8

Jedesmal wenn eine neue abendliche Zusammenkunft beginnt, verdichtet sich das Gefühl der Gegenwart. Das Leben hält an, die Vorstellung vom Ende verschwindet, es bietet sich die seltsame Gelegenheit, das Gefühl der menschlichen Ewigkeit zu erleben. Weil es eine Mondnacht war, hatte er das Neonlicht ausgeschaltet und sich mit dem schwachen Licht einer blauen Lampe an der Außentür begnügt. Die Gesichter der Kameraden waren bleich. Der Mond warf einen silbernen Teppich in Form eines Parallelogramms auf die im Halbkreis sitzende Versammlung.

»Ihr habt sicher Sammaras Artikel über den neuen Film gelesen?«

»Sag besser über Ragab al-Qadi.«

Nein, er las weder Zeitungen noch Zeitschriften. Und wie Ludwig XVI. wußte er nichts von dem, was draußen vor sich ging. Ohne Rücksicht auf Sana sagte Laila Zaidan: »Die Ernsthaftigkeit! Jawohl, mich hat das nicht beeindruckt. Mir war von vornherein klar, daß sie mit einem bestimmten Ziel ganz anderer Art hierhergekommen war.« Sana wandte sich an Ragab: »Steh auf, wir wollen tanzen!« Mit abweisender Gelassenheit antwortete er: »Wir haben keine Musik.«

»Wie oft haben wir ohne Musik getanzt!«

»Gedulde dich, meine Liebe, sonst kann die Pfeife nicht kreisen.«

Er glaubte, daß er der Mittelpunkt des Weltalls sei und daß die Wasserpfeife nur seinetwegen kreise. In Wirklichkeit kreist die Pfeife, weil sich alles im Kreise bewegt. Bewegen sich die Gestirne gradlinig, so müßte man auch in der Haschischhöhle anders verfahren. Gestern nacht war ich von der Ewigkeit vollkommen überzeugt, aber ich vergaß die Gründe, als ich mich ins Amt begab. Khalid Azzuz sagte ironisch: »Ich glaube, der Artikel zählt zur engagierten Literatur, Ragab, was meinst du?«

Ragab antwortete, als säße Sana nicht neben ihm: »Ich betrachte ihn als ersten Schritt und als einen Gruß von ihrer Seite.«

»Das wird dadurch bestätigt, daß sie seit einigen Tagen weggeblieben ist!«

Das erste für ihn nicht sichtbare Viertel des Mondes verlieh der Nacht einen berauschenden Schimmer wie schläfrige Veilchenaugen. Erinnerst du dich, wie müde der Vollmond in den Nächten der Luftangriffe aussah? Da rüstete sich der Held zu einem neuen Feldzug. Und wie alle Eroberer wappnete er sich mit äußerster Härte wie mit einem Schutzschild. Ragab übersah seine Gefährtin noch mehr als bisher und sagte:

»Ich bedankte mich telefonisch und sagte, ich würde sie gern besuchen, fürchtete ich nicht, sie in Verlegenheit zu bringen. Sie aber meinte befremdet, in welche Verlegenheit!«

»Eine eindeutige Einladung.«

»Wenig später oder, wie manche sagen würden, wenige Augenblicke später, klopfte ich schon an ihre Tür, aber in der Klause saß bereits ein Gespenst, unser Freund Ali as-Sayyid.« Alle überschütteten Ali as-Sayyid mit Schmähungen. »Ich bedankte mich, trank meinen Kaffee und beteuerte, ihr Artikel sei imstande, mich völlig zu verwandeln.«

»Heuchler, Sohn eines Heuchlers aus einem Stamm, einer Nation, in der die Heuchelei eine uralte Tradition hat.«

»Ich setzte meinen Charme ein, und ihre Stimme zauberte im Lauf des Gesprächs zarte Töne hervor, wie sie die Zensur nur nach langwierigen, zähen Verhandlungen zuläßt.«

»Arrogante Einbildung!« sagte Ali as-Sayyid, »…das Gespräch war alltäglich, und ihre Stimme völlig normal…«

»Aber du warst ganz vertieft in das Gespräch mit einem Filmproduzenten, und du hast hart gefeilscht…« Ali as-Sayyid stieß ein lautes Gelächter aus. »Die ganze Geschichte drehte sich nur um einen Kasten Whisky, und er wird in unserem verfluchten Boot konsumiert werden.«

»Hat sich die Geschichte auf die zarten Töne beschränkt?« fragte Mustafa Raschid.

