Dana und Matt Baker saßen im Konferenzraum von WTN.
»Ralph Benjamin hat in Frankreich seinen Sohn besucht«, erklärte Dana. »Eines Tages war seine Brieftasche aus dem Hotelzimmer verschwunden. Tags darauf tauchte sie wieder auf, aber sein Pass fehlte. Matt, der Mann, der ihn gestohlen, sich als Benjamin ausgegeben und der Polizei erzählt hat, er sei Zeuge des Unfalls gewesen, hat Winthrop ermordet.«
Matt Baker schwieg eine ganze Weile. »Wir sollten allmählich die Polizei einschalten«, sagte er schließlich. »Wenn Sie Recht haben, hat irgendjemand kaltblütig sechs Menschen ermordet. Ich möchte nicht, dass Sie das siebte Opfer werden. Elliot macht sich ebenfalls Sorgen um Sie. Er meint, Sie steigen zu tief in die Sache ein.«
»Wir können die Polizei noch nicht hinzuziehen«, wandte Dana ein. »Wir haben nichts Konkretes. Keinerlei Beweise. Wir haben keine Ahnung, wer der Mörder ist und welches Motiv er hat.«
»Mir ist dabei ganz und gar nicht wohl. Die Sache wird mir zu gefährlich. Ich möchte nicht, dass Ihnen irgendwas zustößt.«
»Ich auch nicht«, entgegnete Dana.
»Wie wollen Sie weiter vorgehen?«
»Feststellen, wie Julie Winthrop tatsächlich umkam.«
»Die Operation ist erfolgreich verlaufen.«
Rachel schlug langsam die Augen auf. Sie lag in einem kühlen weißen Krankenhausbett. Benommen blickte sie zu Jeff auf.
»Ist sie ab?«
»Rachel -«
»Ich will nicht hinfassen.« Sie kämpfte gegen die Tränen an. »Ich bin keine richtige Frau mehr. So mag mich doch kein Mann mehr.«
Er nahm ihre Hand. »Irrtum. Ich habe dich schon geliebt bevor ich deine Brust überhaupt gesehen habe. Ich habe dich geliebt, weil du ein warmherziger, wunderbarer Mensch bist.«
Rachel rang sich ein schmales Lächeln ab. »Wir haben uns wirklich geliebt, was, Jeff?«
»Ja.«
»Ich wünschte ...« Sie warf einen Blick auf ihre Brust und kniff den Mund zusammen.
»Darüber reden wir später.«
Sie drückte seine Hand. »Ich will nicht allein sein, Jeff. Nicht, bis das alles ausgestanden ist, Jeff. Geh bitte nicht weg.«
»Rachel. Ich muss doch -«
»Noch nicht. Ich weiß nicht, was ich machen soll, wenn du weggehst.«
Eine Schwester kam in das Krankenzimmer. »Wenn Sie uns einen Moment entschuldigen würden, Mr. Connors.«
Rachel wollte Jeffs Hand nicht loslassen. »Geh nicht.«
»Ich komm ja wieder.«
Mitten in der Nacht klingelte Danas Handy. Sie sprang auf und meldete sich.
»Dana.« Jeff war dran.
Sie zuckte kurz zusammen, als sie seine Stimme hörte. »Hallo. Wie geht’s dir, mein Liebster?«
»Mir geht’s gut.«
»Was macht Rachel?«
»Die Operation ist gut verlaufen, aber Rachel möchte so nicht weiterleben.« »Jeff - das Selbstwertgefühl einer Frau hängt doch nicht von den Brüsten oder -«
»Ich weiß, aber Rachel ist keine Frau wie jede andere. Seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr wird sie nach ihrem Äußeren beurteilt. Sie ist eins der höchst bezahlten Models der Welt. Und nun meint sie, das alles wäre für sie vorbei. Sie kommt sich vor wie ein Krüppel. Sie glaubt, sie hat nichts mehr, für das es sich zu leben lohnt.«
»Was willst du denn jetzt tun?«
»Ich bleibe noch ein paar Tage bei ihr und helfe ihr dabei, sich daheim wieder halbwegs einzufinden. Ich habe mit dem Arzt gesprochen. Er wartet noch auf die Untersuchungsergebnisse, um festzustellen, ob sie alles erwischt haben. Aber er hält eine anschließende Chemotherapie für notwendig.«
Dana fiel dazu nichts ein.
