Nachwort

Nagib Machfus ist derjenige arabische Autor des zwanzigsten Jahrhunderts, der sich im Lauf seines langen Lebens am nachhaltigsten in die Weltliteratur eingeschrieben hat. Von den dreißiger Jahren bis weit in die neunziger war er als Autor tätig, rund fünfzig, teils ausgesprochen umfangreiche Werke hat er publiziert, überwiegend Romane und Erzählungen. Die arabische Literatur kennt keinen größeren Zeitzeugen und zugleich Chronisten des Wandels in dieser Epoche, die für die arabische Welt die turbulenteste seit dem Mittelalter war, angefüllt mit Revolutionen, Kriegen, Umstürzen, Terrorismus und einer alles verschlingenden Modernisierung, die, um nur das eklatanteste Beispiel zu nennen, dazu geführt hat, daß Kairo, die Geburts- und Heimatstadt von Machfus, die zur Zeit seiner Geburt im Jahr 1911 gerade einmal 750 000 Einwohner zählte, heute, immer noch zu Lebzeiten des Autors, auf fünfzehn Millionen oder mehr angewachsen ist und zu den größten Städten der Welt zählt. Dieser atemberaubende Wandel ist in allen Werken von Machfus mehr oder weniger realistisch verarbeitet. Seine Romane sind Mitschriften, Bestandsaufnahmen; in medizinischer Terminologie ließen sie sich als Diagnose, als Aufzeichnung eines Krankheitsverlaufs beschreiben, wobei das Instrumentarium dieses Romanciers, der, hätte sich sein Studienwunsch erfüllt, Arzt geworden wäre, den neuen, neumodischen Krankheiten seiner Gesellschaft entsprechend in fast jedem Jahrzehnt seines über sechzigjährigen Wirkens neu eingerichtet und geeicht worden ist. Aber was ihm als Arzt nicht angestanden hätte, macht des Romanciers Qualitäten aus: Er reibt seinen Lesern keine Rezepte für die Heilung unter die Nase, er beobachtet nur von sehr nahem, wobei ihm eine andere, nicht minder erstaunliche Eigenschaft zugute kommt: sich nicht anstecken zu lassen, ja geradezu immun zu sein. Während alles um ihn herum im Mahlstrom der politischen Wirren und neuen und neusten intellektuellen Debatten versinkt und er selber alles genau wahrnimmt und niederschreibt, bleibt er sich treu und ändert vielleicht ein wenig seinen Stil und sein Thema, nie aber seine Grundsätze. Die Schiffbrüche der ägyptischen Gesellschaft und ihr Zuschauer: Das ist Nagib Machfus mit seinen Romanen.

Wer sein Gesamtwerk oder auch »nur« die zwanzig Bände gelesen hat, die von ihm mittlerweile auf deutsch vorliegen, hat ein Panorama der ägyptischen Gesellschaft gezeigt bekommen und darf behaupten, den ägyptischen Mittelstand besser zu kennen als seine eigenen Nachbarn — beginnend bei denen, die allmählich in die Armut abdriften, bis hin zu jenen, die sich anschicken, darüber hinauszuwachsen (oder zumindest so tun). Obwohl dieses Bürgertum zweifellos den Mittelpunkt von Machfus' Œuvre darstellt — wo nicht im Thema, da in Mentalität oder Perspektive —, weist sein Werk dennoch eine verblüffende Vielfalt an Formen und Themen auf. Realistische Gesellschaftsromane reihen sich an märchenhafte Fortschreibungen von »Tausendundeiner Nacht« oder an legendäre Reiseberichte, historische Romane stehen neben Theaterstücken, Drehbüchern und autobiographischen Skizzen. Ohne Übertreibung kann man behaupten, daß sich bei diesem Autor Literatur für jeden Geschmack, jede Bildungsstufe und jedes Alter findet.

