»Guten Morgen«, sagte Olivia, als Dana am Montagmorgen in ihr Büro kam. »Eine Frau hat schon dreimal angerufen und wollte Sie sprechen. Sie wollte ihren Namen nicht nennen.«
»Hat sie eine Nummer hinterlassen?«
»Nein. Sie sagte, sie ruft noch mal an.«
Eine halbe Stunde später meldete sich Olivia bei ihr. »Die Frau ist wieder dran. Möchten Sie mit ihr sprechen?«
»In Ordnung.« Dana nahm den Hörer ab. »Hallo, Dana Evans hier. Wer ist -«
»Hier ist Joan Sinisi.«
Danas Herz schlug einen Takt schneller. »Ja, Miss Sinisi .«
»Möchten Sie immer noch mit mir reden?« Sie klang nervös.
»Ja. Unbedingt.«
»Na schön.«
»Ich komme in ein paar Minuten bei Ihnen -«
»Nein!« Panik schwang in ihrer Stimme mit. »Wir müssen uns irgendwo anders treffen. Ich - ich glaube, ich werde beobachtet.«
»Von mir aus. Wo?«
»Beim Vogelhaus im Zoo. Können Sie in einer Stunde dort sein?«
»Ich werde da sein.«
Der Park war völlig verlassen. Der eisige Dezemberwind, der über die Stadt hinwegfegte, hielt die Menschen fern, die sich ansonsten in Scharen hier tummelten. Zitternd vor Kälte stand Dana vor den Volieren und wartete auf Joan Sinisi. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Sie war schon seit über einer Stunde da. Ich gebe ihr noch fünfzehn Minuten.
Eine Viertelstunde später sagte sich Dana: Noch eine halbe Stunde, dann ist Schluss. Nach weiteren dreißig Minuten dachte sie: Verdammt! sie hat es sich anders überlegt.
Nass und ausgefroren kehrte Dana in ihr Büro zurück. »Irgendwelche Anrufe?«, fragte sie Olivia erwartungsvoll.
»Ein halbes Dutzend. Liegt alles auf Ihrem Schreibtisch.«
Dana ging die Liste durch. Joan Sinisis Name stand nicht darauf. Dana rief bei ihr an. Sie ließ das Telefon über zehnmal klingeln, ehe sie auflegte. Vielleicht ändert sie ihre Meinung wieder. Dana versuchte es noch zweimal, aber niemand ging ran. Sie überlegte hin und her, ob sie bei ihr vorbeifahren sollte, entschied sich aber dagegen. Ich muss warten, bis sie auf mich zugeht, beschloss sie.
Joan Sinisi ließ nichts mehr von sich hören.
Am nächsten Morgen um sechs Uhr sah sich Dana die Nachrichten an, während sie sich ankleidete. »... unterdessen hat sich die Lage in Tschetschenien weiter zugespitzt. Wieder wurden die Leichen von einem Dutzend russischer Soldaten aufgefunden, und trotz aller Beteuerungen von Seiten der russischen Regierung, dass die Rebellen besiegt seien, dauern die Kämpfe noch immer an ... Zu den Lokalnachrichten. Eine Frau ist aus ihrer Penthousewohnung im dreizehnten Stock eines Apartmenthauses zu Tode gestürzt. Bei dem Opfer handelt es sich um Joan Sinisi, eine ehemalige Sekretärin von Botschafter Taylor Winthrop. Die Polizei untersucht zurzeit noch, wie es zu dem Unfall kommen konnte.« Dana war wie gelähmt.
»Matt, ich habe Ihnen doch von der Frau erzählt, die ich besucht habe - Joan Sinisi, Taylor Winthrops ehemalige Sekretärin?«
»Ja. Was ist mit ihr?«
»Sie ist tot. Es kam heute Morgen in den Nachrichten.«
»Was?«
»Sie rief gestern Morgen an und wollte sich dringend mit mir treffen. Sie sagte, sie müsste mir etwas Wichtiges mitteilen. Ich habe über eine Stunde im Zoo auf sie gewartet, aber sie ist nicht gekommen.«
Matt starrte sie an.
»Als ich am Telefon mit ihr gesprochen habe, sagte sie, dass sie glaubt, sie werde beobachtet.«
Matt Baker saß da und kratzte sich am Kinn. »Herrgott. Was, zum Teufel, haben wir da aufgetan?«
»Ich weiß es nicht. Ich möchte mit Joan Sinisis Dienstmädchen sprechen.«
»Dana .«
»Ja?«
»Seien Sie vorsichtig. Sehr vorsichtig.«
Als Dana die Eingangshalle des Apartmenthauses betrat, empfing sie ein anderer Portier.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Mein Name ist Dana Evans. Ich bin wegen Miss Sinisi hier, die gestern ums Leben gekommen ist. Ein schrecklicher Unglücksfall.«
Der Portier blickte sie mit bedrückter Miene an. »Ja, so ist es. Sie war eine reizende Dame. Immer ruhig und zurückhaltend.«
»Hatte sie viele Besucher?«, fragte Dana wie beiläufig.
