Läufer hielt das Haupt gesenkt und hörte alle diese Worte. Er war so glücklich, daß es ihm fast Schmerzen bereitete.
Man denke nur — das erste Kanu des Stammes sollte ihm gehören! Er konnte damit zum Fischen fahren, wann immer es ihm gefiel, und er konnte es seinen Freunden borgen.
Der Medizinmann hatte ihn vor dem ganzen Stamme gelobt, und was das Schönste von allem war: Beim nächsten Vollmond würde sein Fest gefeiert werden. Das konnte nur bedeuten, daß er einen neuen Namen erhalten, für erwachsen erklärt und mit allen Rechten eines Mannes ausgestattet werden sollte.
Der Häuptling trat zu ihm und klopfte ihm freundlich auf die Schulter.
„Nun wissen wir, wie wir es machen müssen, wenn wir die anderen Kanus bauen", sagte er. „Nimm einen guten Kameraden mit und fahr hinaus zum Fischen. Du hast in letzter Zeit hart gearbeitet und wirst eine Abwechslung brauchen können."
Läufer winkte Stumpfnase, und beide begannen im flachen Wasser nach Krabben zu suchen. Als sie genügend gefunden hatten, fuhren sie hinaus ans Riff, um sich dort hinzusetzen und zu angeln.
Nach einigen Stunden befanden sie sich wieder auf der Rückfahrt, nun mit so viel Fischen versehen, daß sie dem ganzen Lager als Mahlzeit dienen konnten. Mit dem schnellen Kanu war es leicht, an die besten Angelstellen zu gelangen.
Als sie in die Meerenge hereingepaddelt kamen, hörten sie von der größeren Insel regelmäßige Schläge der Steinäxte herüberhallen. „Ja", sagte Stumpfnase, „nun bist du bald ein Mann und wirst nicht mehr Läufer genannt werden. Und dann wirst du wohl kaum noch mit einem Jungen wie mir hinausfahren und fischen."
„Jetzt redest du Unsinn", antwortete Läufer ein wenig verärgert. „Wir zwei bleiben immer gute Freunde, was auch geschieht. Gewiß wirst du auch bald etwas Nützliches tun, dann einen richtigen Männernamen erhalten und zum Ima tule erklärt werden — zum erwachsenen Mann."
„Das sagt sich leicht", erwiderte Stumpfnase. „Aber es wird nicht leicht werden, nachdem du zwei so große Dinge wie den Bogen und das Kanu erfunden hast. Jetzt genügt es sicher nicht mehr, wenn man mit irgendeiner Kleinigkeit kommt. Es muß nun schon etwas wirklich Nützliches sein, und so etwas kann ich mir sicher nicht ausdenken." „Natürlich kannst du das!" ermutigte ihn Läufer. „Was ich getan habe, war eigentlich gar nichts Besonderes. Ich hatte ja gesehen, wie die Bogen und die Kanus der Kariben ungefähr aussahen, als ich mit Sägefisch nach ihnen Ausschau hielt. Dann habe ich bloß nachgedacht, warum sie so sein mußten, und darauf brauchte ich nur noch etwas Ähnliches zu versuchen. Das war alles. Dir wird sicher auch mal ganz unvermutet ein guter Einfall kommen. Dann mußt du dich nur daran hängen wie ein Schildfisch an eine grüne Schildkröte, und ehe du dich versiehst, ist die Sache fertig."
Stumpfnase starrte seinen Kameraden einen Augenblick mit weit aufgerissenen Augen an.
„Wie ein Schildfisch an eine grüne Schildkröte — hat mein großer Bruder das gesagt?" fragte er langsam und mit einer kleinen Pause nach jedem Wort.
„Ja, warum?" erwiderte Läufer verwundert.
Stumpfnase lachte herzhaft. Dann wurde er jedoch plötzlich wieder ernst und begann erneut aus Leibeskräften zu paddeln.
Läufer sah ihn erstaunt an.
„Worüber hast du gelacht?" fragte er.