»Du fehlst mir«, sagte Jeff.
»Du mir auch, mein Liebster. Ich habe ein paar Weihnachtsgeschenke für dich.«
»Heb sie mir auf.«
»Wird gemacht.«
»Hast du genug von der Weltgeschichte gesehen?«
»Noch nicht.«
»Dann sieh zu, dass dein Handy angestellt ist«, sagte Jeff. »Ich habe vor, das eine oder andere unsittliche Gespräch mit dir zu führen.«
Dana lächelte. »Versprochen?«
»Versprochen. Pass auf dich auf, mein Schatz.«
»Du auch.« Damit endete das Gespräch. Dana unterbrach die Verbindung, saß aber noch eine ganze Weile da und dachte über Jeff und Rachel nach. Dann stand sie auf und ging in die Küche.
»Noch einen Pfannkuchen?«, sagte Mrs. Daley gerade zu Kemal.
»Ja, danke.«
Dana stand da und betrachtete die beiden. In der kurzen Zeit, seitdem Mrs. Daley da war, hatte sich Kemal ungemein verändert. Er wirkte ruhig, ausgeglichen und fröhlich. Dana verspürte plötzlich heftige Eifersucht. Vielleicht bin ich die falsche Bezugsperson für ihn. Schuldbewusst dachte sie an die langen Arbeitstage, wenn sie bis spätnachts im Studio war. Vielleicht hätte ihn jemand wie Mrs. Daley adoptieren sollen. Sie riss sich zusammen. Was ist nur mit mir los? Kemal liebt mich doch.
Dana setzte sich an den Tisch. »Macht dir die neue Schule immer noch Spaß?«
»Die ist cool.«
Dana ergriff seine Hand. »Kemal, ich muss leider noch mal weg.«
»Ist schon okay«, erwiderte er ungerührt.
Wieder regte sich die Eifersucht.
»Wo geht’s denn diesmal hin, Miss Evans?«, fragte Mrs. Daley.
»Nach Alaska.«
Mrs. Daley wirkte einen Moment lang nachdenklich. »Passen Sie auf die Grizzlybären auf«, riet sie ihr dann.
Der Flug von Washington nach Juneau mit einer Zwischenlandung in Seattle dauerte neun Stunden. Im Flughafengebäude von Juneau begab sich Dana sofort zum Mietwagenschalter.
»Mein Name ist Dana Evans. Ich -«
»Ja, Miss Evans. Wir haben einen hübschen Landrover für Sie. Stellplatz Nummer 10. Unterschreiben Sie hier.«
Der Angestellte reichte ihr die Schlüssel, worauf Dana zur Rückseite des Gebäudes ging. Dort standen ein gutes Dutzend Fahrzeuge auf nummerierten Stellplätzen. Dana ging zu Stellplatz zehn. Ein Mann kniete hinter einem weißen Landrover und arbeitete am Auspuff. Er blickte auf, als Dana näher kam.
»Hab’ grade das Auspuffrohr festgeschraubt, Miss. Sie können losfahren.« Er stand auf.
»Vielen Dank«, sagte Dana.
Er schaute ihr nach, als sie wegfuhr.
Im Keller eines Verwaltungsgebäudes der Bundesregierung blickte ein Mann auf einen Computermonitor, auf dem eine digitale Landkarte abgebildet war. Er sah, wie der weiße Landrover nach rechts abbog.
»Zielperson fährt in Richtung Starr Hill.«
Die Hauptstadt von Alaska war für Dana eine einzige Überraschung. Auf den ersten Blick wirkte Juneau wie eine große Stadt, doch die engen, gewundenen Straßen erzeugten eine fast ländliche Stimmung, sodass man sich beinahe vorkam wie in einem Dorf mitten in einer eiszeitlichen Wildnis.
Dana stieg in dem beliebten Inn at The Waterfront ab, einem ehemaligen Bordell in der Innenstadt.
»Sie kommen gerade rechtzeitig zu einem großartigen Skiurlaub«, erklärte ihr der Mann an der Hotelrezeption. »Wir haben hervorragende Schneeverhältnisse. Haben Sie Ihre Skier dabei?«
»Nein, ich -«
»Na ja, nebenan ist ein Skigeschäft. Die haben bestimmt was Passendes für Sie.«
»Vielen Dank«, sagte Dana. Das ist kein schlechter Ansatzpunkt. Dana packte ihre Sachen aus und ging in das Skigeschäft.