All dies macht Machfus zu einem wahrhaft modernen Autor. Man darf sogar sagen, daß mit Machfus die Moderne in der arabischen Literatur überhaupt erst beginnt. Vor Machfus' Geburt 1911 findet man jedenfalls kaum arabische Bücher, denen man dieses Prädikat ohne Abstriche zuerkennen möchte. Man bedenke: Als erster ernstzunehmender ägyptischer Roman gilt die 1914 publizierte Erzählung »Sainab« von Muhammad Hussain Haikai (1888—1956) — ein eher dilettantisches Machwerk im romantisierenden Stil. Der arabische Roman, wie wir ihn heute kennen, ist erst in der Begegnung mit dem Westen entstanden. Erstaunlicherweise kannte die klassische arabische Literatur — anders als etwa die alte persische oder indische — kaum epische Formen, lediglich meist belehrende Geschichten- und Anekdotensammlungen, die sogenannte »Adab«-Literatur. Heldenepen finden sich nur in der oralen, umgangssprachlichen Literatur, und noch die Sammlung »Tausendundeine Nacht«, die zwar ebenfalls aus einzelnen Geschichten besteht, aber mit ihrer Rahmenhandlung und dank längerer Erzählzyklen unserer Vorstellung von »Roman« recht nahekommt, galt in der klassischen Zeit aufgrund ihrer einfachen, oft fehlerhaften Sprache als minderwertige Literatur.

Die ersten Anstöße für die Araber, sich mit der bis dahin weitgehend ignorierten europäischen Zivilisation und schließlich auch mit deren Literatur zu beschäftigen, brachte Napoleons Ägyptenfeldzug 1798. Zahlreiche arabische Gelehrte und Studenten gingen im Lauf des 19. Jahrhunderts zu Studienzwecken nach Paris, um die Errungenschaften des Westens kennenzulernen. Auf diesem Weg wurde auch die Form des Romans in der arabischen Welt bekannt. Die ersten arabischen Erzählungen und Dramen waren dann freie Adaptionen abendländischer Stoffe oder aber, nach dem Vorbild Walter Scotts, Historienromane mit Themen aus der arabischen Geschichte, so etwa bei dem Libanesen Gurgi Zaidan (1861—1914). Dieses Genre war so beliebt und erfolgreich, daß noch Machfus in den dreißiger Jahren zunächst Historienromane verfaßte — mit Stoffen aus der ägyptischen Geschichte und mit einem beträchtlichen nationalistischen Pathos. In jener Zeit war das einzige ägyptische Prosawerk von internationalem Format, das zugleich ein realistisches Bild der ägyptischen Gesellschaft entwarf, Taha Hussains (1889—1973) bis heute lesenswerte Kindheitsautobiographie »Die Tage« (1929).

Um die späte Entwicklung der arabischen Prosaliteratur und die besondere Leistung von Machfus nachzuvollziehen, reicht es aber nicht, nur auf äußere Faktoren wie die verspätete Begegnung mit der europäischen Literatur zu verweisen. Die eigentliche Gattung der arabischen Literatur war seit jeher nicht Prosa, sondern die Lyrik, deren früheste, vorislamische Zeugnisse anderthalb Jahrtausende alt sind und bis in die Gegenwart eine unglaubliche Wertschätzung genießen. Die Fixierung auf lyrische Formen hatte die Entwicklung anderer Gattungen erschwert, zumal mit dem Islam ein literaturskeptischer und sprachkonservativer Einfluß hinzutrat. Der Schöpfer eines Kunstwerks befindet sich gemäß frommer Lesart immer in einem gewissen Konkurrenzverhältnis zu Gott. Das gilt zumal für jedes sprachliche Kunstwerk, da sich die arabische Literatur derselben Sprache bedient, mit der Gott den Propheten Mohammed (570—632) im Koran angeredet hat — und der Koran besteht aus Prosa, wenngleich sehr rhythmischer, assonanzenreicher, oft sogar gereimter Prosa.