„Ich mußte nur an etwas denken", erwiderte Stumpfnase ausweichend. „So ist das, wenn man mit klugen Leuten im Kanu ausfahren darf." Während des ganzen folgenden Abends war kein vernünftiges Wort aus ihm herauszukriegen, aber früh am nächsten Morgen bat er Läufer, ihm für kurze Zeit das Kanu zu leihen, er wolle einige Stachelrochen harpunieren.
Das durfte er natürlich, und einige Zeit später kam er zurück und gab Läufer einen stattlichen Rochenstachel, fast doppelt so lang wie ein Finger und spitzer als der spitzeste Feuerstein. So eine Pfeilspitze mußte man suchen.
„Ich danke dir für das Geschenk", sagte Läufer. „Sobald ich gutes Material habe, werde ich für meinen Bruder Stumpfnase einen Bogen machen."
„Das wäre ein großes Geschenk für ein kleines, aber es wissen ja alle, daß Läufer gern viel für wenig gibt", erwiderte Stumpfnase. „Darum sagen wohl auch so viele, er habe das Zeug zu einem Häuptling. Wollen wir morgen hinausfahren und fischen, ganz früh?"
„Ja, gern. Aber wohin fahren wir diesmal? Wieder hinaus an das große Korallenriff?"
„Nein, ich habe eine neue Angelstelle entdeckt, die bis jetzt noch keiner kennt. Sie liegt drüben an der anderen Seite von Ceysén."
„Gut, dann fahren wir dorthin."
Es war fast noch dunkel, als Stumpfnase vom Strand heraufgeschlichen kam und Läufer mit einem kleinen Zweig an der Fußsohle zu kitzeln begann.
Er vermied es, seinen Kameraden jäh aufzuwecken. Das war bei ihrem Volk nicht üblich. Die Indianer glaubten, wenn man schlafe, befinde sich die Seele auf Reisen, und man erwache, wenn sie zurückgekehrt sei.
Sie meinten, daß jeder Mensch zwei Seelen besaß, eine kleine und eine große. Die große Seele begab sich auf Reisen, wenn man schlief, und die Träume waren Abenteuer, die die Seele erlebte, wenn sie sich vom Körper getrennt hatte. Daher hielten die Indianer auch Träume für eine Art Wirklichkeit und machten keinen großen Unterschied zwischen der wachen Wirklichkeit und dem Traumgeschehen.
Wurde man zu jäh geweckt, dann konnte es geschehen, daß die kleine Seele die große nicht mehr rechtzeitig zurückrufen konnte; erwachte man, ehe die große Seele zurück war, dann vermochte diese nicht mehr in den Körper einzugehen und fuhr sonstwohin. Allein gefiel es dann der kleinen Seele nicht mehr im Körper, sie wollte ebenfalls hinausfliegen, um die große Seele zu suchen. Dann wurde man krank und starb, so glaubten die Indianer.
Daher weckten sie einen schlafenden Menschen immer sehr langsam und vorsichtig, damit seine kleine Seele genügend Zeit fand, die große zurückzurufen.
'Stumpfnase kitzelte also seinen Freund weiter mit dem Zweig an den Füßen, bis Läufer erwachte und sich aufrichtete. Er reckte die Arme und gähnte.
„Es ist Zeit, aufs Meer zu fahren!" sagte Stumpfnase.
„Es ist ja noch finster!"
„Siehst du nicht die Tochter der Sonne? Sie ist schon aufgestanden, um Maisbrot für ihren Vater zu backen. Es ist bald Morgen, wenn sie sich zeigt."
Stumpfnase wies nach der Venus, die in strahlender Klarheit über dem ersten bleichen Streifen Tageslicht im Osten stand.
Läufer ließ sich überzeugen und rieb sich den Schlaf aus den Augen. „Dann wird es wohl das beste sein, wenn wir gleich nach Ködern suchen", sagte er. „Aber so früh findet man wohl nur Sandmuscheln." „Mach dir keine Sorgen wegen der Köder", erwiderte Stumpfnase lächelnd. „Das habe ich schon gestern geregelt."
