Man sah es den Männern an, daß sie von seinen letzten Worten nicht erbaut waren, aber sie nickten zustimmend.
Sie zogen die Flöße aufs Ufer. Das kleinste wurde entladen. Hierauf steckten die drei Kundschafter ihre Steinäxte in die Gürtel von Agavenfasern, prüften die Spitzen ihrer Knochendolche, nahmen ihre besten Jagdspeere mit scharfen Knochenspitzen an sich und bestiegen das Floß.
Etwa fünfzig Meter von der großen Insel entfernt stellten sie auf ein Zeichen Sägefischs das Paddeln ein. Lange saßen sie reglos auf dem Floß, spähend und lauschend. Schließlich sagte Sägefisch: „Ich kann nichts Gefährliches sehen oder hören, aber es kann ja trotzdem Gefahr auf der Insel lauern. Setz uns da drüben an der Korallenbank an Land, Stumpfnase, und halte scharf Ausschau, bis wir zurückkommen."
Der Junge gehorchte ohne Widerrede. Die beiden Kundschafter sprangen ins Wasser, als dieses ihnen nur noch ein kleines Stück über die Knie reichte, und wateten langsam auf das Ufer zu. Sie hielten die Speere wurfbereit.
Währenddessen trieb Stumpfnase das Floß wieder ins tiefere Wasser.
Als der Häuptling und Läufer glücklich an Land waren, verschwanden sie in den Wald und glitten wie zwei Schatten von Baum zu Baum. Ihre nackten Füße bewegten sich fast lautlos.
Zuerst gingen sie ihren Weg gemeinsam, aber als sie die Insel durchquert hatten und am jenseitigen Ufer das Meer durch die Mangrovendickung schimmern sahen, begaben sie sich auf getrennten Wegen zurück. Ungefähr dreißig Schritt hinter dem Uferdickicht bewegten sie sich ganz langsam und wichen oft zur Seite, um sich einen Gegenstand genauer anzusehen.
Eine halbe Stunde später war Sägefisch fast genau wieder an der Stelle, wo sie den Wald erstmalig betreten hatten. Er stand zwischen zwei dicken Baumstämmen verborgen und ließ so etwas wie ein leises Zischeln vernehmen.
Fast im gleichen Augenblick bekam er Antwort. Läufer war ebenfalls zurück.
„Nun, was hast du gesehen?" fragte der Häuptling.
„Keine Spur von Menschen oder gefährlichen Tieren. Keine Schlangen, kein Wild, überhaupt keine Landtiere außer kleinen Eidechsen. Doch Spuren großer Seeschildkröten draußen auf den Sandbänken. Es sieht so aus, als kämen diese in der Nacht dorthin, um ihre Eier zu legen. Ein Teil der Spuren war noch ganz frisch."
Läufer kratzte sich heimlich auf dem Rücken und sagte noch: „Ziemlich viele Moskitos und Sandfliegen."
Sägefisch nickte.
„Ich habe das gleiche gesehen wie du", sagte er, „auch einen kleinen Teich mit Regenwasser zwischen einigen Korallenklippen. Reines, süßes Wasser. Es ist nicht viel, aber es dürfte für uns alle reichen, wenn es hier ebenso oft regnet wie auf dem Festland."
„Du hast das Beste gefunden, Häuptling", sagte Läufer. „Wollen wir nun zurückgehen?"
Gemeinsam wateten sie in das seichte Wasser und winkten Stumpfnase, damit er das Floß näher heranpaddelte.
Von der kleinen Insel her war ein Freudenschrei zu vernehmen.
Es war ja klar, daß keinerlei Gefahr drohte, wenn der Häuptling das Floß bis an den Strand herankommen ließ.
Der Jubel wurde noch lauter, als Sägefisch die Hände wie ein Horn geformt vor den Mund hielt und ein einziges Wort rief: „Ti!" Das bedeutete in der Sprache der Bocaná-Arowaken soviel wie „Süßwasser".
Der alte Großvater Mummet betrat das größte Floß, und ihm folgten die meisten Frauen und Mädchen mit soviel Tonkrügen und Kalebassenflaschen, wie sie nur hatten. Viele Kinder schlossen sich ihnen an, um ihren Durst einmal so richtig zu stillen.
