Beide Bogensehnen ließen die Pfeile gleichzeitig davonschnellen. Der Fackelträger machte eine halbe Umdrehung und fiel dann steif der Länge nach ins Wasser. Der andere Karibe ließ den Bogen fallen und sank in die Knie. Mit ein paar langen Sätzen war Haifischzahn bei ihm, hob die Steinaxt und schlug zu.
Springende Schritte näherten sich oben auf der Sandbank. Sägefisch, Grauer Reiher, Feuersteinherz und mehrere Eisvogelmänner tauchten aus dem Dunkel.
„Was ist geschehen?" fragte der Häuptling erregt.
„Zwei Kanus", antwortete Haifischzahn. „Sie kamen aus dem Dickicht drüben an der Flußbiegung. Wir hielten Ausschau über die See und über den Strand. Wir konnten ja nicht ahnen, daß die Kariben vom
Sumpf her kommen würden. Daher sahen wir sie erst, als sie ganz nahe bei uns waren. Da warnten wir euch, aber sie hatten uns schon gesehen und schossen auf uns. Mein Kamerad wurde getroffen. Ich blieb ruhig stehen, bis der erste an Land sprang. Da schoß ich einen Pfeil auf ihn ab und rannte los, um euch zu warnen."
„Haifischzahn kam in den Büschen auf mich zugerannt", fuhr Adlerauge fort. „Die Kariben stießen auf Otter und nahmen ihn gefangen. Sie fuhren in zwei Kanus in die Lagune hinein und nahmen ihn und noch einen Gefangenen mit. Zwei Wachen blieben zurück Sie sind nicht mehr am Leben."
„Sind die Kanus in den Wald-der-im-tiefen-Wasser-wächst gefahren?" fragte einer der älteren Eisvogelmänner mit bedrückter Stimme. „Dann sehen wir unseren Häuptling niemals wieder. Dann bringen sie ihn zum Opferplatz."
Haifischzahn verharrte einige Minuten in Schweigen. Dann nickte er und sagte: „Es ist das wahrscheinlichste. Wenn wir uns beeilen, können wir noch vor ihnen dort sein."
„Das scheint mir unmöglich", stieß Sägefisch hervor. „Die Kariben haben doch einen erheblichen Vorsprung."
„Ja, aber sie müssen einen großen Bogen fahren, denn ihre Kriegskanus liegen tief und können nicht über die Sandbänke. Schnell, wir lassen uns die Kanus des Lagunenvolkes geben und machen uns auf den Weg!"
„Der junge Krieger hat recht!" sagte einer der Eisvogelmänner eifrig. „Es gibt einen kürzeren Weg, der nur mit unseren Kanus befahrbar ist. Aber wer wagt es denn, mit Kariben zu kämpfen?"
„Wir!" antwortete Sägefisch grimmig. „Otter ist der Freund der Arowaken. Kommt, Krieger! Wenn kein anderer fährt, dann fahren wir."
Die Eisvogelmänner sahen sich einen Augenblick lang an. Von sich aus hätten sie es vielleicht nicht gewagt, aber die Entschlossenheit der Arowaken verlieh ihnen Mut.
„Wir folgen dir", sagte der älteste von ihnen zu Sägefisch. „Du bist unser Häuptling, bis die Sonne aufgeht."
„Dann schnell in die Kanus!“
Einige Minuten später glitten fünf lange, schmale Kanus durch die stockfinsteren Mangroven nach dem Opferplatz der Kariben. Die Männer, die darin saßen, waren zum Äußersten entschlossen.
Der Mond war aufgegangen. Sein Licht drang hier und da durch die kleinen Ritzen in dem Dach von Zweigen und malte helle Flecken auf rauhe Baumstämme und schwarzes Schlammwasser.
Der Mangrovenwald lag in großer Dunkelheit, nur die Lichtung mit der großen Schlammbank sah man im hellen Mondschein. Sie war gute hundert Meter lang und vielleicht sechzig Meter breit. Unmittelbar am Waldrand war tieferes Wasser, und in der Mitte befand sich eine kleine, längliche Insel, die sich vielleicht zwei Handbreit über die Oberfläche des Sumpfes erhob.
