11

Sie trat herein und grüßte mit gezwungenem Lächeln. Etwas beschäftigte sie, soviel war klar. »Sie sind nicht wie sonst!«

Sie blickte sich in dem Raum um, alles genau prüfend. »Was fehlt Ihnen?«

»Ich habe wichtige Dinge verloren.«

»Hier?«

»Ich hatte sie bei der gestrigen Sitzung bei mir.«

»Worum handelt es sich?«

»Um ein Notizbuch und eine unbedeutende Geldsumme.«

»Sind Sie sicher, daß Sie sie hier verloren haben?«

»Ich bin nicht ganz sicher.«

»Amm Abduh fegt den Raum jeden Abend, und den Kehricht holt die Müllabfuhr morgens ab.« Sie setzte sich in einen Sessel.

»Sollten sie gestohlen worden sein, dann wäre zu überlegen, warum der Dieb nicht die ganze Tasche stahl, warum er nur das Notizbuch nahm und die Börse liegenließ.«

»Vielleicht ist es Ihnen herausgefallen?«

»Alles ist möglich.«

»Ist es ein großer Verlust?«

Noch bevor sie ihm antworten konnte, erbebte das Hausboot und Stimmen waren zu vernehmen. Sie bat ihn rasch, dieses Thema zu vergessen und kein Wort darüber zu verlieren. Sie sagte es, während sie auf ein Sitzkissen hinüberwechselte. Die Freunde traten nach und nach herein, bis die Versammlung vollständig war. Anis widmete sich der Wasserpfeife voller Energie und Begierde. Er war noch ungewöhnlich nüchtern, infolgedessen regten sich in ihm diabolische Gelüste. Er wagte einen lauernden Blick auf Sammara.

»Es ist nun erwiesen, daß Sie nur so früh hierherkommen, um Anis allein zu treffen!« wandte sich Mustafa an sie. »Meinen Sie nicht auch, daß er mein Traumjüngling ist?«

»Wir sind Jünglinge, aber in den Vierzigern«, sagte Ahmad Nasr. Ohne gerufen zu sein, erschien Amm Abduh neben dem Wandschirm.

»In Imbaba ist ein Hausboot gesunken«, meldete er. Kaum interessiert wandten sich ihm die Köpfe zu. »Ist jemand ertrunken?« fragte Ahmad Nasr. »Nein, aber die gesamte Einrichtung ist untergegangen.«

»Es fehlt uns an Einrichtung, nicht an Personen.«

»Die Bereitschaftspolizei ist gekommen.«

»Die Sittenpolizei hätte auch kommen sollen.«

»Aus welchem Grund sinkt ein Hausboot?« fragte Laila. »Die Unachtsamkeit des Wächters ist daran schuld«, antwortete der Alte.

»Nein, es ist der Zorn des Barmherzigen auf die Bewohner«, sagte Khalid Azzuz. Sie bekräftigten seine Feststellung und widmeten sich wieder der Wasserpfeife. Als Amm Abduh sich zurückgezogen hatte, erzählte Ali as-Sayyid: »Ich träumte eines Nachts, ich sei so groß und breit wie Amm Abduh geworden.«

Anis brach sein gewohntes Schweigen: »Das ist, weil du in Träume und in die Sucht fliehst.« Lachend begrüßten sie seinen Kommentar. »Und wovor fliehe ich, Vormund?« fragte Ali. »Vor der Leere.«

Als das Lachen verebbte, fügte er hinzu: »Ihr seid allesamt moderne Schurken, die sich in die Sucht und in falsche Träume flüchten.«

Er vermied es, Sammara anzublicken. Sein Dämon lachte lauthals.