Man muß dieses hergebrachte, religiös aufgeladene Sprach- und Literaturverständnis nicht teilen (und die meisten zeitgenössischen muslimischen Autoren teilen es sicher nicht), um ihm dennoch ausgesetzt zu sein und seine Wirkungen zu spüren. Es hat nämlich zu einer grammatikalischen und morphologischen Kanonisierung des im siebten Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel verbreiteten Arabisch geführt, zu dessen wenigen autoritativen Zeugnissen außer dem Koran nur die vorislamische Dichtung zählt. Die aus diesem sehr beschränkten Sprachmaterial von den arabischen Grammatikern im achten Jahrhundert abgeleiteten Regeln und der überlieferte Lautstand der Sprache gelten bis heute als die einzig richtige Version der arabischen Schrift- und Hochsprache, und dies für rund 200 Millionen Sprecher in einem Gebiet, das sich vom Atlantik im Westen bis zum Persischen Golf im Osten erstreckt. Mit anderen Worten: Die heutigen arabischen Schriftsteller, und unter ihnen natürlich Machfus, verwenden, wenn sie nicht, wie es nur wenige tun, im Dialekt schreiben, exakt dieselbe Sprache mit derselben Grammatik und derselben Morphologie wie die arabischen Dichter vor anderthalb Jahrtausenden auf der arabischen Halbinsel. Die lokalen Dialekte, die die eigentliche Muttersprache der Autoren bilden, haben sich unterdessen auf natürliche Weise weiterentwickelt und differieren so stark vom Hocharabischen wie etwa das Mittelhochdeutsche von der deutschen Gegenwartssprache. Diese sprachliche Grundsituation stellt alle arabischen Autoren vor erhebliche Probleme, angesichts deren die Vorteile verblassen, wie etwa der Vorteil, daß ein hocharabischer Roman in der ganzen arabischen Welt gelesen werden kann, wenn die Leser eine halbwegs akzeptable Schulausbildung haben, oder daß dem Schriftsteller ein viel umfangreicheres und älteres Vokabular zur Verfügung steht (wovon eher die Lyriker profitieren).

Zu den großen Problemen zählt zum Beispiel, daß die im realistischen Roman übliche direkte Rede in der Hochsprache zwangsläufig gekünstelt wirkt. Keine der Figuren würde in der Realität so reden, wie es in einem hochsprachlichen arabischen Roman steht, und damit ist der Begriff des literarischen Realismus, unter dem viele Romane von Machfus aus den vierziger und fünfziger Jahren zu subsumieren sind, in mancher Hinsicht unglaubwürdig. Dies gilt zumal für Theaterstücke, ein Genre, in dem sich Machfus ebenfalls kurzzeitig versuchte, aber, eben aufgrund der sprachlichen Schwierigkeiten, nicht Fuß faßte. Bis heute leidet das arabische Theater an diesem sprachlichen Dilemma und tendiert daher in jüngster Zeit mehr und mehr zum Dialekt, wie übrigens auch die arabischen Spielfilme, deren wichtigstes Produktionsland seit den dreißiger Jahren Ägypten ist. Auch Machfus hat Drehbücher geschrieben oder an ihnen mitgearbeitet, und bei der breiten Bevölkerung wurde er als Schriftsteller erst durch die Verfilmung seiner realistischen Romane bekannt, zum Beispiel (1963) des Romans »Midaqq-Gasse« von 1947.

