7

Er stützte sich mit den Ellenbogen auf das Geländer der Veranda und betrachtete die ruhige Abenddämmerung. Ein Windhauch umstrich seine Glieder durch den Ausschnitt seiner Gallabiya und trug mit dem Duft des Nils und der Büsche die Stimme Abduhs zu ihm herüber, der die Betenden unweit des Hausboots anführte. Noch spürte er auf seiner Zunge den Geschmack des ungesüßten Kaffees. Seine Phantasie vermochte sich noch nicht von Ibn Tulun[5] loszulösen, in dessen Zeit er sich für eine Weile vor dem Nachmittagsschläfchen ergangen hatte. In der kurzen Spanne, die dem Kaffeetrinken folgt und der Fahrt vorausgeht, wartete er in der Regel, daß etwas geschähe; und eine unbestimmte Trauer ohne erkennbaren Grund befällt ihn. Als eine leichte Schwingung durch das Hausboot ging, fragte er sich, wer wohl so früh käme. Er verließ die Veranda und ging in das Zimmer. Er sah Sammara Bahgat hinter dem Wandschirm hervortreten. Lächelnd kam sie auf ihn zu, er aber betrachtete sie erstaunt. Sie reichten sich die Hand. Als sie sich wegen ihres frühen Kommens entschuldigte, begrüßte er sie mit echter Freude. Begeistert ging sie zur Veranda, als begegnete sie dem Nil zum ersten Mal. Mit schwärmerischen Augen durchschweifte sie die verträumte Abenddämmerung und betrachtete lange die Akazienbäume mit ihren rötlich-violetten Blüten, dann wandte sie sich um.

Sie sahen sich an, sie neugierig, er leicht verlegen. Er lud sie zum Sitzen ein. Aber sie ging zunächst zu seiner Bibliothek links vom Eingang, überflog aufmerksam die Regale, kehrte um und setzte sich auf ein in der Mitte des Halbkreises liegendes Kissen. Er drückte seine Freude über ihren angenehm frühen Besuch aus, nachdem sie eine Woche lang ausgeblieben war. Er verglich seine weiße Gallabiya mit ihrer einfachen Kleidung, sie trug eine weiße Hemdbluse und einen grauen Rock. Der Ausschnitt ihrer Bluse ließ nichts vom Ansatz ihrer Brust sehen. Es mochte Gründe dafür geben, die mit ihrem Beruf oder mit ihrer Einstellung zusammenhingen.

»Waren Sie wirklich verheiratet und Vater?« fragte sie ihn. Ehe er antworten konnte, entschuldigte sie sich für ihre Aufdringlichkeit; soviel sie wisse, habe Ali as-Sayyid dies einmal beiläufig erwähnt. Er nickte mit dem Kopf. Als er die Neugierde in ihren honigfarbenen Augen las, erklärte er: »Ich lebte damals noch allein als Student vom Lande in Kairo. Mutter und Kind starben im selben Monat an derselben Krankheit.«

»Das war vor zwanzig Jahren«, fuhr er sachlich fort. Er erinnerte sich an die Geschichte mit der Spinne und der Fliege. Voller Unbehagen dachte er daran, daß er noch kaum die Fahrt angetreten hatte. Er fürchtete ein Wort des Mitleids, aber sie schwieg verständnisvoll. Dann blickte sie auf die Bücherregale:

»Man sagte mir, Sie seien versessen auf Geschichte und Kultur, aber soviel ich weiß, schreiben Sie selbst nicht.« Er zog seine breiten ebenmäßigen Augenbrauen hoch, und zugleich hob er sein großes, breitwangiges bleiches Gesicht, es schien abwehrend oder höhnisch, sie lachte und fragte: »Warum haben Sie das Studium abgebrochen?«

»Ich hatte keinen Erfolg, dann ging mir das Geld aus, schließlich bekam ich eine Stelle im Gesundheitsministerium durch einen meiner damaligen Medizinprofessoren.«

»Vielleicht ist es keine Arbeit für sie!«

»Ich bereue nichts.«

Er schaute auf seine Armbanduhr, dann goß er ein wenig Brennspiritus auf die Kohlen, zündete sie mit einem Streichholz an und trug das Kohlebecken auf die Schwelle der Veranda. Sie aber fragte weiter:

»Fühlen Sie sich nicht einsam? Oder könnte es nicht sein, daß…«

»Dazu habe ich keine Zeit«, unterbrach er sie lachend. »Ich bin auf jeden Fall froh«, lachte sie, »Sie diesmal nüchtern angetroffen zu haben.«

»Ich bin es nicht ganz…«

Er folgte ihren Blicken, die sich auf die aufglimmenden Kohlen richteten, lächelte und deutete auf die Kaffeetasse, in der nur noch eine Spur des bräunlichen Satzes vorhanden war. Sie nahm es hin und pries das Leben auf dem Nil. Er verriet ihr, daß seine Bekanntschaft mit diesem schönen Leben noch verhältnismäßig jung sei.

»Wir wohnten in verschiedenen Wohnungen und blieben nie von der Belästigung der Nachbarn verschont.« Plötzlich lachte er leichthin auf, anders als sonst. Fragend schaute sie ihn an. Er lachte wieder und deutete auf seinen Kopf: »Die Fahrt hat begonnen. Ihre Augen sind schön!«

»Welche Beziehung besteht zwischen beiden?«

»Es gibt keine Beziehung zwischen einem Ding und einem anderen«, betonte er.

»Auch nicht zwischen einer Kugel und dem Tod eines Menschen?«

»Nicht einmal das. Die Kugel ist eine vernünftige Erfindung, aber nicht der Tod!«

»Wissen Sie, ich bin mit Absicht so früh gekommen, um mit Ihnen allein zu sein, weil Sie der einzige sind, der kaum redet.« Er verwahrte sich dagegen durch Hochziehen der Augenbrauen, aber sie beharrte darauf:

»Auch wenn Sie die ganze Zeit mit sich selbst reden.« Ein Schweigen trat ein, und er vertiefte sich in die immer dichter werdende Nacht. Es kam ihm in den Sinn, daß ihre frühe Ankunft ihn um die Beobachtung der langsam heraufziehenden Nacht brachte, aber er bedauerte es nicht. Draußen ließ sich ein ihm vertrautes Husten hören. »Amm Abduh«, murmelte er. Voller Interesse sprach sie von ihm und stellte eine Menge Fragen, aber er antwortete nur, dieser Mann werde nicht krank, sei gegen jedes Wetter gefeit und kenne sein Alter nicht, es komme ihm vor, als werde er nie sterben.

»Würdet ihr meine Einladung annehmen, wenn ich euch ins >Semiramis< einlüde?« fragte sie. Erschrocken erwiderte er:

»Ich glaube nicht; was mich betrifft, so ist das ausgeschlossen.«

Er betonte, daß er das Hausboot nur verlasse, um ins Amt zu gehen.

»Es scheint«, sagte sie, »daß ich Ihnen nicht gefalle!«

»Sie sind sanfter als der Tau!« wehrte er ab. Währenddessen wurde es Nacht. Das Hausboot erbebte unter vielen Tritten, Lärm erhob sich auf dem Steg. Sammara erschrak, als das Boot schaukelte.

»Wir leben auf dem Wasser und beben unter jedem Tritt«, erklärte er.

Nach und nach erschienen die Freunde hinter dem Wandschirm. Sie staunten, als sie Sammaras gewahr wurden, aber sie grüßten sie herzlich. Saniya Kamil deutete ihre Anwesenheit auf besondere Weise und gratulierte Anis scherzhaft. Alsbald bewegten sich seine Hände geschäftig, und die Wasserpfeife kreiste. Ragab al-Qadi schenkte einen Whisky für Sammara ein. Anis bemerkte den verstohlenen Blick Sanas zwischen ihren Haarsträhnen hindurch zu Sammara hin und lächelte. Er freute sich sehr über das Glühen der Kohlen. Er streckte Sammara die Wasserpfeife entgegen, aber sie zog sich leicht zurück; er bat die anderen, sie zu überreden, doch vergeblich. Alles schwieg, abgesehen vom Blubbern der Wasserpfeife. Verschiedene Themen kamen zur Sprache. Die amerikanische Luftwaffe hatte Nordvietnam angegriffen. Das ist wie während der Kubakrise, erinnert ihr euch? Es sind zahlreiche Gerüchte im Umlauf. Da war der Abgrund, an dessen Rand die Welt schwebte. Das Fleisch und die Genossenschaften. Gibt es etwas Neues von den Arbeitern und Bauern? Bestechung und harte Währung.