„Dann können wir ja losfahren."
Die beiden Freunde banden die Leine los, setzten Rollen von Balsa-holz unter das Kanu und zogen es hinunter ans Wasser. Dann ging Stumpfnase nach einem kleinen Gezeitentümpel zwischen den Korallenfelsen und nahm etwas aus ihm heraus.
Läufer konnte nicht sehen, was es war, Stumpfnase packte es in nasse Mangrovenzweige. Darauf tauchte er das ganze Bündel ins Meer und hielt es einige Minuten unter Wasser, um es dann ins Kanu zu legen.
„Na, und wo ist nun deine neue Angelstelle?" fragte Läufer.
„Da drüben, auf der anderen Seite der großen Insel. Hast du deine beste Harpune und eine feste Leine mitgenommen?”
„Natürlich."
„Dann können wir losfahren."
Die Sonne wollte gerade aufgehen, als das Kanu die äußerste Landzunge umrundete und zwischen den Sandbänken dahinglitt, die auf der anderen Seite von Ceysén lagen.
„Leg nun dein Paddel ins Kanu, wir wollen uns ein Weilchen treiben lassen", schlug Stumpfnase vor.
Läufer sah ins Wasser.
„Hier ist doch Sandboden?" sagte er.
„Gewiß ist hier Sandboden. Was ist denn dabei?"
„Besser beißen die Fische ja über Klippen und am allerbesten über Korallen."
Stumpfnase verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen.
„Nicht bei dieser Art", sagte er und sah ins Wasser. „Leg dich lang ins Kanu und mach die Augen auf. Siehst du, was da unten auf dem Meeresboden liegt?"
„Es sieht aus wie eine Schildkröte."
„Es ist auch eine Schildkröte, eine von den großen grünen. Halte deine Harpune bereit!"
„Bist du denn ganz närrisch geworden? Glaubst du, ich könnte sie vier Klafter tief harpunieren?"
„Halte die Harpune bereit, hab ich gesagt! Hier hab ich jemand, der es machen wird, daß die Schildkröte in Reichweite deiner Harpune kommt."
Stumpfnase steckte die Hand in das Bündel nasser Zweige und holte einen großen, schleimigen Schildfisch heraus, einen schwarzen Burschen von häßlichem Aussehen, der verzweifelt nach Luft — oder richtiger, nach Wasser schnappte. Der Indianerjunge band seine haltbarste Angelschnur um den Schwanz des Fisches, und zwar etwas vor der Schwanzflosse. Dann ließ er seinen Gefangenen vorsichtig ins Wasser.
Der lange, schmale Fisch sank langsam auf den Boden. Es sah aus, als wäre er tot oder doch wenigstens nicht ganz bei Kräften.
Plötzlich schlug er jedoch mit den Flossen, brachte sich wieder in die richtige Schwimmlage und begann langsam im Kreise zu schwimmen, mit jedem Kreis ein Stück tiefer hinunter.
Schließlich richtete er seinen Kurs geradeswegs auf die Schildkröte, als habe er im Wasser eine Spur gefunden.
Als er die Schildkröte erreicht hatte, begann er sich zwischen ihrem Bauchpanzer und dem Meeresgrund einzuwühlen, bis nur noch die Schwanzflosse hervorsah.
„Halte die Harpune bereit, denn sie wird gleich kommen!" flüsterte Stumpfnase.
Er wartete eine Minute, zwei, drei Minuten — noch länger. Es fiel ihm schwer, seinen Eifer zu zügeln, aber der Schildfisch mußte ja Zeit haben, um sich richtig festzusaugen.
Als der Indianerjunge mit Sicherheit wußte, daß der Fisch wie angeleimt am Panzer der Schildkröte saß, begann er an der Angelschnur zu ziehen, ruhig und gleichmäßig, ohne zu reißen.