Eine der größten schriftstellerischen Errungenschaften von Machfus liegt nun auf diesem problematischen Feld des Umgangs mit der arabischen Hochsprache. Diese Leistung, die Machfus in der arabischen Welt ebensoviel Renommee verschafft hat wie Plot und Inhalt seiner Romane, entzieht sich allerdings denjenigen Lesern, die darauf angewiesen sind, seine Bücher in Übersetzung zu rezipieren. Sie besteht darin, zwar in einem absolut korrekten Hocharabisch zu schreiben, gleichwohl aber diese Sprache verblüffend natürlich klingen zu lassen. Dies gelingt durch einen Verzicht auf ungebräuchliche, allzu klassische Worte, auf komplizierte grammatische Fügungen und seit alters in der Schriftsprache übliche Manierismen. Noch der erwähnte, nur eine Generation vor Machfus geborene Taha Hussain schrieb seine Bücher in den dreißiger Jahren in einem ungleich klassischeren Stil. Bei Machfus hingegen wirken sogar die hochsprachlichen Dialoge lebensecht, so auch in dem vorliegenden, zum größten Teil aus Gesprächen bestehenden Roman »Das Hausboot am Nil«.

Nagib Machfus wurde 1911 als jüngstes von sieben Kindern in eine kleinbürgerliche Familie in der Altstadt Kairos geboren, wo zahlreiche seiner Romane spielen. Der Vater war ein kleiner Angestellter im Staatsdienst. Als es der Familie wirtschaftlich etwas besserging, zog sie in ein moderneres, im 19. Jahrhundert nach europäischem Vorbild errichtetes Viertel. Machfus profitierte vom jungen staatlichen Bildungssystem in Ägypten und konnte die Oberschule besuchen und studierte danach Philosophie an der 1908 gegründeten ersten säkularen und staatlichen Universität Ägyptens. Nach Abschluß des Studiums schlug er die Beamtenlaufbahn ein, die, jedenfalls in Ägypten zu dieser Zeit, zwar nicht sehr aufregend war und keine sonderlichen Aufstiegsmöglichkeiten bot, dem angehenden Autor jedoch viel Zeit zum Schreiben ließ. Schon während des Studiums hatte er zahlreiche Artikel für Zeitungen und Zeitschriften geschrieben sowie Kurzgeschichten publiziert. Seine ersten Romane folgten, wie bereits erwähnt, der Mode historisierender Erbauungsliteratur mit nationalistischer Tendenz. In dieser sogenannten »pharaonischen Phase« seines Schaffens publizierte Machfus zwischen 1939 und 1944 drei Romane, die er allerdings schon zwischen 1935 und 1938 verfaßt hatte, wie der Übersetzer Hartmut Fähndrich in seiner Monographie »Nagib Machfus« (1991) festhält. Reminiszenzen an diese Werkphase klingen übrigens noch in dem viel späteren, 1966 publizierten »Das Hausboot am Nil« an, wenn Anis Zaki, der Protagonist, im Haschischrausch Visionen mit Szenen aus der altägyptischen Epoche hat.

Die »pharaonische« Werkphase fällt in die Zeit nationaler Erweckung und verstärkter Unabhängigkeitsbestrebungen in Ägypten, das offiziell zwar eine Monarchie war, de facto aber unter britischer Herrschaft stand. Zu den einschneidenden frühen Erlebnissen von Machfus zählen die als »Revolution« bezeichneten großen Demonstrationszüge, die 1919 aufgrund der Unzufriedenheit mit der von den Westmächten festgelegten Nachkriegsordnung die britische Herrschaft ins Wanken brachten und deren Zeuge Machfus als Kind wurde. Die Ereignisse von 1919 bilden auch den zeithistorischen Ausgangspunkt von Machfus' wohl berühmtesten Romanen, der sogenannten »Trilogie« (1956—1957).