Der Sozialismus und die Verkehrsbehinderung durch Privatautos. Anis sagte sich, dies alles liege im Inneren der Wasserpfeife und gehe in Rauch auf. Wie die Muluhiya[6], die Amm Abduh gekocht hat. Unsere alte Parole: Wäre ich nicht, so wünschte ich, daß ich wäre. Erglüht am Himmel ein Licht wie das im Kohlebecken, so sagt das astronomische Institut, daß ein Stern verglüht, daß die Gruppe seiner Planeten explodiert sei und daß sich alles in Staub aufgelöst habe. Einst fiel Staub auf die Erde, da wuchs das Leben. Und dennoch sagt man mir, man werde mir zwei Tage Lohn von meinem Gehalt abziehen, oder, man sei keine Hure. Al-Ma'arri[7] hat es in einer kurzen Verszeile zusammengefaßt, an die ich mich nicht genau erinnere und die zu erinnern mir gleichgültig ist. Er war blind, deshalb sah er Sammara nicht, die seine Zeitgenossin war. »Mein Mann ist bemüht, sich mit mir zu versöhnen.«

»Gott behüte!«

…blind, deshalb sah er nicht. Der Faden ist gerissen, etwas Erfreuliches hat sich verflüchtigt. Wichtig ist, daß wir achtgeben. Worauf achtgeben? Morgen haben wir wegen der Inventur einen anstrengenden Tag im Straflager des Amts. Ein Insektenmuseum. Die Mücken aber sind Säugetiere. Sammara sagte:

»Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes eine blonde Schönheit!«

Khalid ergriff das Wort. Es war klar, daß er mit seinen Worten Laila Zaidan meinte:

»Ihr eigentliches Problem ist das der gesamten Nation, die ist nämlich auch wie eine moderne Frau, die Heirat aber ist etwas Bürgerliches…«

Er blickte in die Nacht hinaus und sah die Straßenlampen des anderen Ufers wie Lichtsäulen im Fluß schweben. Der sanfte Wind trug ihm von einem weit entfernten Hausboot Gesang herüber, es mochte von einer Hochzeitsfeier sein, so wie Muhammad al-Arabi in seiner Hochzeitsnacht gesungen hatte: »Vernehmt die wundersame Geschichte, ich verliebte mich in eine Bäuerin.« Der Onkel hatte gesagt, Gott schütze dich und beglücke dein Heim mit gesegneter Nachkommenschaft! Aber paß auf, du hast nur noch zwei Feddan[8] Land! Wie schön ist das Dorf, wenn im Garten die Orangenblüten duften, es berauscht wie der Wohlgeruch, der von den Ohrläppchen der vornehmen Damen ausgeht. »Was für ein Vorschlag!«

»Eine aufrichtige Bekanntschaft ohne Falsch…«, sagte Sammara eifrig.

»Aber was bezwecken Sie mit Ihrem Vorschlag?«

»Ich meine das Hauptinteresse, die Hauptsorge, die einen jeden beschäftigt.«

»Handelt es sich um eine journalistische Recherche?«

»Wenn Sie Bedenken haben, muß ich gleich gehen.«

»Also, beginnen wir mit Ihnen«, sagte Ahmad Nasr vorsichtig, »nennen sie uns Ihr Ziel im Leben!«

Sie schien nicht überrascht zu sein und sagte mit vertrauenerweckender Offenheit:

»Gegenwärtig beschäftigt mich vor allem der Gedanke, mich mit einem Drama zu versuchen.«

»Ein Schauspiel wird nicht ohne Anlaß geschrieben«, bemerkte Mustafa Raschid vieldeutig.

Langsam tat sie einen Zug aus ihrer Zigarette und verengte nachdenklich und zögernd die Augen.