Sägefisch zeigte ihnen den Weg zu dem Süßwasserteich, aber als der Medizinmann ihn erblickte, schüttelte er den Kopf und sagte: „Gut, Häuptling, aber wir müssen mit dem Süßwasser haushalten und unser Essen wenigstens zum Teil in Meerwasser kochen, sonst haben wir vielleicht nicht genug zu trinken, wenn eine lange Trockenzeit eintritt. Und es wird wohl das beste sein, wir bleiben vorerst noch auf der kleinen Insel, denn von ihr aus können wir leicht nach allen Seiten Ausschau halten. Sollten Feinde kommen, dann werden wir sie rechtzeitig sehen und können uns noch in Sicherheit bringen."
Läufer sah den Alten fragend an. Man merkte deutlich, daß er etwas auf dem Herzen hatte.
Jetzt wagte er damit noch nicht herauszurücken, aber als die Frauen mit dem Wasser zurückgefahren waren, näherte er sich zögernd dem Alten.
„Sag doch, Großvater, warum muß denn unser Volk immer vor den Kariben fliehen?" fragte er. „Warum können wir nicht bleiben und kämpfen, so daß ihnen die Lust vergeht, uns zu verfolgen?"
„Du redest, wie du es verstehst, Bürschlein!" fauchte der Alte verdrossen. „Sie haben ihre schnellen Kanus, und wir haben nur Flöße, die sich schwer paddeln lassen. Sie haben Bogen und Pfeile, die auf viel größere Entfernungen töten, als wir den Jagdspeer schleudern können."
Läufer schwieg eine Zeitlang und überlegte.
„Sei mir jetzt bitte nicht böse, Großvater", bat er schließlich. „Ich möchte nur wissen, warum wir nicht auch Kanus und Bogen und Pfeile anfertigen, so daß wir uns verteidigen könnten?"
Der alte Medizinmann setzte eine nachdenkliche Miene auf. Er hielt nicht viel von Veränderungen, sondern sah es am liebsten, wenn alles so blieb, wie er es gewohnt war. Aber gleichzeitig war er gerecht, und er mußte ja zugeben, daß in Läufers Worten viel Vernünftiges lag.
„Kanus vielleicht — könnte sein —, das wäre eine gute Sache — wenn wir nur dahinterkommen würden, wie sie gemacht sind. Aber Bogen und Pfeile? Auf keinen Falll Wir wissen ja nicht einmal, was das für Dinger sind, denn keiner von uns hat sie je aus der Nähe gesehen. Vielleicht können diese nur die bösen Zauberer der Kariben machen. Nein, Taj bewahre uns davor, daß wir uns mit solchen Künsten befassen!"
Läufer gebärdete sich nicht eigensinnig, sondern schwieg und ging seines Weges.
Alten Leuten widersprach man nicht, und erst recht nicht dem Medizinmann. Das war bei den Bocaná-Arowaken nicht üblich und auch bei den anderen Stämmen nicht. Vor allem aber dann nicht, wenn man noch ein Junge war, der noch nicht einmal seinen richtigen Namen bekommen hatte.
Aber denken — das durfte man doch wohl auf jeden Fall? Sich Gedanken über etwas zu machen war übrigens eine der Lieblingsbeschäftigungen Läufers.
Wenn er bloß dahinterkommen könnte, wie die Kariben verfuhren, wenn sie einen Bogen anfertigten! Aber Großvater Mummel hatte schon recht: die Arowaken, die einem Karibenkrieger so nahe gekommen waren, daß sie sehen konnten, wie sein Bogen beschaffen war — die waren nicht zurückgekehrt, um es den anderen zu erzählen.
Das Gerede von der Zauberei nahm Läufer nicht weiter ernst. Natürlich glaubte er an Beschwörungen und Zauberformeln, an Geistertänze und den Tod aus der Ferne. Aber darauf verstanden sich nur große Medizinmänner, und die elenden Kariben konnten ja doch nicht alle Medizinmänner sein!
Soweit war er gerade mit seinen Gedanken gelangt, als er den alten Großvater Mummel nach der kleinen Insel zurückpaddelte.
Als sie getrunken hatten, rief Sägefisch: „Nun machen sich alle daran, etwas zu essen herbeizuschaffen! Die Männer fischen, die Frauen sammeln Muscheln und backen Casabebrot, die Kinder tragen Holz zusammen 1"
Da kam Bewegung in die Indianer. Nun, da sie ihren Durst gelöscht hatten, merkten sie plötzlich, wie hungrig sie nach der langen Fahrt eigentlich waren.