Die Desillusionierung durch das weitgehende Scheitern der mit der »Revolution« von 1919 angestoßenen Unabhängigkeitsbestrebungen mag mit dazu beigetragen haben, daß sich Machfus Ende der dreißiger Jahre der ägyptischen Gegenwart zuwandte. Das nationalistische Engagement über den Umweg des im alten Ägypten spielenden Historienromans dürfte er jedoch auch in künstlerischer Hinsicht als unbefriedigend empfunden haben. Bezeichnend dafür ist, daß die nun entstehenden realistischen Werke meistens mit einer Katastrophe enden, während die pharaonischen Romane, dem Konzept der Erbauungsliteratur entsprechend, noch mit einem Happy-End schlossen. Ein zweites, für das Werk von Machfus einschneidendes zeitgeschichtliches Ereignis war die Revolution der sogenannten freien Offiziere um den charismatischen Gamal Abdel Nasser im Jahr 1952, welche Ägypten die langersehnte, faktische Unabhängigkeit eintrug. Das Regime Nasser entpuppte sich jedoch bald als sozialistische Militärdiktatur, deren oberste Anliegen die Industrialisierung des Landes und die Verstaatlichung des Großgrundbesitzes waren. Nasser hatte zwar gegen erhebliche Widerstände der etablierten politischen Eliten anzukämpfen, genoß aber nach der siegreich überstandenen Konfrontation mit Frankreich und England während der Suez-Krise 1956 die Unterstützung der Massen. In diese Ära, die mit Nassers überraschendem Tod 1970 endet, fällt die der realistischen folgende Schaffensperiode von Machfus.

Obwohl erst einige Jahre später veröffentlicht, hatte Machfus die »Trilogie« bereits 1952, noch vor der Revolution, abgeschlossen. Im selben Jahr heiratete Machfus, und dann schrieb er mehrere Jahre zunächst nichts, bis er mit dem allegorischen Roman »Die Kinder unseres Viertels«, der aufgrund seiner Kritik an den monotheistischen Religionen im Westen sehr bekannt wurde, 1959 erneut die literarische Bühne betrat. Die Welt, die er in seinen realistischen Romanen geschildert hatte, befand sich nach den fieberhaften Modernisierungsschüben unter Nasser in der Auflösung. An diese Schreibweise anzuknüpfen schien daher weder möglich noch sinnvoll. Jetzt kommt es daher zu der Phase seines Werks, der auch das vorliegende Buch, »Das Hausboot am Nil«, zuzurechnen ist und in der Machfus zugleich am modernsten und dem Zeitgeist am nächsten ist — so nah, daß es heute, weniger als ein halbes Jahrhundert später, schon wieder historisch wirkt. Zu dieser mittleren Werkphase zählen auch die ebenfalls auf deutsch vorliegenden Werke »Der Dieb und die Hunde« sowie »Miramar«.

Im Vergleich zu den meisten anderen Erzähltexten von Machfus überrascht »Das Hausboot am Nil« durch die Einheit des Schauplatzes, die Kargheit der Handlung und die Konzentration auf den Dialog. Es erinnert an ein Theaterstück, und man darf vermuten, daß es zunächst auch als Theaterstück geplant war, sowie die Figur Sammara ebenfalls ein Theaterstück schreiben möchte — und damit scheitert. Auf für Machfus ungewöhnliche Weise werden die intellektuellen Hintergründe und die entsprechende Literatur selber thematisiert. Machfus, der Ägypten kaum je verließ, war Mitte der sechziger Jahre offensichtlich über die Themen und Diskussionen der westlichen Literatur bestens informiert. Sartre, Camus und Beckett werden im Roman namentlich erwähnt, die Debatten pendeln zwischen einer schon nicht mehr glaubwürdigen »littérature engagée« (Sartre) und einer gleichwohl noch als dekadent empfundenen »l'art pour l'art«. Das Hausboot selbst stellt dabei eine Art experimenteller Raum dar, in dem die Figuren, losgelöst von ihren alltäglichen Zwängen, von sozialen Bindungen und den traditionellen Verhaltensweisen ihrer Kultur, alternative Lebensentwürfe proben und diskutieren, ohne damit freilich zu einem Ziel zu kommen oder etwas zu bewirken, das auch außerhalb dieses Raums Gültigkeit hätte.