Mitten auf der Insel stand ein nacktes, verwittertes Baumgerippe und reckte seine morschen Aststummel in den Himmel.
Nach waghalsiger Fahrt quer durch den Mangrovenwald langten die fünf Kanus dort an. Da sie den größten Teil der Fahrt ohne Licht zurücklegen mußten, waren sie gegen Wurzelgewölbe gerannt und über eingesunkene Stämme gerutscht; manchmal hatten sie sich durch Gewölbe von hängenden Zweigen schieben müssen. Mehrmals war ein Kanu dem Kentern nahe gewesen. Eins war halb voll Wasser geschlagen.
Nun waren sie jedenfalls am Ziel. Drei lagen auf der einen Seite des Wasserweges und zwei auf der anderen, gut hinter den Wurzelgewölben verborgen.
Die Männer wußten, daß die Kariben nur die tiefe Wasserrinne entlangkommen konnten. Ihre großen Meerkanus lagen zu tief, so daß sie nicht über die Schlammbänke gleiten konnten.
Daher hatte Sägefisch seine Schar so eingeteilt, daß sie die tiefe Wasserrinne beherrschte. Die meisten waren aus den Kanus in das Wurzelgewölbe oder auf dicke Äste gestiegen, um ungehindert Pfeile abschießen und Speere werfen zu können.
Feuersteinherz und Grauer Reiher hatten einen schräg geneigten Baumstamm unmittelbar über der Wasserrinne erklommen, und Haifischzahn saß nur einige Armlängen von ihnen entfernt auf einem Ast.
Nun warteten sie in atemraubender Spannung.
Zwei Lichtpunkte tauchten weit hinten in dem Sumpfwald auf. Langsam kamen sie näher. Die Kariben hatten keine Eile.
Die im Hinterhalt liegenden Indianer rührten kein Glied. Ihr Plan war gefährdet, wenn sie zu früh entdeckt würden.
Endlich waren die beiden Kanus bei ihnen angelangt. Eins von ihnen hielt direkt unter dem schräg liegenden Baumstamm. Die Arowaken auf dem Baum konnten nicht begreifen, wie es möglich war, daß die Kariben sie nicht sahen. Die Erklärung war ziemlich einfach. Die vier Krieger saßen in ihrem Kanu und starrten dem zweiten Gefährt nach, das seine Fahrt zu der Schlammbank fortsetzte.
Am Bug des großen Kanus stand ein runzliger alter Karibe in einem seltsamen Aufputz. Er war von Kopf bis Fuß bemalt und mit Halsketten, Knöchelketten und Armbändern von Raubtierzähnen und Raubtierklauen behängt. An seinem Gürtel baumelten trockne, raschelnde Häute von Lanzenschlangen und Klapperschlangen, und auf dem Kopf trug er eine wunderliche Haube, so bemalt und geformt, daß sie dem Kopf eines Krokodils ähnelte.
Vier weitere Kariben paddelten, einer saß am Heck und steuerte. Am Boden des Kanus lagen zwei Gefangene. Sie waren an Händen und Füßen gefesselt. Der eine davon war Otter. Der andere war groß und schlank und hatte eine hellere Haut. Er sah aus wie ein Arowake. Das Kanu hielt am Rand der großen Schlammbank. Die Füße der Gefangenen wurden von den Fesseln befreit und die Gefangenen gezwungen, aufzustehen und aus dem Kanu zu steigen. Der Schlamm ging ihnen bis über die Fußgelenke. Langsam und zögernd gingen sie höher auf die Schlammbank hinauf, wo der Boden fester war. Ihre Hände waren nach wie vor gebunden.
Der Zauberer mit den Schlangenhäuten warf den Kopf zurück und ahmte vortrefflich das Brüllen eines Krokodils nach. Es verging kaum eine halbe Minute, bis ein gleiches Gebrüll aus dem Sumpfwald antwortete.