Einige Männer standen bald bis an die Hüften im Wasser und angelten. Ihre Angelhaken bestanden aus Knochen oder Muschelschalen, und die Leinen aus fein gezwirnten Agavenfasern. Als Köder nahmen sie Muscheln oder Krabben, die sie in Tümpeln am Strand gefunden hatten, oder die drolligen Einsiedlerkrebse, die in den Korallenklippen in Löchern lebten.
Die Frauen füllten ihre Körbe mit einer Art der Strombus-Schnecken, die es schon in einer Tiefe von einem Meter zu Hunderten gab. Nachdem sie die Schnecken an Land getragen hatten, zerschlugen sie die Gehäuse mit Keulen und schnitten den Schneckenfuß heraus, der dick und fleischig war. Er wurde alsdann mit Knüppeln mürbe geklopft und lange mit Sorgfalt gewaschen, damit er völlig frei von Sand war. Darauf kochten einige Frauen aus den Schnecken sowie den Bataten und anderen Wurzelknollen, die sie vom Festland mitgebracht hatten, eine Suppe. Sie würzten dieselbe mit getrockneten Kräutern. Andere brieten Fische auf der Glut oder an kleinen Holzspießen, sie räucherten Fische auf Rosten von Zweigen, auf die sie eine Schicht großer Blätter gelegt hatten.
Einige von den Frauen hatten Körbe mit Maniokwurzeln mitgebracht. Sie schälten nun die Wurzeln und rieben sie auf einer Art von Reibeholz. Mit einer Hebelvorrichtung preßten sie den Saft aus der geriebenen Wurzelmasse. Darauf spülten sie diese im Wasser und preßten sie nochmals aus. So entfernten sie den bitteren, giftigen Saft. Nicht alle Maniokarten sind giftig, aber diese war es.
Schließlich trieben sie die Masse zu dünnen Fladen aus, die sie in flachen Tonformen oder auf flachen Steinen am Rande der Feuerstätte buken. Daraus wurde das Casabebrot, und dieses Brot bildete einen Teil der gewohnten Speise der Indianer.
Feuer machte man, indem man einen Stab aus hartem Holz in einem weicheren Holzstück bohrend drehte. Man ließ den Stab äußerst schnell zwischen den Handflächen tanzen, und seine Spitze stand in einem Loch des weichen Holzes. Von diesem Loch führte eine Rinne an den Rand des Holzstücks, und in dieser lag trocknes Holzpulver. Wenn man einige Zeit gebohrt hatte, fing der Rand des Bohrlochs an zu rauchen, und bald bildete sich Glut, die dann Gras oder fein zerpflückten Holzschwamm entzündete.
Es war dies natürlich eine ziemlich beschwerliche Art, Feuer zu machen. Es gehörte große Übung dazu, und außerdem mußte man die richtigen Holzsorten haben. Aber da die Bocaná-Indianer keine andere Art des Feuermachens kannten, mußten sie sich mit dieser begnügen. Gewöhnlich führten sie glühende Holzstücke und ein „Bett". von Holzkohlen mit, wenn sie sich auf einer längeren Reise befanden, aber diesmal war die Warnung vor den Kariben so plötzlich gekommen, daß keine von den Frauen Zeit genug gehabt hatte, den „Feuertopf" richtig fertigzumachen. Die Feuergluten bekamen während der langen Paddelfahrt Meerwasserspritzer ab und waren erloschen, da alle zu müde und zu durstig gewesen waren, um sie richtig zu warten und dem Feuer rechtzeitig neue Nahrung zu geben.
Am frühen Nachmittag war das Essen fertig, und nun holten die Indianer nach, was sie entbehrt hatten. Fast drei Tage und drei Nächte hatten sie nichts Richtiges mehr gegessen, die kleinen Kinder ausgenommen, so daß sie jetzt großen Hunger hatten.
Sehr langsam und vorsichtig begannen sie zu essen, immer nur einige Rissen, damit sie nicht krank wurden. Dann warteten sie ein Weilchen, um dann richtig mit dem Essen zu beginnen.
Alle, außer dem Häuptling, dem Medizinmann und einigen anderen Männern, stopften sich allmählich voll mit Fischen, Schnecken und Casabebrot. Sie aßen nicht hastig oder gierig, aber sie aßen gründlich.
Hierauf legten sich die meisten von ihnen in den warmen weißen Sand unter den Mangrovenbüschen, um zu schlafen. Manche knüpften Hängematten zwischen die stärkeren Bäume. Auf der Insel gab es davon nur einige wenige. Sonst bestand sie aus Buschland, Korallen-I eisen und freien Sandflächen.