Mit quälender Insistenz heben in jedem Kapitel die gleichen Diskussionen von vorne an, ohne daß ein Fortschritt erkennbar wäre. Abwechslung ergibt sich allein durch neu hinzutretende Figuren, vor allem die Frauen. Aber selbst Sammara mit ihrer Suche nach Ernsthaftigkeit und ihrem ostentativen Verzicht auf die Haschischpfeife durchbricht diesen Zirkel nicht, sondern gerät nur selber in den Strudel des Nihilismus. Im Kreis dieses Symposions erscheinen alle Werte, die in den sechziger Jahren den öffentlichen Diskurs bestimmen, plötzlich unglaubwürdig und lächerlich: Sozialismus, Revolution, Befreiungskampf und der in der arabischen Welt nach wie vor hochgehaltene Heroismus, aber auch persönliche Tugenden wie Verantwortung. Mit einer derartigen Gesellschaftsschilderung war Machfus seiner Zeit exakt ein Jahr voraus. Als der Roman 1966 erschien, waren die Ideale der nasseristischen Revolution nämlich noch keineswegs diskreditiert. Aber nur ein Jahr später sollte genau dies geschehen, als Nasser entgegen seiner triumphalen Rhetorik im Sechs-Tage-Krieg gegen Israel 1967 urplötzlich eine schmähliche Niederlage erlitt und zumindest unter kritischen Geistern seine Glaubwürdigkeit verlor. Eine weitere, geradezu prophetische Parallele zu den späteren politischen Ereignissen ergibt sich aus dem Verhalten der Personen nach dem Unfall und ihrer Fahrerflucht. Ragab, der letztlich Schuldige, ist nicht gewillt, die Verantwortung auf sich zu nehmen, und die meisten anderen sind bereit, ihn zu decken, außer Sammara und dem in einer eigentümlichen Wendung plötzlich ernsthaft gewordenen Haschischraucher Anis. Ganz ähnlich wie Ragab verhielt sich aber auch Nasser, wenngleich unter umgekehrten Vorzeichen. Zunächst erklärte er aufgrund der Niederlage pathetisch seinen Rücktritt, dann ließ er sich davon überzeugen, daß er doch gebraucht werde, und trat sein Amt bald wieder an. Wirkliche Konsequenzen hatte die Niederlage für niemanden.

Wirkt der ostentative Nihilismus der Hausboot-Besucher zuweilen ein wenig forciert, liegen den Gestalten jedoch durchaus reale Personen zugrunde, wie Machfus in einigen späteren autobiographischen Erinnerungsbüchern gezeigt hat (etwa dem Band mit Porträts von Freunden und Weggefährten, der auf deutsch unter dem Titel »Spiegelbilder« erschienen ist). Eine ganz besondere Rolle spielt unter den Charakteren des Buchs eine scheinbare Nebenfigur, der alte Diener Amm Abduh. Während die Besucher des Hausbootes kaum mehr als Funktionen des Zeitgeistes sind, diesem ausgeliefert scheinen und ihm keine Charakterfestigkeit entgegenzusetzen wissen — selbst Sammara scheitert mit ihrem Versuch, die Ernsthaftigkeit wiederzugewinnen —, wirkt Amm Abduh wie der Fels in der Brandung und wird genau so, nämlich als urzeitlicher Riese, dargestellt. Er stammt aus einer anderen Welt, die Verdorbenheit der Hausbootbewohner perlt an ihm ab, obwohl er alles aus nächster Nähe mitbekommt.