»Was erwartet ihr mehr von einem quasi offiziellen Zusammentreffen?«

Und jetzt verschwand die seriöse Dame hinter einer zarten weiblichen Hülle von der Art eines Schmetterlings, der zwischen den Blumen flattert und einer ähnlichen Tätigkeit nachgeht wie Amm Abduh auf der Nilallee.

Schrill und mißtönend wie eine falsch angeschlagene Saite sagte Sana:

»Was für ein Zauberer du bist!«

Er lächelte ihr matt zu, im bläulich-bleichen Licht erschien sein Lächeln wie ein Grinsen: »Meine liebe Kleine!« Sie unterbrach ihn scharf: »Ich bin nicht klein, bitte…«

»Klein an Jahren, aber groß an Würde!«

»Laß die Klischees, die schon seit Ende der Mamlukenzeit verbraucht sind!«

»Und wo sind wir heute, im Vergleich zur Mamlukenzeit«, stöhnte Ali as-Sayyid, »vorausgesetzt, wir gehörten zu den Mamluken!«

Sichtlich beleidigt sagte sie:

»Wie schnell sich die Leute vom Boot in herzlose Bestien verwandeln!«

Bestien mit Herz. Bestien sind sie nur ihren Feinden gegenüber. Ich werde nie den Wal vergessen, der sich von dem Hausboot zurückzog, während er sagte: »Ich bin der Wal, der Jonas rettete.«

Wieviel Millionen und aber Millionen Augen schauten in die im Mondlicht ruhende Nacht. Nichts beweist die Aufrichtigkeit Sammaras mehr als der Zug der Wandervögel. Was aber Sana betrifft, so hat sie trotz ihrer jungen Jahre das Wohnen in den Höhlen vergessen. Er schrie:

»Der gesüßte Tabak schmeckt wie Pech, wie angebranntes Papier.«

Er begann den Tabak in einem Tuch auszupressen. Währenddessen beteiligte er sich an einem Wettrennen und an einem Gewichtheben bei den olympischen Spielen in Japan und stellte neue Rekorde auf. Es läutete, Ragab ging ans Telefon, als hätte er darauf gewartet. Von dem Gespräch konnte man nur einzelne Worte hören, wie: verstanden. gewiß. sofort. Er legte auf und drehte sich zu den Anwesenden um: »Bitte entschuldigt mich!« Er blickte zu Sana hinüber:

»Vielleicht kehre ich später am Abend zurück.« Dann ging er. Das Boot bebte unter seinen starken Tritten. Eine nervöse Bewegung ergriff Sana, und es schien ihnen, daß sie nahe daran sei, in Tränen auszubrechen. Sie blieben jedoch alle stumm. In Sanas Augen wurde eine Frage sichtbar, aber Ali as-Sayyid verneinte sie durch ein Kopfschütteln. Schließlich wandte sich Mustafa Raschid freundlich an Sana:

»Nein… nein… die romantische Epoche ist vorbei, und sogar die realistische liegt im Sterben.«

Während Laila Zaidan ein schadenfrohes Lächeln zu unterdrücken versuchte, sagte sie:

»In unserem Hausboot gilt uneingeschränkt der Grundsatz, daß nichts des Bedauerns wert ist.«

»Es ist keine Rede von Romantik oder Bedauern…«, entgegnete Sana scharf.