Von dem jungen Volk hielt nur Läufer kein Mittagschläfchen. Er hatte auch bei weitem nicht soviel gegessen wie die anderen.
Jetzt ging er quer über die Insel an das andere Ufer hinüber, setzte sich an der Wasserlinie auf einen Korallenblock und schaute über das Meer, in die Richtung, in der das Festland lag.
Man sah es seiner gefurchten Stirn an, daß er über ein schweres Problem nachdachte.
Es war nun einmal so mit Läufer, daß er über alles grübeln mußte. Die meisten Menschen finden sich damit ab, die Dinge mehr oder weniger so hinzunehmen, wie sie kommen, aber das war ihm nicht gegeben. Er gehörte zu den Menschen, die alles durchdenken mußten und stets zu ergründen suchten, warum etwas so und nicht anders war, und die sich ständig fragten, ob man dies oder jenes nicht anders und besser machen könne.
Nach einiger Zeit sprang er von dem Block und fing an, zwischen den Treibholzstücken herumzusuchen, die die Wogen an den Strand geworfen hatten. Ein Holzstück nach dem anderen wandte er um und betrachtete es von allen Seiten.
Die meisten warf er daraufhin wieder weg, aber einige legte er nebeneinander auf eine flache Felsenklippe.
Nach einiger Zeit ging er zurück und sah sich das Holz immer wieder an. Zuweilen schloß er die Augen und stand völlig reglos da, als versuche er, sich an etwas zu erinnern oder sich etwas vorzustellen.
Vor einigen Monaten hatte er nach einem schweren Sturm fünf Kilometer von seinem Heimatdorf entfernt auf einer Sandbank das angetriebene Wrack eines Kariben-Kanus gefunden. Es war unbrauchbar und wies am Boden zwei gähnende Löcher auf, aber die Form hatte es noch, und die Form war es ja gerade, die er suchte.
Den ganzen Abend und die halbe Nacht hatte er damals wach gelegen, nach dem Palmenblätterdach der Hütte gestarrt und zuweilen die Augen geschlossen und das Kanu so zu sehen versucht, wie es sein mußte. Schließlich war er eingeschlafen und hatte von einem fertigen Kanu geträumt — und war von der Brandung geweckt worden, die draußen wie Donner dröhnte.
Er spürte den Herzschlag bis zum Halse, als er zu der Sandbank gerannt war, wo der Schatz gelegen hatte.
Doch die Sanddüne gab es nicht mehr, und das Meer hatte seine Leihgabe zurückgenommen. Mächtige Brecher schlugen weit den Strand herauf.
Aber die Form war Läufer im Gedächtnis haftengeblieben, und nun galt es nur noch, ihr Ausdruck zu geben, etwas Wirkliches aus ihr zu machen.
Jenes weiche Stück Caracoliholz, das er eben auf die Felsklippe gelegt hatte, ähnelte dieser Form. Wenn er ein bißchen daran herumschnitzte, würde sich die Form vielleicht zeigen und so gestalten lassen, wie sie sein mußte.
Läufer begann nach einer scharfen Muschelschale zu suchen, die er als Messer verwenden konnte. Eine solche fand er bald, und er begann damit an dem Holz zu schnitzen. Die Muschel war jedoch dünn und ließ sich nur mit Mühe festhalten. Er konnte dem Schnitt keine Kraft verleihen. Nun, dann mußte er eben einen Griff daran machen, um richtig schnitzen zu können.
Nachdem er einige Schnitte an einem elastischen Mangrovenzweig angebracht hatte, gelang es ihm, diesen abzubrechen. Es war guter Werkstoff, hart und zäh. Er bog ihn um die Muschel und begann ihn mit einer Faserschnur festzubinden. Auf diese Art pflegten die Arowaken ihre Steinäxte am Stiel zu befestigen.
Er war so in seine Beschäftigung vertieft, daß er dabei am Strand auf und ab zu gehen begann, ohne zu grübeln.
Da ertönte dicht über seinem Kopf ein scharfer Schrei.
Läufer wandte den Blick nach oben. Eine Raubseeschwalbe, die ihre Jungen am Strand zwischen Muscheln und Treibholz versteckt hatte, stieß wütend auf ihn herab. Unwillkürlich wich er zur Seite.
Im selben Augenblick geschah etwas. Die halbfertige Umwicklung löste sich, als er den Daumen von ihr nahm. Der federnde Zweig rich tete sich gerade und schleuderte die Muschelschale mehrere Meter weit.