In der Gruppe der auftretenden Charaktere verkörpert er als einziger den in der Tradition verhafteten Muslim. Jeden Morgen schreitet er mit den Gläubigen zum Gebet, von den Zweifeln der übrigen ist er nicht angekränkelt. Auffälligerweise stört er sich jedoch auch nicht an den Verhaltensweisen der anderen, ja, er hilft ihnen sogar, indem er ihnen Haschisch besorgt und Prostituierte anheuert, obwohl dies seiner eigenen Ethik eigentlich widersprechen müßte. Einerseits verkörpert er somit die positiven, stabilisierenden Aspekte der traditionsverhafteten Elemente der ägyptischen Gesellschaft — ohne ihn würde die Runde auf dem Hausboot gar nicht fortexistieren können! Zum anderen steht er für die Verantwortungslosigkeit und Selbstzufriedenheit der religiösen Traditionalisten. Sie und die Modernen leben aneinander vorbei, als hätten sie nichts gemeinsam und müßten nicht eigentlich voneinander lernen, um sich in der amorphen Realität der modernen Welt zurechtzufinden. Denn sie sitzen in ein und demselben Boot. Mag eine solche, in Ansätzen allegorische Konstellation für das erzählerische Verfahren von Machfus auch typisch sein und dem Leser in zahlreichen seiner Werke begegnen, ist »Das Hausboot am Nil« schon aufgrund seiner Handlungsarmut und der Konzentration auf den Dialog eher ungewöhnlich und gewiß nicht das am leichtesten zu rezipierende Werk von Machfus. Um so erstaunlicher ist, daß dies der erste seiner Romane war, der in Westdeutschland publiziert wurde. 1979 war »Der Dieb und die Hunde« in der DDR erschienen, wo aus politischen Gründen die Übersetzung von Literatur der Dritten Welt — potentieller sozialistischer »Bruderstaaten« — stärker gefördert wurde als in Westdeutschland. Hier war es der bis heute existierende Kleinverlag »Edition Orient«, der auf Anregung des in Deutschland lebenden ägyptischen Literaturwissenschaftlers Nagi Naguib eine arabische Buchreihe herausgab, in der im Jahr 1982 in der vorliegenden Übersetzung von Nagi Naguib »Das Hausboot am Nil« erschien.

Wirklich entdeckt wurde Machfus in Europa jedoch erst dank des Literaturnobelpreises, den er 1988 als erster und bis heute einziger arabischer Autor erhielt. Derzeit ist Machfus der mit Abstand meistübersetzte und meistgelesene Arabisch schreibende Autor der Gegenwart. Bis weit in die siebziger Jahre ist er in Themenwahl und Darstellungsart auf der Höhe seiner Zeit gewesen. Danach haben auch die arabischen Schriftsteller experimentellere und radikalere Wege eingeschlagen, auf denen ihnen Machfus nicht mehr zu folgen bereit war. Er schrieb weiter wie zuvor, und manchmal sogar noch besser, etwa das wunderbar weise Alterswerke »Die Nacht der Tausend Nächte« (1982; dt. 1998), eine Fortschreibung von »Tausendundeiner Nacht«, welche die moralischen Fragen, die Machfus' Kosmos durchziehen, auf märchenhafte Weise noch einmal durchdeklinieren. Das große Thema einer verbindlichen Moral in Zeiten sich auflösender gesellschaftlicher Strukturen und Wertvorstellungen findet man bis heute in allen Werken von Machfus. Dabei ist der Autor mit Werturteilen in der Beschreibung der moralischen Dilemmata seiner Helden zweifellos sehr zurückhaltend. Er moralisiert nicht, jedenfalls nicht offensichtlich. Zwischen den Zeilen wird der erfahrene Machfus-Leser dann aber doch sehr genau die Einstellungen oder Vorbehalte des Autors seinen Figuren gegenüber herauslesen können. Solche Sätze, in denen die Weltanschauung des Autors ungeachtet aller Verschleierungsbemühungen durch das Textgewebe schimmert, tauchen in »Das Hausboot am Nil« verschiedentlich in den Dialogen auf. Wenn die Diskutierenden über den »modernen Sinn (…) von Philosophie, die Diebstahl, Zuchthaus und sexuelle Abnormitäten à la Genet umfaßt«, spotten, charakterisieren sie sich nicht nur in zynischer Absicht selber, sondern tun gleichzeitig auch diese Art von Philosophie als nicht ernst zu nehmend ab. Damit aber läßt der Autor seine Figuren eben die Zeitgenossenschaft verleugnen, die ihre Essenz ausmacht und auf deren literarischen Errungenschaften auch der Roman selber beruht. Sartres 1952 erschienenes Buch über Jean Genet (»Saint Genet, comédien et martyr«), der nach einer Karriere als Dieb ein bekannter Dramatiker wurde und aus seiner Homosexualität keinen Hehl machte, war ja im Gegensatz zur Darstellung bei Machfus durchaus ernst gemeint und richtete sich gegen dieselbe (nach Sartre heuchlerische) bürgerliche Wohlanständigkeit, vor der auch die Figuren auf dem Hausboot fliehen. Die positive Identifikation mit oder zumindest das Verständnis für solche Gestalten wie Genet, wozu Sartre aufrufen will, verweigert indessen Machfus seinen Figuren, deren Zeitgenossenschaft und Modernität dadurch eher oberflächlich wirkt. Die Gesellschaft, die Machfus schildert, ist dekadent, aber die Perspektive, aus der Machfus sie schildert und die auch den geistigen Horizont der Figuren beschränkt, ist es, anders als die sich explizit zur revolutionären Dekadenz bekennende Lebenseinstellung Sartres, nicht.