»Ich versichere dir«, sagte Ali as-Sayyid, »daß er weggegangen ist, um einen Produzenten zu treffen. Du darfst aber trotzdem nicht vergessen, daß du dich mit einem Mann befreundet hast, der ein berufsmäßiger Frauenheld ist.« Ahmad Nasr stand auf und sagte besänftigend: »Ich bringe dir einen Whisky, aber, ich bitte dich, faß dich wieder!«

Saniya sagte mit überraschender Selbstverständlichkeit: »Wenn das, was du befürchtest, geschehen sollte, dann hast du immer noch Mustafa und Ahmad.« Anis brüllte wild:

»Warum übersehen diese Schurken mich bei ihren Berechnungen?«

Grob fügte er hinzu und betonte dabei die Endsilben nachdrücklich:

»Degenerierte süchtige Schurken!« Lachen erscholl.

»Ist er wirklich gegangen«, fragte Mustafa Raschid, »um Sammara zu treffen?«

»Nein«, antwortete Ali as-Sayyid.

»Es ist nichts Ungewöhnliches, daß er eine Frau verführt.«

»In Gottes Namen«, sagte Laila Zaidan, »sagt mir doch, weshalb sie — wenn nicht seinetwegen — hierhergekommen ist!«

»Alles ist möglich«, entgegnete Ali as-Sayyid. »Aber sie ist nicht naiv, und ich glaube kaum, daß sie mit der Rolle einer vorübergehenden Verehrerin vorliebnehmen könnte.« Mustafa Raschid warf die Frage auf:

»Was verleiht nur manchen Männern eine solche Anziehungskraft?«

Darauf erwiderte Ali as-Sayyid:

»Einem Star wie ihm kommt eben eine Sonderstellung zu.«

»Es ist nicht nur der Ruhm eines Filmstars, auch nicht Gestalt und Schönheit, sondern die rätselhafte Macht des Geschlechts.«

»Die Frauen sollen uns darüber Auskunft geben…«

»Die Frauen lieben, ohne zu verraten, weshalb.«

»Bitten wir die Schilddrüse um Aufschluß…« Sana nahm ein Sitzkissen, ging auf die Veranda und setzte sich dort allein nieder. Ali as-Sayyid fragte Raschid und nickte dabei verstohlen zu Sana hin:

»Verkörpert sie etwa das weibliche Ideal, das du suchst?« Mustafa Raschid antwortete kurz: »Nein.«

»Die Libertinage… die Libertinage ist das Heilmittel für das alles.«

»Ihr Schurken«, sagte Anis unvermittelt, »ihr seid verantwortlich für den Verfall der römischen Kultur.« Sie lachten lärmend, und Nasr sagte zu ihm: »Du bist heute abend nervös und nicht wie sonst.«

»Der Tabak schmeckt wie Pech.«

»Aber er schmeckt öfter so.«

»Und der Mond! Der Ablauf seiner Phasen erinnert mich an die Farce.«

»Die Farce?«

»Die Farce der Farcen!«

Die Haschischpfeife kreiste jetzt ohne Unterbrechung. Sie schwiegen, um die umherschweifenden Seelen zu sammeln. Die Sitzung brachte ein Nichts hervor, das Vergangenheit und Zukunft verschlang. Er sagte sich, er sei eine runde Null, nicht mehr und nicht weniger, aber eine Null ist das größte Wunder. Im Mondschein enthüllte sich das Unbekannte. Von draußen ertönte Amm Abduhs Stimme, die unverständliche Worte sprach. Einige lachten. Jemand sagte, die Zeit verfliegt mit unerhörter Geschwindigkeit. Das Plätschern der Wellen, die an die Tonnen der Hausboote schlugen, wurde vernehmbar. Jawohl, die Phasen des Mondes. Der Stier mit verbundenen Augen. Eines Tages ermahnte mich der Scheich: »Sie neigen zur Gewalttätigkeit, aber Gott liebt nicht die Gewalttätigen.«