Ali as-Sayyid lächelte teilnehmend und sagte ermutigend: »Es ist klar, daß die Atmosphäre unseres Hausboots nur Unsinn und Unfug zuläßt. Sie sind aber eine selbstbewußte junge Frau, Sie müssen es mit unserer Atmosphäre aufnehmen.« Sie senkte die Augen, als blicke sie zum Kohlebecken. »Nun gut. Um die Wahrheit zu sagen: Ich glaube an die Ernsthaftigkeit.«

Die Fragen überstürzten sich: Was für eine Ernsthaftigkeit? Wem gegenüber? Ist es nicht auch möglich, daß wir ernsthaft an das Absurde glauben? Ernsthaftigkeit setzt voraus, daß das Leben einen Sinn hat. Was für einen Sinn? Ragab rief laut:

»Ihr seht eine Zauberin vor euch, die mit ihrer Feder die Farce in ein Tendenzstück verwandeln will. Aber glauben Sie selbst daran?«

»Ich möchte es…«

»Reden Sie offen, sagen Sie mir, wie Sie das tun wollen! Wir werden gewiß dieses Wunder herzlich begrüßen.« Sie vergegenwärtigten sich die hohen Ideale, von denen einst der Sinn des Lebens ausgegangen war, und gaben zu, daß diese Ideale unwiderruflich verloren seien. Auf welches neue Fundament sollte sich nun der Sinn gründen? »Auf den Lebenswillen!« sagte sie knapp. Sie überlegten. Der Lebenswille war etwas Beständiges, Gesichertes, aber er konnte auch ins Sinnlose umschlagen. Wie sollte das verhindert werden? Konnte der Lebenswille einen Helden hervorbringen? War doch der Held gerade derjenige, der den Lebenswillen für etwas Höheres als das Leben opfert. Wie sollte dieser sonderbare Sinn gefunden werden? »Ich meine, wir sollten bei unserer Suche den Lebenswillen selbst ins Auge fassen und nicht nach einer weiteren Grundlage fragen, an die schwer zu glauben ist. Der Lebenswille ist es, der bewirkt, daß wir uns an das Leben klammern, selbst wenn wir mit unserem Verstand Selbstmord begehen. Das ist die unerschütterliche, uns unmittelbar gegebene Grundlage. Wir könnten damit über uns selbst hinauswachsen…«

»Dann ließe sich Ihre Philosophie so zusammenfassen«, sagte Mustafa Raschid, »sie ersetzt die Parole >Von oben nach unten< durch die Parole >Von unten nach oben

»Keine Philosophie, das ist, was mich am meisten bewegt. Jetzt sind Sie an der Reihe…«

Verflucht sollt ihr sein. Nichts ist dem Rausch feindlicher als das Denken. Zwanzig Pfeifen sind fast völlig umsonst geraucht. Und nichts scheint tiefer im Glauben verwurzelt als der Lebachbaum. Die Beharrlichkeit der Mücken erheischt unsere Bewunderung. Verlieren die Klagerufe des Omar al-Khayyam[9] ihre Kraft, so ist es um die ewige Ruhe geschehen. All diese Sarkastiker sind Gebilde aus Atomen. Nun löst sich jeder von ihnen in eine begrenzte Anzahl von Atomen auf, sie haben Gestalt und Farbe verloren. Sie sind völlig verschwunden. Nichts ist von ihnen geblieben, was mit dem bloßen Auge zu erkennen wäre. Nur noch Stimmen sind vernehmbar. Die Stimme Ragabs: »Mein Hauptinteresse gilt der Kunst.« Die Stimme Mustafas:

»In Wirklichkeit gilt sein Interesse der Liebe, noch richtiger, den Frauen.«

Die zweifelnde Stimme Sammaras: »Ist das wirklich Ihr Hauptinteresse?«

»Nichts mehr und nichts weniger.« Ihre Stimme lockte die Stimme Ali as-Sayyids an: »Mein Hauptinteresse gilt der Kunstkritik.« Die Stimme Mustafa Raschids höhnte:

»Unsinn, sein wahres Interesse gilt dem Traum, dem Traum als solchem, unabhängig vom Inhalt; Kritiken schreibt er nur, um einem Freund zu schmeicheln, einen Feind anzugreifen oder Geld herauszuschlagen.«

»Aber wie will er den Traum verwirklichen?«

»Darum schert er sich nicht. Gewährt ihm die Wasserpfeife ihre Gaben, so kratzt er sich an seiner riesigen Nase und sagt: Gedenkt des weiten Weges, den der Mensch von der Höhle bis zum Weltraum zurückgelegt hat! Ihr Hurensöhne werdet euch auch noch wie Götter zwischen den Sternen vergnügen!« Das Verhör wandte sich Ahmad Nasr zu; seine Stimme erhob sich zögernd:

»Ich will nur Ruhe und Geborgenheit.« Die Stimme Mustafas aufdringlich:

»Mit diesem Mann hat es seine besondere Bewandtnis. Er ist zum Beispiel Muslim, er betet und fastet und ist dazu ein Muster von Ehemann, er verhält sich zu den Frauen unserer Bootsgesellschaft wie die Ägypter zu den Gestrauchelten. Seine Hauptsorge ist vielleicht, seine Tochter zu verheiraten.«

Die Stimme Khalid Azzuz':

»Er ist der einzige unter uns, der nach dem Tod weiterleben wird…«

Die tosende Einsamkeit wurde Anis unerträglich; er rief deshalb Amm Abduh, um das Wasser der Pfeife erneuern zu lassen. Er stellte sich den Riesen, als er hereinkam, als die einzig gegenwärtige Existenz in einer geräuschlosen Leere vor. Eine Stimme sagte, sein Hauptproblem sei, sich zu erinnern, eine andere aber, sein Problem sei vielmehr, zu vergessen. Anis fragte sich, warum die Tataren an der Grenze haltgemacht hätten. »Ich habe kein Problem!« schrillte die Stimme Lailas. Khalid Azzuz entgegnete: »Richtiger, ich bin ihr Hauptproblem.« Die Stimme Saniyas ertönte:

»Mein Wunsch ist, daß mein Mann mich verstößt und daß Ali as-Sayyid seine beiden Ehefrauen verstößt.« Sammara versuchte, aus Sana ein Wort herauszulocken, aber sie blieb stumm. Daraufhin sagte die Stimme Ragabs: »Betrachten Sie mich als ihr wesentliches Interesse!«

»Nein!« stieß Sana hervor.

Darauf das unklare, gedämpfte Geräusch eines geflüsterten Kusses. Die Stimme Khalids meldete sich: »Mein Interesse gilt dem Anarchismus.«

Gelächter brach aus. Dann herrschte Schweigen, eine Pause folgte, und die Leere nahm überhand. Amm Abduh trat ein und teilte mit:

»Eine Frau hat sich aus dem achten Stock des Mietshauses as-Suba heruntergestürzt.« Benommen erkannte Anis ihn und fragte: »Woher weißt du das?«

»Ich lief dem Geschrei nach und sah eine schauerliche Szene.« Die Stimme Ali as-Sayyids:

»Zum Glück sind wir der Außenwelt fern und können nichts hören.«

»Hat sie Selbstmord begangen, oder wurde sie ermordet?«

»Gott weiß es«, gab der Alte zur Antwort, dann eilte er zurück. Ali as-Sayyid schlug vor, selbst hinauszugehen, um sich nach dem Vorfall zu erkundigen, aber sein Vorschlag wurde einstimmig abgelehnt. Der Schock der Nachricht brachte die Atome in ihre ursprünglichen Zusammenhänge und Einheiten zurück, und die Gästerunde nahm wieder sichtbare Gestalt an. Anis freute sich, seiner ermüdenden Einsamkeit entronnen zu sein. Das Zusammenleben mit Geistesgestörten ist auf alle Fälle besser als die Einsamkeit, dachte er. Nun war die Reihe an Mustafa Raschid, aber Ali as-Sayyid wollte sich rächen und ergriff das Wort:

»Er ist ein Rechtsanwalt, der die liquidierten großen Besitztümer verloren hat, und so lebt er heute auf Kosten der Sünder unter den Söhnen des Volkes. Seine Hauptsorge nach der Bezahlung des Anfangshonorars gilt dem Absoluten. Aber das ist ein schwieriges Unterfangen, noch schwieriger als das Eintreiben des vereinbarten restlichen Honorars.«

»Sie sind also gläubig?« fragte Sammara. »Gott bewahre!«

»Was ist dann das Absolute?«

»Manchmal«, antwortete Ali as-Sayyid, »schaut er zum Himmel empor, manchmal hält er Einkehr bei sich selbst, und ein drittes Mal versichert er, es sei ganz nahe, aber die Sprache versage. Khalid hat ihm deshalb den Rat gegeben, seinen Fall einem Spezialisten für Drüsenleiden vorzulegen.«

»Auf jeden Fall gehört er der Partei der Ernsthaften an.«

»Nein, sein Absolutes ist absurd.«

»Können wir ihn als einen Philosophen betrachten?«

»In einem modernen Sinne von Philosophie, wenn Sie wollen, von Philosophie, die Diebstahl, Zuchthaus und sexuelle Abnormität à la Genet umfaßt.«

Er erinnerte sich seines letzten Treffens mit Nero. Nein, er war keine Bestie, wie man ihm nachsagt. Als ich Kaiser wurde, sagte er, ermordete ich meine Mutter, als ich Gott wurde, steckte ich Rom in Brand, und zuvor, als ich noch ein gewöhnlicher Mensch war, liebte ich die Künste. Er fügte hinzu, aufgrund dessen, was ich vollbracht habe, genieße ich jetzt das ewige Paradies. Anis lachte laut, dann gewahrte er unversehens, wie sich die Blicke auf ihn richteten. Sammara fragte:

»Nun sind Sie an der Reihe, Vormund, was ist Ihr Hauptproblem?«

Ohne Zögern antwortete er: »Sie zur Frau zu nehmen!« Sie lachten los.

»Aber…«, wandte Ragab rasch ein, fing sich jedoch schnell und schwieg. Das Gelächter wurde noch heftiger. Trotz ihrer Verlegenheit beharrte Sammara darauf, ihn zu verhören. Ahmad Nasr antwortete für ihn: »Den Amtsleiter zu töten.« Sie lachte.

»Endlich eine ernsthafte Person.«

»Aber er denkt daran nur in den wenigen Augenblicken, in denen er nüchtern ist.«

»Trotzdem!«

Amm Abduh kehrte zurück und blieb neben dem Wandschirm stehen:

»Die Frau hat Selbstmord begangen wegen eines Streits mit ihrem Geliebten.«

Ein lang anhaltendes Schweigen folgte, bis Khalid Azzuz sagte: »Das Beste, was sie tun konnte. Amm Abduh, erneuere das Wasser!«

»Noch gibt es Liebe in der Welt«, murmelte Sammara. »Sie nahm sich das Leben«, sagte Khalid. »Höchstwahrscheinlich war sie ernsthaft. Wir aber haben nichts Derartiges im Sinn.«

Ahmad Nasr meinte, jeder Lebende sei ernsthaft und lebe sein Leben auf ernsthafte Weise. Das Absurde beschränke sich normalerweise auf die Phantasie. Sie könnten in einem Roman wie in Camus' »Fremdem« einen Mörder ohne Motiv finden, aber im wirklichen Leben sei Beckett selbst der erste, der unverzüglich einen Prozeß gegen seinen Verleger anstrenge, falls dieser irgendeinen Satz aus den Verträgen über seine absurden Bücher verletze. Sammara lehnte aber die Ansicht in dieser Form ab. Sie meinte, was im Kopf sei, müsse auf die eine oder andere Weise das Verhalten oder zumindest das Gefühl beeinflussen. Sie führte die Passivität, die Amoralität und den moralischen Selbstmord als Beispiele an. Um Mensch zu bleiben, müsse der Mensch aufbegehren, wenn auch nur einmal im Jahr. Ragab schlug ihr vor, bis zum Tagesanbruch zu bleiben, um die Morgendämmerung zu beobachten, aber sie entschuldigte sich und bestand darauf, um Mitternacht zu gehen. Dankend lehnte sie das Angebot ab, sie nach Hause zu fahren. Als sie gegangen war, herrschte Stille, wie bei einer Entspannung nach einer ermüdenden Anstrengung. Mattigkeit schien sie zu überkommen. Anis schickte sich an, ihnen von seinem Erlebnis mit den Atomen zu erzählen, aber aus Faulheit gab er diesen Gedanken bald wieder auf. Ahmad Nasr stellte die Frage: »Was verbirgt sich hinter dieser fremden, reizvollen Frau?« Ali as-Sayyids große Augen waren nun rötlich, und seine mächtige Nase schien eingefallen und teigig. Er erwiderte: »Sie möchte sich mit allem vertraut machen und sich mit jedem befreunden, der einer Freundschaft würdig ist.«