Der Verkäufer legte sofort los, kaum dass Dana den Laden betreten hatte. »Hi! Ich bin Chad Donohoe. Also, bei uns sind Sie garantiert richtig.« Er deutete auf einen Haufen Skier. »Wir haben grade die Freerider hier reingekriegt. Damit kommt man auf jeder Buckelpiste zurecht.« Er deutete auf den nächsten Stapel. »Oder die hier - das sind Salo-mon X-Scream 95. Die sind schwer gefragt. Letztes Jahr sind sie uns ausgegangen, und wir haben keine Nachlieferung mehr gekriegt.« Er sah Danas ungeduldige Miene und begab sich hastig zum nächsten Ständer. »Wenn Sie lieber was anderes möchten, hätten wir hier den Vocal Vertigo G30 oder den Atomic 10.20.« Erwartungsvoll blickte er Dana an. »Welche wären Ihnen denn -?«
»Ich möchte ein paar Auskünfte.«
Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Auskünfte?«
»Ja. Hat Julie Winthrop ihre Skier hier gekauft?«
Er musterte Dana genauer. »Ja. Und ich weiß sogar, welche. Sie fuhr am liebsten diese spitzenmäßigen Volant TI, reine Rennski. Hat drauf geschworen. Schreckliche Sache, was ihr da droben am Eaglecrest passiert ist.«
»War Miss Winthrop eine gute Skifahrerin?«
»Gut? Sie war die Beste. Sie hatte einen ganzen Schrank voller Pokale.«
»Wissen Sie, ob sie allein hier war?«
»Soweit ich weiß, ja.« Er schüttelte den Kopf. »Und das Sonderbarste dabei ist, dass sie den Eaglecrest kannte wie ihre Westentasche. Ist jedes Jahr hier Ski gefahren. Da möchte man doch meinen, dass so ein Unfall gar nicht hätte passieren können, oder?«
»Ja, vermutlich«, sagte Dana bedächtig.
Das Polizeipräsidium von Juneau war nur zwei Straßen vom Hotel entfernt.
Dana trat in den kleinen Empfangsraum, in dem die Flagge des Staates Alaska, die Flagge von Juneau und das Sternenbanner hingen. Der Teppichboden war blau, ebenso die Couch und der einzige Sessel.
»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«, fragte ein Polizist in Uniform.
»Ich hätte gern ein paar Auskünfte zum Tod von Julie Winthrop.«
Er runzelte die Stirn. »Da müssten Sie sich an Bruce Bowler wenden. Er leitet den Rettungsdienst. Sein Büro ist einen Stock höher. Aber im Moment ist er nicht da.«
»Wissen Sie, wo ich ihn finden könnte?«
Der Polizist warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Um die Zeit müssten Sie ihn am ehesten im Hanger of The Wharf antreffen können. Das ist zwei Straßen weiter, drunten am Marine Way.«
»Ich danke Ihnen vielmals.«
Das Hanger on The Wharf war ein großes Restaurant, das zur Mittagszeit bis auf den letzten Platz besetzt war.
»Tut mir Leid«, sagte die Oberkellnerin zu Dana, »aber im Augenblick ist kein Tisch frei. Wenn Sie zwanzig Minuten warten -«
»Ich suche einen Mr. Bruce Bowler. Wissen Sie, ob -?«
Die Oberkellnerin nickte. »Bruce? Der sitzt da drüben.«
Dana blickte hin. Ein freundlich wirkender Mann mit einem markanten, wettergegerbten Gesicht saß allein an einem Tisch.
»Vielen Dank.« Dana ging zu ihm. »Mr. Bowler?«
Er blickte auf. »Ja?«
»Ich bin Dana Evans. Man hat mich an Sie verwiesen.«
Er lächelte. »Sie haben Glück, wir haben ein Zimmer frei. Ich ruf gleich an und sag Judy Bescheid.«
Dana blickte ihn verdutzt an. »Wie bitte?«
»Wollen Sie etwa gar nicht ins Cozy Log, unsere Pension?«
»Nein. Ich möchte mit Ihnen über Julie Winthrop sprechen.«
»Oh«, sagte er verlegen. »Tut mir Leid. Nehmen Sie doch bitte Platz. Judy und ich besitzen eine kleine Pension außerhalb der Stadt. Ich dachte, Sie suchen ein Zimmer. Haben Sie schon zu Mittag gegessen?«
»Nein, ich -«
»Leisten Sie mir Gesellschaft.« Einladend lächelte er sie an.