»Nein, eigentlich nicht. Sie lebte sehr zurückgezogen.«
»Waren Sie gestern im Dienst, als sich der« - Dana stolperte über das Wort - »Unfall ereignete?«
»Nein, Ma’am.«
»Dann wissen Sie also nicht, ob jemand bei ihr war?« »Nein, Ma’am.«
»Aber irgendjemand hatte doch Dienst?«
»O ja. Dennis. Die Polizei hat ihn bereits vernommen. Er war gerade unterwegs, um etwas zu besorgen, als Miss Sinisi runtergefallen ist.«
»Ich möchte mit Greta sprechen, Miss Sinisis Dienstmädchen. «
»Ich fürchte, das ist nicht möglich.«
»Nicht möglich? Wieso?«
»Sie ist weg.«
»Wohin?«
»Sie hat gesagt, sie will nach Hause. Sie war völlig außer sich.«
»Wo wohnt sie?«
Der Portier schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
»Ist im Augenblick jemand in der Wohnung?«
»Nein, Ma’am.«
Dana ließ sich rasch etwa einfallen. »Mein Chef möchte, dass ich für WTN einen Bericht über Miss Sinisis Tod mache. Dürfte ich mir die Wohnung noch mal ansehen? Ich war vor ein paar Tagen da.«
Er dachte einen Moment lang nach, dann zuckte er die Achseln. »Ich wüsste nicht, was dagegen spricht. Ich muss aber mit Ihnen rauf gehen.«
»Ist mir recht«, erwiderte Dana.
Schweigend fuhren sie hinauf ins Penthouse. Im dreizehnten Stock angelangt, zückte der Portier einen Passepartout und schloss die Tür von Apartment A auf.
Dana ging hinein. Die Wohnung sah noch genau so aus wie beim letzten Mal, als Dana hier gewesen war. Abgesehen davon, dass Joan Sinisi nicht mehr da ist.
»Möchten Sie irgendetwas Bestimmtes sehen, Miss Evans?«
»Nein«, log Dana. »Ich wollte nur mein Gedächtnis etwas auffrischen.«
Sie ging den Flur entlang zum Wohnzimmer und begab sich in Richtung Dachterrasse.
»Dort ist die arme Frau runtergefallen«, sagte der Portier.
Dana trat hinaus auf die riesige Dachterrasse und ging bis zum äußersten Rand. Eine knapp anderthalb Meter hohe Mauer zog sich rund um die ganze Terrasse. Völlig unmöglich, dass da jemand aus Versehen herunterfallen konnte.
Dana blickte auf die Straße hinab, auf den dichten Verkehr und das geschäftige vorweihnachtliche Treiben. Wer ist so skrupellos, um so was fertig zu bringen?, dachte sie. Sie erschauderte.
Der Portier kam zu ihr. »Ist alles in Ordnung?«
Dana atmete tief durch. »Ja, bestens. Vielen Dank.«
»Möchten Sie sonst noch was anschauen?«
»Nein, ich habe genug gesehen.«
Im Eingangsbereich des Polizeireviers in der Innenstadt wimmelte es von Straftätern, Betrunkenen, Prostituierten und verzweifelten Touristen, deren Brieftaschen auf rätselhafte Art und Weise abhanden gekommen waren.
»Ich möchte Detective Marcus Abrams sprechen«, erklärte Dana dem diensthabenden Sergeant.
»Dritte Tür rechts.«
»Vielen Dank.« Dana ging den Korridor entlang.
Detective Abrams’ Tür war offen.
»Detective Abrams?«
Er stand vor dem Aktenschrank - ein großer, stämmiger Mann mit dickem Bauch und müde wirkenden braunen Augen. Er blickte zu Dana. »Ja?« Dann erkannte er sie. »Miss Evans. Womit kann ich Ihnen dienen?«
»Man hat mir gesagt, dass Sie Joan Sinisis« - wieder dieses Wort - »Unfall bearbeiten.«
»Ganz recht.« »Können Sie mir etwas dazu sagen?«
Er ging zu seinem Schreibtisch, legte einen Stapel Akten ab und setzte sich. »Dazu gibt’s nicht viel zu sagen. Es war entweder ein Unfall oder Selbstmord. Nehmen Sie Platz.«
Dana zog sich einen Stuhl heran. »War jemand bei ihr, als es passiert ist?«
»Nur das Dienstmädchen. Sie war zur fraglichen Zeit in der Küche. Laut ihrer Aussage war sonst niemand da.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo ich das Dienstmädchen erreichen kann?«, fragte Dana.