Die Kommentare überstürzten sich: »Endlich hat er den Mund aufgetan.«

»Es ist die Geburtsstunde eines Philosophen.« Er wurde nun zum Mittelpunkt. Mustafa fragte: »Was denkst du über mich?«

»Einer, der in die Sucht und in das Absolute flieht, verfolgt vom Gefühl der Leere.«

Er unterschied das Lachen Sammaras im allgemeinen Gelächter, aber er vermied es, sie anzublicken. Er stellte sich ihre geheime Unruhe vor, er stellte sich ihr Gesicht vor und ihre Gedärme, und er fuhr fort:

»Wir sind alles Lumpen ohne Moral, verfolgt von einem fürchterlichen Gespenst, das Verantwortung heißt.« Ragab nahm den Faden wieder auf:

»Die Chronik unseres Hausboots soll in dieser Nacht beginnen.«

Mustafa Raschid sagte:

»Ich wette, daß der erlesene >Stoff< von heute nacht aus Moskau hergeschmuggelt wurde.«

»Anis, Philosoph«, fragte Khalid, »was meinst du zu mir und zu Laila?«

»Du bist ein degenerierter Bohemien, weil du ohne Glauben bist, vielleicht bist du auch ohne Glauben, weil du ein Bohemien bist. Laila aber ist eine falsche Pionierin, dekadent und süchtig, und kein Opfer, wie sie sich einbildet.«

»Daß dir die Worte im Hals steckenbleiben!« schrie Laila. Er zeigte auf Saniya Kamil: »Und du, du treibst Polygamie, du Süchtige!«

»Verrückter!«

»Nein, ich bin nur halbverrückt und halbtot.«

»Wie kannst du solche Frechheiten wagen?« Ali as-Sayyid beschwichtigte:

»Bist du tatsächlich böse, Saniya, er ist unser Vormund.«

»Ich dulde keine Beleidigung vor Fremden.«

Allgemeine Verdrossenheit drohte die gute Laune zu verderben, aber Ragab sagte nachdrücklich:

»Es gibt keine Fremden unter uns, Sammara ist eine von uns.« Laila unterbrach ihn:

»Tatsächlich ist sie eine von uns, aber sie gehört allein zu dir.«

»Nein«, entgegnete jetzt Anis, »sie kümmert sich nicht um einen Mann, der sich vor seiner Hohlheit in Rausch und Sexualität flüchtet.«

Ragab schrie belustigt: »Eine schöne Nacht, Freunde!«

»Wer möchte wohl glauben, daß du der schweigsame Anis bist.«

»Der liest wohl gerade ein Buch über den Verfall der Zivilisation.«

In meinem Bauch liegt noch eine Bombe, die ich für den Generaldirektor aufhebe. Das brodelnde Lachen in mir soll sich beruhigen, damit ich die Dinge sehen kann. Sind die Ketten, die unser Hausboot am Ufer festhalten, gerissen? Der Vollmond liegt auf der Lauer, um gegen die morsche Balkontür anzustürmen. Was die Mücke betrifft, so hat sie endlich das Geheimnis ihrer tödlichen Leidenschaft für das Licht der Lampe begriffen. Ragab wandte sich an Sammara: »Sie sind nicht in bester Verfassung!« Matt erwiderte sie, ohne Saniya anzublicken: »Das ist der Zustand einer Fremden.«

»Nein, Saniya ist eine gutherzige Frau, eine fürsorgliche Mutter, auch in der Liebe.«

»Vielen Dank, du kannst mich am besten bei Schwester Sammara entschuldigen«, sagte Saniya versöhnlich. Khalid Azzuz wandte ein:

»Übertreibt es nicht mit dem Friedenschließen, sonst wird uns die Langeweile überkommen.«

Nur das Glucksen des Wassers war zu hören. Die Geräusche verloren sich im Mondschimmer. Sein pulsendes Blut sagte ihm, daß der Schlaf in dieser turbulenten Nacht schwierig sein und daß er wach liegen würde wie die leidenschaftlich Liebenden, jedoch ohne Liebe. Er war bemüht, sich ein paar Verse der genialen Wahnsinnigen ins Gedächtnis zu rufen. Die Anwesenden verflüchtigten sich ihm, er blieb allein in der leuchtenden Nacht zurück. Er sah einen Ritter auf seinem Roß durch die Luft galoppieren, dicht über dem Wasser, er fragte ihn, wer er sei, und bekam zur Antwort, er sei al-Khayyam, es sei ihm endlich gelungen, der Totenwelt zu entrinnen. Anis erwachte beim Anblick seines neben dem Kupfertablett liegenden Beins, lang, kantig und knochig, mit großen Zehen und krummen Nägeln, die lange nicht geschnitten worden waren. Fast hätte er es nicht für das seine gehalten. Wie fremd ihm dieses Glied erschien. Er wurde auf Mustafa Raschid aufmerksam, der gerade die anderen fragte:

»Sind wir wirklich so, wie unser Vormund uns schilderte?« Khalid Azzuz erwiderte:

»Es handelt sich nicht um Flucht oder etwas Derartiges, wir verstehen unsere Wirklichkeit so, wie wir sie verstehen müssen.« Und Ali as-Sayyid fügte hinzu:

»Unser Boot ist das letzte Refugium der menschlichen Weisheit.«

»Ist das Versinken in Träumen eine Flucht?«

»Die Träume von heute sind die Wirklichkeiten von morgen.«

»Ist die Hoffnung auf das Absolute eine Flucht?«

»Und… haben wir etwas anderes zu tun?«

»Ist das sexuelle Verlangen eine Flucht?«

»Pfui! Das ist der reine Schöpfungsakt.«

»Ist das Haschischrauchen eine Flucht?«

»Flucht vor der Polizei, wenn du willst.«

»Ist es eine Flucht vor dem Leben?«

»Es ist das Leben selbst.«

»Warum hat uns unser Vormund angegriffen?«

»Seit Jahrzehnten hat er sich nicht ausgetobt, er wollte es nur einmal ausnahmsweise tun.«

»Eine schöne Nacht, Kameraden!« rief Ragab erneut.

Ahmad Nasr empfahl ihnen, einstweilen zu schweigen, damit der Erfolg des Abends nicht gefährdet würde. Die Haschischpfeife machte ihre letzten intensiven Runden. Der Mond war so hoch gestiegen, daß er von drinnen nicht mehr zu sehen war; er allein hatte in Sammaras Gesicht eine traurige Niederlage gesehen. Ihre Gesichter erschienen bleich, schläfrig und zugleich gegen ihren Willen ernst. Mustafa schaute Sammara aufmerksam an und fragte sie nach ihrer Ansicht über das, was sie gehört hatte. Die späte Nacht sei nicht für Diskussionen geschaffen, wehrte Ragab ab.

Wozu war die Nacht geschaffen? Alle gingen weg außer Ali as-Sayyid und Saniya Kamil. Bald danach war er ganz allein im Raum, Amm Abduh trat wie gewöhnlich ein, verrichtete seine Arbeit, ohne ein Wort zu sagen, dann ging er wieder. Anis kroch zur Veranda und sah nun erneut den Mond mitten im geschmückten Himmelsgewölbe scheinen. Er flüsterte ihm zu: Nichts ist unserem Hausboot vergleichbar. Die Liebe ist ein überholtes, verbrauchtes Spiel, aber in unserem Hausboot ist sie ein Sport. Das Laster ist anderswo ein Laster, aber hier in unserem Boot Freiheit. In den Häusern sind die Frauen traditionelle Reliquien, aber in unserem Hausboot sind sie voll jugendlicher Erotik und betörend. Der Mond ist ein lebloser, sich drehender Planet, aber hier bei uns Poesie. Der Wahnsinn ist überall eine Krankheit, aber bei uns eine Philosophie. Jeder Gegenstand hat seinen Wert, woher er auch sein mag, aber in unserem Hausboot ist er ein Nichts. Du, alter Weiser, Ibu-qur, tritt ein mit deiner Zeit, in der alles außer der Dichtkunst zerfallen ist, und sing für uns. Sage mir, was du Pharao erzählt hast. Der Weise Ibu-qur kam und sang:

»Eure Zechgenossen haben euch belogen,

Es sind Jahre des Krieges und des Verderbens.«

»Laßt mich mehr hören, Weiser!« sprach ich. Und er sang weiter:

»Was ist es, was in Ägypten geschah? Der Nil bringt immer noch die Überschwemmung. Wer einst nichts besaß, ist nun wohlhabend. Hätte ich doch meine Stimme beizeiten erhoben!«

»Und wovon hast du noch gesungen, Weiser Ibu-qur?« Und er sang:

»Ihr habt die Weisheit, die Umsicht und die Gerechtigkeit,

Aber ihr laßt die Fäulnis das Land zersetzen.

Seht, wie eure Befehle mißachtet werden,

Ihr braucht nur zu fragen, und es kommt einer,

der euch die Wahrheit erzählt.«

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