»Vielen Dank«, sagte Dana.
»Was wollen Sie denn über Julie Winthrop wissen?«, fragte Bruce Bowler, als Dana bestellt hatte.
»Es geht um ihren Tod. Könnte es sein, dass es sich nicht um einen Unfall gehandelt hat?«
Bruce Bowler runzelte die Stirn. »Wollen Sie von mir etwa wissen, ob sie womöglich Selbstmord begangen haben könnte?«
»Nein. Mir geht es darum, ob ... ob jemand sie ermordet haben könnte.«
Er blinzelte. »Ermordet? Julie? Nie und nimmer. Es war ein Unfall.«
»Können Sie mir sagen, wie es dazu kam?«
»Klar.« Bruce Bowler überlegte einen Moment lang, womit er anfangen sollte. »Hier gibt’s dreierlei Abfahrtsstrek-ken. Zunächst mal die Anfängerpisten: Muskeg, Dolly Varden und Sourdough . Dann die schwierigeren, Sluice Box, Mother Lode und Sundance ... Und danach kommen die richtig schweren, die Insane, Spurce Chute und Hang Ten ... Und dann gibt’s da noch die Steep Chutes. Das ist die allerschwerste.«
»Und Julie Winthrop fuhr auf der ...?«
»Steep Chutes.«
»Dann war sie also eine erfahrene Skiläuferin?«
»Mit Sicherheit«, erwiderte Bruce Bowler. Er zögerte einen Moment. »Das ist ja das Sonderbare daran.«
»Was?«
»Na ja, wir machen hier jeden Donnerstag von vier Uhr nachmittags bis neun Uhr abends Nachtabfahrten. An dem Tag waren allerhand Skifahrer unterwegs. Und Punkt neun waren alle wieder da, bis auf Julie. Wir haben uns seinerzeit auf die Suche gemacht. Wir haben ihre Leiche unten im Auslauf der Steep Chutes gefunden. Sie war gegen einen Baum geprallt. Muss auf der Stelle tot gewesen sein.«
Dana schloss einen Moment lang die Augen, meinte das jähe Erschrecken und den Schmerz förmlich spüren zu können. »Sie - sie war also allein, als der Unfall passierte?«
»Ja. Normalerweise sollten Skifahrer niemals allein losziehen, aber die Könner machen es mitunter trotzdem, damit sie mal so richtig die Sau rauslassen können. Wir achten hier darauf, dass die Pisten genau markiert sind, und jeder, der sich nicht dran hält, ist auf eigene Gefahr unterwegs. Julie Winthrop ist außerhalb der markierten Strecke abgefahren, auf einer gesperrten Piste. Hat eine ganze Weile gedauert, bis wir ihre Leiche gefunden haben.«
»Mr. Bowler, was unternehmen Sie, wenn ein Skifahrer nicht rechtzeitig zurückkehrt?«
»Sobald die Meldung eingeht, dass jemand vermisst wird, leiten wir die Schnapsleichensuche ein.«
»Was ist denn eine Schnapsleichensuche?«
»Wir rufen bei Freunden und Bekannten an und erkundigen uns, ob der vermisste Skifahrer womöglich bei ihnen steckt. Klappern ein paar Bars ab. Das ist keine große Sache. Und unsere Leute müssen dann nicht eigens ausrücken, um einen Besoffenen zu suchen, der zugedröhnt in irgendeiner Kneipe hängt.«
»Und wenn jemand wirklich vermisst wird?«, fragte Dana.
