Der Wagen setzte sich in Bewegung. Auf dem Vordersitz saßen Ragab, Sammara und Ahmed Nasr, die übrigen waren auf dem Rücksitz zu einem breiten fünfköpfigen Leib zusammengepreßt. Der Wagen fuhr in Richtung PyramidenAllee durch fast verlassene, menschenleere Straßen. Ragab schlug als Ziel den Sakkaraweg vor. Sein Vorschlag fand Zustimmung sowohl bei denen, die den Weg kannten, als auch bei denen, die ihn nicht kannten. Anis, an die rechte Seite im Auto gequetscht, verharrte stumm in seiner Gallabiya. Sie durchfuhren die Pyramiden-Allee in wenigen Minuten, dann bogen sie in den Sakkaraweg ein. Dort raste der Wagen mit überhöhter Geschwindigkeit den dunklen, verlassenen Weg entlang. Die Fahrbahn wurde durch die Scheinwerfer nur schwach erhellt; sie erstreckte sich endlos ins Dunkle. Auf beiden Seiten war sie von mächtigen Laubbäumen begrenzt, deren Geäst in der Höhe ineinander verschlungen war. Eine stille, ländliche Weite umgab sie, auf der linken Seite der Straße zog sich ein Kanal entlang. Seine Wasserfläche hob sich unter dem schwachen Sternenschimmer durch ihr bleiernes Dunkel von der Umgebung ab. Der Wagen fuhr jetzt noch schneller. Trockene, erfrischende, vom Duft der Pflanzen erfüllte Luft strömte herein. Saniya Kamil mahnte Ragab: »Fahr langsamer!«
»Fahr nicht schneller, als es gut ist für den Zustand von Berauschten«, fügte Khalid Azzuz hinzu. Sammara fragte:
»Lieben Sie den Rausch der Geschwindigkeit?« Er lachte, fuhr etwas langsamer und erwiderte: »Wir statten einem alten pharaonischen Friedhof einen Besuch ab, beten wir al-Fatiha[13].«
Als der Wagen wieder in seine frühere Geschwindigkeit zurück fiel, schlug Khalid vor, eine Weile anzuhalten und sich im Dunkeln ein bißchen die Füße zu vertreten. Alle stimmten zu, der Wagen fuhr langsamer, dann bog er zwischen zwei Bäumen ein und hielt an einer staubigen Stelle. Die Türen wurden aufgerissen, Ahmad, Khalid, Saniya, Laila, Mustafa und Ali stiegen aus. Anis rückte vom Wagenschlag ab und saß jetzt bequemer, schüttelte seine Gallabiya aus und suchte mit einem Fuß nach dem im Gedränge verlorenen Pantoffel. Sie forderten ihn auf, ihnen zu folgen, er sagte nur kurz: »Nein.« Sammara wollte aussteigen, da ergriff Ragab ihre Hand: »Wir dürfen den Vormund nicht allein lassen.« Die Gesellschaft bewegte sich lachend und schwatzend zum Ufer des Kanals hin. Im Schimmer der Sterne verwandelten sich die Gehenden zu Schemen. Bald verschwanden sie ganz, und man hörte aus ihrer Richtung nur noch Stimmen. »Wozu diese Fahrt?« fragte Anis träge.
»Wichtig ist nur die Fahrt, nicht das Wozu«, erwiderte Ragab scherzend.
Sammara protestierte leise gegen diese Anspielung, aber Anis beklagte sich:
»Die Finsternis verführt zum Schlafen…«
»Genieß den Schlaf, Vormund!« sagte Ragab enthusiastisch und wandte sich Sammara zu:
»Wir sollten über unsere Beziehung offen sprechen, so offen, wie es der umgebenden Natur entspricht.«
Der Schlaf fällt einem, der einer Liebeskomödie beiwohnt, schwer. Die Offenheit schmeckt nach Mitternacht auf dem Sakkaraweg. Da schleicht sich ein Arm auf der Lehne des Sitzes entlang. Auf dem Sakkaraweg kann eben alles passieren. »Doch, sprechen wir über unsere Liebe.«
»Na?«
»Unsere Liebe, ja, genau das meine ich.«
»Es fällt mir schwer, zu einem Gott in Beziehung zu treten.«
»Es bedrückt mich, daß unsere Lippen sich noch nicht begegnet sind.«
Sie drehte ihren Kopf zu den Feldern hin, als wollte sie den Grillen und Fröschen lauschen. Sie murmelte, wie schön die Sterne über den Feldern seien. Welche neuen Gedanken mochte sie in ihr Notizbuch eingetragen haben? Werden wir das Glück haben, uns eines Abends auf der Bühne zu sehen und mit den Zuschauern lauthals zu lachen? »Ich weiß, was Sie sagen möchten.«
»Wie?«
»Sie sind nicht wie die anderen?«
»Das sagen Sie.«
»Aber die Liebe…«
»Aber die Liebe!«
»Sie glauben mir nicht!«
Wo bleibt die Aufrichtigkeit im Dunkeln? Was bedeuten unsere Stimmen den Insekten? Du bist in den Vierzigern, und du mußt in den nächsten Filmen andere Rollen übernehmen. Weißt du nicht, daß der mächtige Casanova sich in die Bibliothek des Herzogs zurückzog?