Da wandte sich der Alte der Richtung zu, aus der die Stimme kam, und sagte so laut, daß Haifischzahn jedes Wort hören und verstehen konnte: „Der Medizinmann der Kariben grüßt die Mächtigen im Sumpf. Mögen die Mächtigen die Gaben der Kariben verschlingen und dafür ihren Kriegern Kraft und Klugheit verleihen, so daß sie alle ihre Feinde besiegen und Herren der Welt werden!"
Dann wurde das Kanu abgestoßen und kehrte in die Fahrrinne zurück.
Die beiden auf der Schlammbank zurückgelassenen Männer wechselten einige Worte. Darauf ließ sich Otter auf die Knie nieder und begann in die Handfesseln seines Kameraden zu beißen.
Das Kanu des Zauberers war soeben unter den hängenden Zweigen angelangt, da ergriffen die Krieger des zweiten Kanus die Paddel. Der Rauch der Fackeln stieg hinauf bis an das Blätterdach.
Da geschah plötzlich etwas Unerwartetes. Aus den Ästen, die sich unmittelbar über dem Kanu befanden, hörte man plötzlich jemand kräftig niesen.
Die Kariben ließen die Paddel fahren und spähten nach allen Seiten. Mehrere von ihnen griffen nach ihren Bogen.
Da ertönte aus einem Wurzelgewölbe dicht neben ihnen Sägefischs Stimme: „Los!"
Der Kampfruf der Eisvogelmänner hallte durch den Sumpfwald, und die Arowaken stimmten ein.
Ein Regen von Speeren und Pfeilen ging auf die überraschten Kariben nieder. Der Zauberer und die meisten Männer in seinem Kanu merkten davon nichts mehr.
Die Kariben im zweiten Kanu waren gelinder davongekommen. Nur einer von ihnen war tot, ein zweiter verwundet. Die beiden Unverletzten sandten ihre Pfeile aufs Geratewohl in das Dunkel. Dann griffen sie nach den Paddeln, um das Kanu in Fahrt zu bringen, aber es war zu spät. Drei schwere Körper fielen auf sie herab. Grauer Reiher, Feuersteinherz und Haifischzahn waren aus ihren Verstecken heruntergesprungen.
„Fackeln anbrennen!" donnerte Sägefischs Stimme durch das Kampfgeschrei.
Von den beiden Fackeln der Kariben war eine ins Wasser gefallen. Die andere lag im Kanu des Zauberers und brannte schwach. Jetzt flammten die Kienfackeln der Eisvogelmänner an mehreren Stellen gleichzeitig auf, und ihre langen, schmalen Boote kamen pfeilschnell aus dem Dickicht geschossen.
Der Kampf war schon vorüber. Alle Kariben waren tot, bis auf einen Krieger, den Grauer Reiher und Haifischzahn niedergeschlagen und gebunden hatten. Feuersteinherz saß am Heck des Bootes und hielt seine linke Schulter, wo ihm ein Messer eine böse Wunde beigebracht hatte. Einer der Eisvogelmänner war von einem aufs Geratewohl abgeschossenen Pfeil am Bein getroffen worden. Das waren die einzigen Verwundeten der Sieger.
Aber wo war Adlerauge? Er war nirgends zu sehen — und eins von den fünf Kanus vom Schilfsee war auch verschwunden.
Da ertönte von der kleinen Insel her ein Schrei: „Hilfe!"
Alle wandten den Blick dorthin.
Auf der höchsten Erhebung der Schlammbank standen Otter und der Fremde. Otter hatte die Hände des Fremden von den Fesseln befreit, und jetzt versuchte dieser, Otter zu helfen. Auf halbem Weg zwischen dem Wald und der kleinen Insel sahen sie Adlerauge im vermißten Kanu. Er paddelte aus Leibeskräften, so daß der Schaum aufspritzte. Aber das war nicht alles, was sie entdeckten.
Etwas, das aussah wie ein knorriger Baumstamm, bewegte sich langsam und schwerfällig in dem Schlamm am Ufer der kleinen Insel. Ein riesenhaftes Krokodil war im Begriff, an Land zu steigen.