»Dann besorgen wir uns die Beschreibung der betreffenden Person, erkundigen uns, wie gut sie Ski fahren konnte und wo man sie zuletzt gesehen hat. Außerdem fragen wir immer, ob sie eine Kamera dabei hatte.«
»Wieso?«
»Weil wir durch die Bilder womöglich einen Hinweis erhalten, wo der betreffende Skifahrer am liebsten abgefahren ist. Außerdem erkundigen wir uns, wie und womit er wieder in die Stadt zurückgelangen wollte. Wenn wir damit nicht weiterkommen, gehen wir davon aus, dass der vermisste Skifahrer außerhalb der markierten Pisten abgefahren ist. Dann verständigen wir die Staatspolizei von Alaska, worauf die eine Such- und Rettungsaktion in die Wege leitet und etliche Suchtrupps und einen Hubschrauber losschickt. Außerdem unterstützen uns die ganzen Privatflieger.«
»Das ist ja ein ziemlich starkes Aufgebot.«
»Na klar. Aber Sie müssen bedenken, dass wir hier ein rund zweihundertsechzig Hektar großes Skigebiet haben und pro Jahr im Schnitt etwa vierzig Suchaktionen durchführen müssen. Die meisten übrigens mit Erfolg.« Bruce Bowler blickte aus dem Fenster auf den kalten, schneeverhangenen Himmel. »Ich wünschte, es wäre auch in diesem Fall so gewesen.« Er wandte sich wieder an Dana. »Und außerdem ist jeden Tag eine Skipatrouille unterwegs, die sämtliche Pisten abfährt, sobald die Lifte geschlossen haben.«
»Man hat mir erzählt«, sagte Dana, »dass Julie Winthrop sich am Eaglecrest gut auskannte.«
Er nickte. »Das stimmt. Aber das will gar nichts heißen. Da können plötzlich Wolken aufziehen, sodass man die Orientierung verliert, oder man hat einfach Pech. Die arme Miss Winthrop hat einfach Pech gehabt.«
»Wie hat man sie gefunden?«
»Mayday hat sie gefunden.«
»Mayday?«
»Das ist unser bester Suchhund. Die Skipatrouille ist mit schwarzen Labrador- und Schäferhunden unterwegs. Unglaublich, was die Hunde bringen. Sie laufen immer gegen den Wind, bis sie menschliche Witterung aufnehmen, folgen der Duftspur und tasten sich dann allmählich immer näher ran. Wir haben eine Kettenkatze zum Unfallort rausgeschickt, und als -«
»Eine Kettenkatze?«
»Unser Schneemobil. Wir haben Julie Winthrops Leiche auf einem Rettungsschlitten zurückgeschafft. Die drei Sanitäter haben ein EKG gemacht, Fotos aufgenommen und einen Bestattungsunternehmer verständigt. Ihre Leiche wurde ins Bartlett Regional Hospital gebracht.«
»Und niemand weiß, wie es zu dem Unfall kam?«
Er zuckte die Achseln. »Wir wissen lediglich, dass ihr eine mächtige Fichte in die Quere gekommen ist. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen. War kein schöner Anblick.«
Dana musterte Bruce Bowler einen Moment lang. »Könnte ich mir die Abfahrtsstrecke am Eaglecrest vielleicht mal ansehen?«
»Warum nicht? Aber wir sollten erst aufessen, dann bring ich Sie persönlich rauf.«
Sie fuhren mit einem Jeep zu einer am Fuß der Berge gelegenen Hütte.
»Hier treffen wir uns immer und sprechen ab, wie wir die Such- und Rettungsaktion durchziehen wollen«, erklärte Bruce Bowler. »Wir verleihen Skiausrüstung, und wir stellen hier auch Skilehrer, falls jemand einen haben will. Wir nehmen den Lift da.«
Dana zitterte vor Kälte, als sie mit dem Ptarmigan-Sessellift hinauf zum Eaglecrest fuhren.
»Ich hätte Sie vorwarnen sollen. Bei diesem Wetter brauchen Sie festes Überzeug und warme Unterkleidung, und Sie müssen möglichst viele Schichten übereinander tragen.«
»Ich werd’s mir m-merken«, versetzte Dana bibbernd.
»Mit diesem Sessellift ist auch Julie Winthrop raufgefahren. Sie hatte ihren Rucksack dabei.«
»Ihren Rucksack?«
»Ja. In diesen Rucksäcken sind eine Lawinenschaufel, ein Sender mit einer Reichweite von bis zu fünfzig Metern und eine Stange, mit der man notfalls durch den Schnee stoßen kann.« Er seufzte. »Das nützt einem natürlich nicht viel, wenn man gegen einen Baum prallt.«
Sie näherten sich dem Gipfel. Ein Mann empfing sie, als sie oben ankamen und mit steifen Knochen aus den Sesseln stiegen.