Verblüfft sah Läufer, wie die große Schildkröte langsam vom Meeresgrund gehoben und durch das Wasser gezogen wurde, erst mit der einen Seite nach oben, dann auf dem Rücken liegend. Sie schien nicht die geringste Gefahr zu ahnen, sondern schwenkte nur träge ihre breiten Schwimmbeine, um wieder mit dem Rücken nach oben zu kommen. Währenddessen zog Stumpfnase sie herauf und immer näher an das Kanu heran.
Läufer kniete, die Harpune wurfbereit in der Hand. Genau im richtigen Augenblick jagte er seine Waffe ins Wasser. Die Knochenspitze mit den langen, scharfen Widerhaken traf die Schildkröte in den Hals, genau vor der Kante des Rückenpanzers.
Läufer griff nach der Harpunenleine und begann sie aus Leibeskräften zu ziehen.
Anfangs stemmte sich die große Schildkröte mit aller Kraft dagegen. Sie zog das Kanu hinter sich her, und hätte Läufer die Harpunenleine nicht vorn am Kanu angebunden gehabt, dann wäre sie ihm wohl aus den Händen gerissen worden.
Aber die Kräfte des verwundeten Tieres ließen schnell nach. Wenig später konnten die beiden Jungen die Schildkröte in das flache Wasser über einer Sandbank ziehen. Dort sprangen sie aus dem Kanu, schlugen die Schildkröte mit ihren Äxten auf den Kopf und wälzten sie darauf mit vereinten Kräften in das Kanu.
Sie hatten beide gerade noch Platz in dem Fahrzeug. Die Bordkante lag jedoch gefährlich nahe an der Wasserfläche, als sie wieder einstiegen. Glücklicherweise war das Meer noch immer morgendlich glatt und still.
„Ein Glück, daß sie nicht größer war!" sagte Läufer vergnügt. „Das war wirklich der beste Trick, den ich je beim Fischfang gesehen habe. Warte nur, wenn das der Häuptling und der Medizinmann erfahren!" „Was glaubst du, was sie dazu sagen werden?"
Stumpfnases Stimme hatte fast einen furchtsamen Klang.
„Ich weiß schon jetzt, was sie sagen. Es werden ihrer zwei sein, die am Fest des zurückkehrenden Mondes neue Namen erhalten, du wirst sehen. Was für ein Riese von einer Schildkröte! Sie reicht gut für drei richtige Festmahlzeiten — für jeden auf der Insel. Ja. verlaß dich darauf, der alte Großvater Mummel wird mit unserem Morgenfang zufrieden sein. Schildkrötensuppe mit viel Schildkröteneiern ist das Beste, was er kennt."
„Es wäre schön, wenn du recht hättest. Aber die Anregung hatte ich ja eigentlich von dir. Und wenn du das Kanu nicht erfunden hättest, dann wäre mein kleiner Trick wohl nicht viel wert gewesen."
„Doch, auch dann. Man kann ihn ja auch von einem Floß aus anwenden, obwohl es immerhin etwas schneller geht, wenn man in einem Kanu herumfährt und Schildkröten sucht."
Nun waren sie wieder am Ufer angelangt, aber sie mußten Männer zur Hilfe herbeirufen, um die schwere Beute an Land zu bringen.
Auf der Insel fand ein großer Schildkrötenschmaus statt, und danach gingen die Männer noch eifriger an den Kanubau. Nun wollten alle so bald als möglich ausfahren und Stumpfnases neuen Trick ausprobieren.
Der Medizinmann sagte an diesem Tage noch nichts. Aber als die beiden Jungen auch am nächsten Morgen eine Schildkröte fangen konnten, nahm er sie beiseite und meinte: „Morgen früh werdet ihr beide eure Künste Fregattvogel und Lange Lanze zeigen, dann müßt ihr mit euren Vorbereitungen für das Neumondfest beginnen."
Da wußten die beiden Jungen, daß sie bald in die Gemeinschaft der erwachsenen Männer aufgenommen werden sollten, und das ist der stolzeste Augenblick im Leben eines Indianers.