Man könnte aus diesem Beispiel einen grundsätzlichen Unterschied im Verständnis oder in der Rezeption von Moderne und Avantgarde zwischen Orient und Okzident herauslesen. Bis heute trägt dieser Unterschied dem Westen von seiten vieler traditionell eingestellter Muslime den Vorwurf der Dekadenz und Unmoral ein. Während der Westen die sexuelle Freiheit des Individuums als essentielle Errungenschaft der Moderne begreift, wird diese Freiheit in der arabischen Literatur bis weit in die achtziger Jahre als moralischer Verfall gedeutet. Erst eine jüngere, in den achtziger und neunziger Jahren auftretende Schriftstellergeneration hat es gewagt, mit diesen traditionellen Vorstellungen zu brechen, die sich bei Machfus, aller Modernität der Form ungeachtet, immer wieder finden. Die kleinbürgerlich-konservative Grundhaltung macht die Größe und die Beschränkung des Werks von Machfus gleichermaßen aus. Dieselbe Zurückhaltung, die verhindert, daß sich seine Werke in die höchsten Höhen des Literaturhimmels aufschwingen, sorgt dafür, daß sie nie in extreme Niederungen oder selbstgefällige Experimente abgleiten. Machfus ist eben kein Revolutionär, kein Existentialist, kein Bilderstürmer und in der Kunst kein Experimentator und Avantgardist. Aber zeit seines Lebens ist Machfus auch in politischer Hinsicht immer ein umsichtiger, moderater Geist gewesen, der allen ideologischen Versuchungen widerstanden hat, ohne deswegen auf ein klares Engagement zu verzichten. Seine lesenswerte Nobelpreisrede, die in einen flammenden Appell an die Erste Welt mündet, endlich ihrer Verantwortung gegenüber der Dritten gerecht zu werden, zeugt davon.

In aufgeregten Zeiten wirkt das Machfussche Credo, das persönliche ebenso wie gesellschaftliche Verantwortung betont, auf Konsens bedacht ist und radikal individuellen Lebensentwürfen ebenso eine Absage erteilt wie jeglichem politischen Fanatismus, wenig spektakulär. Es kann passieren, daß man achtlos oder sogar abschätzig darüber hinwegliest. Und doch wird von Jahr zu Jahr klarer, daß es von einem Humanismus zeugt, den nicht nur die arabische Welt heute dringend benötigt.

Stefan Weidner

Köln, Juli 2004

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