»Was führt dich denn hier rauf, Bruce? Wird etwa jemand vermisst?«
»Nein. Ich will bloß mal einer Bekannten zeigen, wie’s hier oben aussieht. Das ist Miss Evans.«
Sie begrüßten einander. Dana blickte sich um. Hier oben gab es eine Schutzhütte, die beinahe in den Wolken verschwand. Ist Julie Winthrop dort reingegangen, bevor sie abgefahren ist? Ist ihr vielleicht jemand gefolgt? Jemand, der sie töten wollte?
Bruce Bowler wandte sich an Dana. »Das hier ist der höchste Punkt. Von hier aus geht’s nur noch bergab.«
Dana drehte sich um, blickte den schier endlosen Steilhang hinab und erschauderte.
»Sie sehen ja völlig erfroren aus. Ich bring Sie lieber wieder runter.«
»Vielen Dank.«
Dana war kaum wieder ins Inn at The Waterfront zurückgekehrt, als es an ihrer Tür klopfte. Dana machte auf. Ein hoch aufgeschossener Mann mit blassem Gesicht stand davor.
»Miss Evans?«
»Ja.«
»Hallo. Mein Name ist Nicholas Verdun. Ich bin vom Juneau Empire, der hiesigen Zeitung.«
»Ja?«
»So weit ich weiß, stellen Sie hier Recherchen wegen des tödlichen Unfalls von Julie Winthrop an. Wir möchten gern darüber berichten.«
Augenblicklich war Dana auf der Hut. »Ich fürchte, da liegt ein Irrtum vor. Ich bin nicht zu Recherchen hier.«
Der Mann blickte sie skeptisch an. »Aber ich habe gehört, dass -«
»Wir wollen eine Reportage über die besten Skigebiete der Welt machen. Das hier ist nur eine Station auf unserer Tour.«
Er stand einen Moment lang unschlüssig da. »Aha. Dann entschuldigen Sie bitte die Störung.«
Dana blickte ihm nach, als er ging. Woher weiß er, was ich hier mache? Sie rief beim Juneau Empire an. »Hallo. Ich möchte mit einem Ihrer Reporter sprechen, Nicholas Verdun ...« Sie hörte einen Moment lang zu. »Bei Ihnen gibt es niemanden, der so heißt? Verstehe. Danke.«
Innerhalb von zehn Minuten hatte Dana gepackt. Ich muss hier schleunigst weg und mir eine andere Unterkunft besorgen. Mit einem Mal fiel ihr etwas ein. Wollen Sie etwa gar nicht ins Cozy Log, unsere Pension? Sie haben Glück, wir haben ein Zimmer frei. Dana ging hinunter ins Foyer und zahlte ihre Rechnung. Der Mann an der Rezeption erklärte ihr den Weg und malte ihr eine kleine Karte.
»Zielperson verlässt den Innenstadtbereich und fährt in Richtung Westen«, sagte der Mann, der im Keller des Regierungsgebäudes vor dem Computer saß.
Das Cozy Log Bed & Breakfast Inn war ein schmuckes, einstöckiges Blockhaus im typischen Alaska-Stil, das etwa eine halbe Stunde vom Stadtzentrum von Juneau entfernt war. Bestens. Dana klingelte an der Haustür, worauf ihr eine attraktive, freundliche Frau Mitte dreißig öffnete.
»Hallo. Kann ich Ihnen helfen?«
»Ja. Ich habe Ihren Mann kennen gelernt, und er erwähnte, dass Sie ein Zimmer frei hätten.«
»So ist es. Ich bin Judy Bowler.«
»Dana Evans.«
»Kommen Sie rein.«
Dana trat ein und blickte sich um. Die Pension bestand aus einem großen, gemütlichen Wohnzimmer mit einem steinernen Kamin, einem Esszimmer, in dem die Gäste verköstigt wurden, und zwei Schlafräumen mit Badezimmern.
»Ich mache hier die Küche«, sagte Judy Bowler. »Und zwar ziemlich gut.«
Dana lächelte. »Ich freue mich schon darauf.«
Judy Bowler führte Dana zu ihrem Zimmer. Es war sauber und wirkte heimelig. Dana packte ihre Sachen aus.
Außer ihr wohnte noch ein Ehepaar hier, mit dem Dana ein kurzes, zwangloses Gespräch führte. Keiner der beiden erkannte sie.