Jetzt war das Untier auf der Insel und schob sich langsam und gemächlich auf die beiden Männer zu.
Sägefisch und seine Begleiter packten alles, womit sie nur irgendwie paddeln konnten, und steuerten, so schnell es ging, ihre Kanus auf die Insel zu. Aber würden sie dort noch rechtzeitig ankommen, um die Freunde zu retten?
Alle wußten, daß das Krokodil jeden Augenblick mit ungeahnter Schnelligkeit vorwärts schnellen und angreifen konnte.
Und das tat es auch — gerade in dem Augenblick, als Adlerauges Kanu die Schlammbank erreichte.
Otter und der Fremde sprangen zur Seite, um dem Untier auszuweichen. Dem aufgesperrten Rachen zu entgehen war nicht so schwer, aber der kräftige Schwanz des riesigen Krokodils fegte wie eine Sense nach allen Seiten und hätte fast Otters Bein gestreift. Traf ein solcher Schlag, dann genügte er, um einen Mann kampf- oder fluchtunfähig zu machen.
Das Untier hielt jäh inne, machte eine plumpe Wendung und starrte die beiden Männer mit bösartigen, fahlgrünen Augen an. Jeden Augenblick konnte es wieder angreifen.
Adlerauge sprang aus dem Kanu, spannte seinen Bogen und schoß. Der Pfeil prallte wirkungslos von einer der Hornplatten ab, die den Rückenpanzer des Reptils bildeten.
Im selben Augenblick wechselte Otter die Stellung. Es war nur eine ganz unbedeutende Bewegung, aber sie genügte, um einen neuen Angriff des Krokodils auszulösen. Wäre der Häuptling des Volkes vom Schilfsee nicht so gewandt gewesen, dann hätte er dem Tier nicht mehr ausweichen können. Seine langen Kiefer knallten kaum eine Handbreit hinter Otters Fersen zusammen.
Ein neuer Pfeil von Adlerauges Bogen traf das Krokodil in die Seite. Die scharfe Spitze drang tief in den Körper ein, aber das schien dem Untier nicht das geringste auszumachen. Als Otter einen Schritt auf den abgestorbenen Baum zu tat, erfolgte der nächste Angriff.
Um Haaresbreite wäre er dem Tier geglückt. Nun befand sich das Krokodil zwischen dem Häuptling und dem Baum.
Adlerauge begriff, daß die Frist, um Otter und dem Fremden helfen zu können, fast abgelaufen war. Er wußte nun auch, daß er mit seinen Pfeilen gegen das Krokodil so gut wie nichts ausrichten konnte. Gab es denn keine andere Waffe, die der Sumpfdrache scheute?
Doch, eine vielleicht: Feuer! Ein Tonkrug mit Glut stand im Kanu, und daneben lagen mehrere Kienfackeln.
Adlerauge sprang in das Kanu, ließ Pfeil und Bogen fallen und steckte eine Fackel in den Feuerkrug. Das Kienholz war mit schwarzem Wachs bestrichen und fing augenblicklich Feuer. Adlerauge hob die Fackel und schwenkte sie über dem Kopf, damit sie heller brannte. Dann rannte er über die Schlammbank, den Bedrängten entgegen.
Der junge Fremdling war im Augenblick nicht in Gefahr. Während das Krokodil den Häuptling des Eisvogelvolkes bedrängte, hatte er den Baum erreicht und kletterte jetzt gerade hinauf.
Mit Otter stand es schlimmer. Das Krokodil verharrte die ganze Zeit zwischen ihm und dem Baum. Bei jedem Versuch, auf den Baum zu entkommen, konnte ihn das riesige Untier packen. Fuß um Fuß glitt
das Krokodil näher an sein Opfer heran. Wenn Otter noch einige Meter zurück gedrängt wurde, dann hinderte ihn der Schlamm in seinen Bewegungen, und dann . . .
Schritt für Schritt mußte sich der Häuptling in den zähen Schlamm zurückziehen.