier, hat man eine Autopsie vorgenommen?«
»Oui. Natürlich.«
»Hatte Paul Winthrop Alkohol im Blut?«
Commandant Frasier schüttelte den Kopf. »Non.«
»Drogen?«
»Non.«
»Wissen Sie noch, welche Witterungsverhältnisse an diesem Tag herrschten?«
»Oui. Ilpleuvait. Es regnete.«
Dana hatte noch eine letzte Frage, aber sie versprach sich nicht viel davon. »Ich nehme an, es gab keine Zeugen?«
»Mais oui, ily en avait. Doch, doch.«
Dana starrte ihn an, spürte wie ihr Puls schneller ging. »Es gab welche?«
»Einen Zeugen. Er fuhr hinter Winthrops Wagen und sah, wie der Unfall sich ereignete.«
Dana war erregt. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir den Namen des Zeugen nennen könnten. Ich möchte mit ihm sprechen.«
Er nickte. »Das kann nichts schaden. Alexandre!«, rief er lauthals, und kurz darauf kam sein Assistent angestürmt.
»Oui, Commandant?«
»Apportez-moi le dossier de l’accident Winthrop.«
»Toute de suite.« Er eilte aus dem Zimmer.
Commandant Frasier wandte sich wieder an Dana. »Solch eine unglückliche Familie. Das Leben ist tres fragile.« Er blickte Dana an und lächelte. »Jeder muss die Freuden genießen, solange er kann.« Verschmitzt fügte er hinzu: »Beziehungsweise, solange sie kann. Sind Sie allein hier, mademoiselle?«
»Nein, mein Mann und meine Kinder erwarten mich.«
»Dommage.«
Commandant Frasiers Assistent kehrte mit einem Stapel Akten zurück, worauf der Commandant die Papiere überflog, nickte und dann zu Dana aufblickte.
»Der Zeuge des Unfalls war ein amerikanischer Tourist, ein gewisser Ralph Benjamin. Laut seiner Aussage fuhr er hinter Paul Winthrop, als er sah, wie ein chien - ein Hund -vor Winthrops Wagen lief. Winthrop riss das Steuer herum, um ihn nicht zu überfahren, geriet dabei ins Schleudern, kam von der Straße ab und stürzte über den Steilhang hinab ins Meer. Dem Bericht des Leichenbeschauers zufolge war Winthrop auf der Stelle tot.«
»Haben Sie Mr. Benjamins Adresse?«, fragte Dana gespannt.
»Oui.« Wieder warf er einen Blick in die Akte. »Er lebt in Amerika. Richfield in Utah. Turk Street Nummer vierhun-dertundzwanzig.« Commandant Frasier schrieb die Adresse auf und reichte sie Dana.
Sie versuchte ihre Erregung zu bezähmen. »Ich danke Ihnen vielmals.«
»Il m’y a pas de quoi.« Er blickte auf Danas schmucklosen Ringfinger. »Und, madame?«
»Ja?«
»Grüßen Sie Ihren Mann und die Kinder von mir.«
Dana rief Matt an.
»Matt«, sagte sie aufgeregt. »Ich habe einen Zeugen aufgetrieben, der Paul Winthrops Unfall gesehen hat. Ich will ihn interviewen.«
»Großartig. Wo steckt er?«
»In den Vereinigten Staaten. In Richfield, Utah. Hinterher komme ich gleich nach Washington zurück.«
»In Ordnung. Übrigens, Jeff hat angerufen.«
»Ja?«
»Sie wissen ja, dass er bei seiner Exfrau in Florida ist.« Er klang unwirsch.
»Ich weiß. Sie ist schwer krank.« »Wenn Jeff länger dort bleiben will, muss ich ihn darum bitten, unbezahlten Urlaub zu nehmen.«
»Er kommt sicher bald zurück.« Wenn sie das nur glauben könnte.
»Gut. Viel Glück bei dem Zeugen.«
»Danke, Matt.«
Danas nächster Anruf galt Kemal. Mrs. Daley meldete sich am Telefon.
»Bei Miss Evans.«
»Guten Abend, Mrs. Daley. Ist alles in Ordnung?« Dana hielt unwillkürlich den Atem an.
»Na ja, Ihr Sohn hätte gestern fast die Küche in Brand gesetzt, als er mir beim Abendessen geholfen hat.« Sie lachte. »Aber ansonsten ist er brav.«
Dana sprach ein stummes Dankgebet. »Großartig.« Die Frau bewirkt wahre Wunder, dachte sie.
»Kommen Sie heute heim? Ich kann uns was zum Abendessen machen und -«
»Ich muss noch einen Zwischenstopp einlegen«, sagte Dana. »In zwei Tagen bin ich wieder zu Hause. Kann ich Kemal sprechen?«
»Er schläft. Soll ich ihn aufwecken?«
»Nein, nein.« Dana blickte auf ihre Uhr. In Washington war es erst vier Uhr nachmittags. »Hält er etwa Mittagsschlaf?«
Sie hörte Mrs. Daley herzlich lachen. »Ja. Der Junge hat einen langen Tag hinter sich. Er hat sich mächtig verausgabt, beim Lernen und beim Spielen.«
»Bestellen Sie ihm alles Liebe von mir. Ich bin bald wieder da.«
Ich muss noch einen Zwischenstopp einlegen. In zwei Tagen bin ich wieder zu Hause.
Kann ich Kemal sprechen?
Er schläft. Soll ich ihn aufwecken?
Nein, nein. Hält er etwa Mittagsschlaf?
Ja. Der Junge hat einen langen Tag hinter sich. Er hat sich mächtig verausgabt, beim Lernen und beim Spielen. Bestellen Sie ihm alles Liebe von mir. Ich bin bald wieder da.
Ende der Aufnahme.
Richfield war eine gemütliche amerikanische Kleinstadt, in einem Talkessel inmitten der Monroe Mountains gelegen. Dana hielt an einer Tankstelle an und erkundigte sich nach der Adresse, die Commandant Frasier ihr gegeben hatte.
Ralph Benjamin wohnte in einem verwitterten Flachbau, der genauso aussah wie all die anderen Häuser, die links und rechts der Straße standen.
Dana parkte ihren Mietwagen, ging zur Haustür und klingelte. Eine weißhaarige Frau mittleren Alters, die eine Schürze trug, öffnete die Tür. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ich möchte Ralph Benjamin sprechen«, sagte Dana.
Die Frau musterte Dana neugierig. »Erwartet er Sie?« »Nein. Ich - ich bin nur zufällig vorbeigekommen und dachte, ich suche ihn kurz auf. Ist er da?«
»Ja. Kommen Sie rein.«
»Vielen Dank.« Dana trat ein und folgte der Frau ins Wohnzimmer.
»Ralph, du hast Besuch.«
Ralph Benjamin erhob sich aus einem Schaukelstuhl und kam auf Dana zu. »Hallo? Kenne ich Sie?«
Dana stand wie erstarrt da. Ralph Benjamin war blind.