Nach dem Mittagessen fuhr Dana in die Stadt zurück. Sie ging in die Bar des Cliff House und bestellte sich einen Cocktail. Das gesamte Personal war braun gebrannt und wirkte kerngesund. Natürlich.
»Herrliches Wetter«, sagte Dana zu dem jungen, blonden Barkeeper
»Jawohl. Hervorragendes Wetter zum Skifahren.«
»Sind Sie viel auf Skiern unterwegs?«
Er lächelte. »Jedes Mal, wenn ich mir hier frei nehmen kann.«
»Mir ist das zu gefährlich.« Dana seufzte. »Eine Freundin von mir ist hier vor einem Jahr umgekommen.«
Er stellte das Glas ab, das er gerade polierte. »Umgekommen?«
»Ja. Julie Winthrop.«
Er zog ein betrübtes Gesicht. »Sie ist immer hier reingekommen. Nette Frau.«
Dana beugte sich vor. »Ich habe gehört, dass es gar kein Unfall gewesen sein soll.«
Er bekam große Augen. »Was meinen Sie damit?«
»Ich habe gehört, dass sie ermordet wurde.«
»Ermordet?«, sagte er ungläubig. »Niemals. Es war ein Unfall.«
Zwanzig Minuten später redete Dana mit dem Barkeeper des Prospector Hotel.
»Herrliches Wetter.«
»Gut zum Skifahren«, sagte der Barkeeper.
Dana schüttelte den Kopf. »Ist mir zu gefährlich. Eine Freundin von mir ist hier beim Skifahren umgekommen. Vielleicht sind Sie ihr mal begegnet. Julie Winthrop hieß sie.«
»Oh, na klar. Hab sie sehr gemocht. Die hat sich nicht so aufgespielt wie manche anderen. Ist immer schön am Boden geblieben.«
Dana beugte sich vor. »Ich habe gehört, dass es gar kein Unfall gewesen sein soll.«
Die Miene des Barkeeper veränderte sich jäh. Er senkte die Stimme. »Ich weiß ganz genau, dass es keiner war.«
Danas Herz schlug einen Takt schneller. »Ja?«
»Klar doch.« Mit verschwörerischem Blick beugte er sich vor. »Diese verdammten Marsmenschen .«
Sie stand auf Skiern oben am Ptarmigan Mountain, spürte den schneidend kalten Wind. Sie blickte hinab ins Tal, überlegte gerade, ob sie nicht lieber umkehren sollte, als sie plötzlich von hinten einen Schubs bekam und den Steilhang hinunterraste, schneller und immer schneller, genau auf einen mächtigen Baum zu. Kurz vor dem Aufprall fuhr sie schreiend hoch.
Zitternd setzte sich Dana im Bett auf. Ist es Julie Winthrop etwa so ergangen? Aber wer hat ihr den tödlichen Stoß
Elliot Cromwell war ungehalten.
»Matt, wann, zum Teufel, kommt eigentlich Jeff Connors zurück? Wir brauchen ihn.«
»Bald. Er meldet sich regelmäßig.«
»Und was ist mit Dana?«
»Sie ist in Alaska. Warum?«
»Ich möchte, dass sie beide schleunigst wieder hier antanzen. Die Quoten unserer Abendnachrichten sind zurückgegangen.«
Worauf Matt Baker ihn nur anblickte und sich fragte, ob dies der wahre Anlass für Elliot Cromwells Ausbruch war.
Dana stand frühmorgens auf, zog sich an und fuhr ins Stadtzentrum.
Als sie am Flughafen darauf wartete, dass ihre Maschine ausgerufen wurde, bemerkte sie einen Mann, der in der hintersten Ecke saß und von Zeit zu Zeit zu ihr blickte. Er trug einen dunkelgrauen Anzug und erinnerte sie an irgend-wen. Dann fiel ihr ein, an wen. An einen anderen Mann, am Flughafen von Aspen. Er hatte ebenfalls einen dunkelgrauen Anzug getragen. Doch nicht wegen der Kleidung erinnerte sie sich an ihn, es lag an ihrer Haltung: Beide strahlten eine unangenehm nassforsche Arroganz aus. Die Blicke, die dieser Mann ihr hin und wieder zuwarf, waren geradezu verächtlich. Sie erschauderte.
Nachdem sich Dana an Bord der Maschine begeben hatte, meldete er sich per Handy und verließ den Flughafen.