Blut floß dabei aus meiner Nase. Der Scheich mochte das gleiche zu dem anderen gesagt haben. Das Blut mochte auch aus der Nase des anderen geflossen sein. Wie kann man überhaupt Sicherheit über etwas erlangen! Die Stimme ertönte wieder: »Die Zeit ist mit unerhörter Geschwindigkeit verflogen.«

»Es ist Zeit«, stöhnte Ahmad Nasr. Damit war das Ende der Sitzung verkündet. Man räkelte sich träge, Ahmad und Mustafa gingen weg, es folgten Khalid und Laila. Ali und Saniya aber zogen sich in das auf den Garten gehende Zimmer zurück. Amm Abduh trat ein, um aufzuräumen. Anis beklagte sich über den schlechten Tabak; der Alte bemerkte nur, daß jetzt alles schlecht sei auf dem Markt. Von der Veranda ertönte ein Husten, Anis erinnerte sich augenblicklich an Sana. Auf allen vieren kroch er vorwärts, lehnte den Rücken an den Türflügel, streckte seine Beine in den Raum und murmelte: »Schöner Abend.«

Sie saß im Dunkeln, der Mond war nur weit hinter dem Boot in Richtung der Straße weitergewandert und hatte seine Lichtspiegelung von der Wasserfläche abgezogen. »Glaubst du, daß er zurückkehrt?«

»Wer?«

»Ragab.«

»Unglücklich ist der Gefragte, der nicht antworten kann.«

»Er hat gesagt, daß er vielleicht gegen Ende des Abends zurückkäme.«

»Vielleicht.«

»Störe ich dich?«

»Gott behüte!«

»Meinst du, ich sollte warten?« Er lachte leicht auf:

»Ein ganzes Volk wartet seit Tausenden von Jahren.«

»Verspottest du mich wie die andern?«

»Keiner hat dich verspottet, es ist nur ihre Art zu reden.«

»Auf jeden Fall bist du der Netteste von allen.«

»Ich?«

»Aus deinem Mund kommt nichts Böses.«

»Weil ich taub bin.«

»Etwas haben wir gemeinsam.«

»Was ist das?«

»Die Einsamkeit.«

»Der Berauschte kennt keine Einsamkeit.«

»Warum flirtest du nicht mit mir?«

»Weil der wahrhaft Berauschte sich selbst genug ist.«

»Was hältst du von einer Fahrt mit dem Segelboot?«

»Meine Füße können mich kaum noch tragen.« Sie seufzte.

»Ich muß also gehen. Es ist keiner da, der mich zum Maidan[10] begleitet!«

»Amm Abduh begleitet den, der keine Begleitung findet.« In den milden Wind mischte sich der kühle Atem der Nacht. Durch die geschlossene Zimmertür hörte man das Geräusch eines unterdrückten Lachens. Der Himmel war durchsichtig und klar und funkelte von Tausenden von Sternen. Mitten darin gewahrte er ein lächelndes Gesicht mit verschwommenen Zügen. In ihm stieg ein unvergleichliches Gefühl auf, das er zuvor nur bei den olympischen Spielen erlebt hatte, als er einen neuen Rekord aufstellte. Da die Zeit mit verwirrender Geschwindigkeit verrann, erschien vor seinen Augen die Tragödie in leibhaftiger Gestalt auf dem Schlachtfeld:

Kambyses saß auf der Tribüne, und hinter ihm stand sein siegreiches Heer in Reih und Glied, zur Rechten seine ruhmreichen Feldherren, und zur Linken saß der gebeugte Pharao. Die gefangenen Soldaten Ägyptens zogen an dem Eroberer vorüber. Plötzlich brach der Pharao in Tränen aus, und auf die Frage des Kambyses nach dem Grund seines Weinens deutete er auf einen Mann unter den Gefangenen, der mit gesenktem Kopf einherging, und sagte:

»Dieser Mann!… Wie oft habe ich ihn auf der Höhe des Ruhms gesehen, es berührt mich schmerzlich, ihn nun in Ketten zu erblicken!«

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