»Könnte es ihr eines Tages in den Sinn kommen, uns zu ernsthaftem Tun aufzufordern?« fragte Mustafa Raschid. »In einem solchen Falle müßten wir sie unsererseits in eines der drei Zimmer einladen…«

»Das wäre Ragabs Aufgabe!«

Sana erblaßte, aber der Rausch hatte jeder Bemerkung ihren Sinn genommen. Khalid sagte:

»Wir müssen uns schon über einen Nachfolger für Sana einigen.«

Sana warf einen scharfen Blick auf Ragab. Besänftigend sagte er: »Dem Berauschten ist alles erlaubt.«

Khalid jedoch redete weiter:

»Kann ein Leichtfertiger sich in eine ernsthafte Frau verlieben?«

Die Wasserpfeife kreiste, und die Augen wurden schläfrig. Du trugst das Kohlebecken auf die Veranda und bliesest die Asche ab, die Kohlen glühten wieder auf, knisterten und sprühten Funken. Anis näherte sich der Veranda, um die kühle Brise der Nacht einzuatmen.

Voller Staunen schaute er auf das Feuer und gab sich seinem sonderbaren Zauber hin. Er sagte sich, niemand kenne das Geheimnis der Gewalt wie das Delta. Die Mauergeckos, die Mäuse, die Mücken und das Wasser des Flusses, sie alle sind meine Gefährten, aber niemand begreift das Geheimnis der Gewalt besser als das Delta. Der ganze Norden ist eine wunderbare Welt, bedeckt mit Wäldern, die den Tag nur als kurze vorübergehende Lichtstrahlen kennen, die durch das Netz der Äste und Zweige hindurchdringen. Eines Tages zogen die Wolken eilig fort, und ein lästiger Gast mit rissiger Haut und nacktem Gesicht kam an, ein Gast, der Dürre hieß. Was tun, angesichts des auf uns zu kriechenden Todes. Das Grün verging, die Vögel zogen fort, die Tiere verendeten, du sagtest, da kommt der Tod und streckt seine Hand nach uns aus. Meine Vettern gingen nach dem Süden auf die Suche nach dem angenehmen Leben und den reifen Früchten, sollte es auch auf dem entlegensten Fleck der Erde sein. Meine Familie aber brach zu den Tümpeln auf, die der Nil zurückgelassen hatte, und sie hatte keine andere Waffe als ihren Willen und keinen anderen Zeugen ihres wahnwitzigen Abenteuers als das Delta. Stachliges Gewächs, Kriechtiere und Raubtiere, Fliegen und Mücken warteten vereint auf sie. Ein unerhörtes Mahl des Untergangs, und kein anderer Zeuge als das Delta. Sie sagten, wir hätten keine andere Wahl, als Fußbreit um Fußbreit uns durchzuschlagen und in Schweiß und Blut zu kämpfen. Blutige Arme, starrende Augen, horchende Ohren, aber allein die gleichförmigen Tritte des Todes waren zu hören. Gespenster gingen um, Geier kreisten oben, der Opfer harrend. Keine Rast, nur der mühsame Kampf, kein Anhalten, um die Toten zu begraben. Da war keiner, der fragte, wohin sie gingen. Wunder an Taten wurden vollbracht, wunderbare Saaten wurden gesät, und nur das Delta als Zeuge…

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