Er dachte darüber nach. »Sie soll heute Abend in den Nachrichten etwas dazu sagen, was?«
Dana lächelte ihn an. »Genau.«
Detective Abrams ging wieder zum Aktenschrank und kramte in den Unterlagen herum. Er zog eine Karteikarte heraus. »Da hätten wir’s. Greta Miller. Connecticut Avenue Nummer elfachtzig. Reicht das?«
Zwanzig Minuten später fuhr Dana die Connecticut Avenue entlang und suchte die Hausnummern ab: 1170 ... 1172 ... 1174 ... 1176 ... 1178 ...
Nummer 1180 war ein Parkplatz.
»Glaubst du wirklich, dass diese Sinisi von der Dachterrasse geworfen wurde?«, fragte Jeff.
»Jeff, man ruft nicht bei jemandem an, um sich dringend mit ihm zu verabreden, und begeht dann Selbstmord. Irgendjemand wollte nicht, dass sie mir etwas erzählt. Es ist zum Verzweifeln. Das ist genau wie mit dem Hund von Basker-ville. Niemand hört ihn bellen. Keiner weiß irgendwas.«
»Die Sache wird langsam unheimlich«, sagte Jeff. »Ich bin mir nicht sicher, ob du weiter dranbleiben solltest.«
»Ich kann jetzt nicht aufhören. Ich muss mehr herausfinden.«
»Wenn du Recht hast, Dana, dann sind bereits sechs Menschen ermordet worden.«
Dana schluckte. »Ich weiß.«
». und das Dienstmädchen hat der Polizei eine falsche Adresse angegeben und ist untergetaucht«, sagte Dana zu Matt Baker. »Als ich mit Joana Sinisi gesprochen habe, wirkte sie zwar nervös, aber wie eine Selbstmordkandidatin kam sie mir ganz bestimmt nicht vor. Irgendjemand hat nachgeholfen, als sie über die Brüstung fiel.«
»Aber wir haben keinen Beweis dafür.«
»Nein. Aber ich weiß, dass ich Recht habe. Als ich mich zum ersten Mal mit Joan Sinisi traf, war sie bester Dinge, bis zu dem Moment, als ich Taylor Winthrops Namen erwähnte. Da bekam sie es mit der Angst zu tun. Zum ersten Mal habe ich einen Riss in diesem wunderbaren Bild bemerkt, das Taylor Winthrop von sich geschaffen hat. Ein Mann wie Winthrop findet eine Sekretärin nicht mit einer hohen Geldsumme ab, wenn sie nicht irgendetwas Schwerwiegendes gegen ihn in der Hand hat. Es muss eine Art Erpressung gewesen sein. Irgendetwas Unheimliches geht da vor. Matt, kennen Sie jemanden, der mit Taylor Winthrop zusammengearbeitet hat, der möglicherweise mal mit ihm aneinander geraten ist und der keine Angst hat, den Mund aufzumachen?«
Matt Baker dachte einen Moment lang nach. »Sie sollten sich vielleicht an Roger Hudson wenden. Er war Vorsitzender der stärksten Fraktion im Senat, ehe er in Ruhestand ging, und er arbeitete mit Taylor Winthrop in ein, zwei Ausschüssen zusammen. Der könnte etwas wissen. Und er hat vor nichts und niemandem Angst.«
»Könnten Sie für mich einen Termin mit ihm vereinbaren?«
»Ich will mal sehen, was sich tun lässt.«
Eine Stunde später war Matt am Apparat. »Roger Hudson ist bereit, Sie am Donnerstagmittag in seinem Haus in Georgetown zu empfangen.«
»Danke, Matt. Ich bin Ihnen sehr verbunden.«
»Ich muss Sie warnen, Dana ...«
»Ja?«
»Hudson kann ziemlich bissig sein.«
»Ich werde zusehen, dass ich ihm nicht zu nahe trete.«
Matt Baker wollte gerade sein Büro verlassen, als Elliot Cromwell hereinkam.
»Ich möchte mir Ihnen über Dana sprechen.«
»Liegt irgendwas vor?«
»Nein, und ich möchte auch nicht, dass es dazu kommt. Es geht um diese Recherchen über Taylor Winthrop, die sie gerade anstellt -«
»Ja.«
»Ihre Fragen gehen einigen Leuten gehörig gegen den Strich, und meiner Meinung nach vergeudet sie nur ihre Zeit. Ich kannte Taylor Winthrop und seine Familie. Das waren lauter wunderbare Menschen.«
»Gut«, sagte Matt Baker. »Dann kann es ja nichts schaden, wenn Dana weitermacht.«
Elliot Cromwell musterte Matt einen Moment lang, dann zuckte er die Achseln. »Halten Sie mich auf dem Laufenden.«
»Ist die Verbindung sicher?«
»Ja, Sir.«
»Gut. Wir verlassen uns voll und ganz auf die Mitteilungen von WTN. Sind Sie sicher, dass Ihre Informationen zuverlässig sind?«
»Absolut. Sie stammen direkt aus der Chefetage des Verwaltungsgebäudes.«