»Sagen Sie bitte nicht, das seien bourgeoise Überbleibsel.«
»Wie soll ich Ihre Angst verstehen?«
»Ich habe keine Angst.«
»Dann ist es ein Problem des Selbstvertrauens.«
»Diese Worte hörte ich Sie einmal im Film sprechen.«
»Vielleicht glaube ich nicht an die Ernsthaftigkeit, aber ich glaube an Sie.«
»Das ist das Problem Don Juans.«
Gespenster auf den Feldern und im Kopf. Das Dorf in vergangenen Tagen: Heirat, Vaterschaft, Ehrgeiz und Tod. Die Sterne haben Billionen Jahre hinter sich, aber von den Sternen der Erde haben sie noch nichts gehört. Keine Gespenster, es sind nur verwilderte, vernachlässigte Bäume mitten auf dem Felde. »Ich kann warten, bis wir heiraten.«
»Heiraten?«
»Aber in mir ist ein Dämon, der sich gegen alles Geregelte auflehnt.«
»Das Geregelte?«
»Sie verstehen alles, aber ich verstehe Sie nicht.« Wo war die Veranda und das Plätschern der Wellen, die Wasserpfeife, der Geruch des Wassers und Amm Abduh? Und die Einfälle, die wie Blitze durch den Kopf schossen, gegen die Schatten der Laubbäume prallten und erloschen, wo? »Warum haben Sie die Heirat mit diesem angesehenen Mann abgelehnt?«
»Er konnte mich nicht überzeugen.«
»Sie haben ihn also nicht geliebt?«
»Wenn Sie so wollen…«
»Er ist wie ich in den Vierzigern?«
»Nein, das nicht.«
»Die Überzeugung ist wichtig bei einer arrangierten Ehe, nicht in der Liebe.«
»Das weiß ich nicht.«
»Und das Geschlechtliche?«
»Eine Frage, die unbeachtet bleiben kann.« Anis schrie mit einer Stimme, die die Stille der Nacht zerriß:
»Welche Problematisierung des Alters, der Liebe und des Geschlechts, ihr Kinder der Sprachwissenschaft…« Sie drehten sich erschreckt um, dann lachten sie: »Ich dachte, du schläfst«, sagte Ragab. »Wie lange bleiben wir noch in diesem Gefängnis?«
»Wir sind hier erst ein Stündchen.«
»Warum haben wir nicht Selbstmord begangen?«
»Wir versuchten es mit der Liebe.«
Aus der Dunkelheit drangen die Stimmen der Zurückkehrenden, vereinzelt wurden Schatten sichtbar. Sie kamen zum Wagen und versammelten sich davor. Ja, mein Lieber, man hätte uns in dieser Verlassenheit leicht umbringen können. Wie schade, vorbei sind die Tage der Raubritter und Strolche. Ohne die Scham der falschen Pionierin, sagte Khalid, hätte er beinahe die Ursünde begangen.
»In der Dunkelheit entschlossen wir uns, unsere Fortschrittlichkeit auf die Probe zu stellen«, sagte Mustafa Raschid. »Wir wetteiferten im Bekenntnis unserer Verfehlungen.« Ragab fand die Idee originell, worauf Mustafa fortfuhr: »Jeder beichtete seine Sünden.«
»Sünden?«
»Ich meine das, was die Allgemeinheit dafür hält.«
»Und wie war das Ergebnis?«
»Wunderbar.«
»Wie viele davon sind Verbrechen?«
»Dutzende.«
»Und wie viele Vergehen?«
»Hunderte.«
»Hat keiner von euch eine gute Tat begangen?«
»Nur Ahmad Nasr.«
»Ihr meint seine Treue zu seiner Ehefrau?«
»Und zu der Finanzordnung und zu den Vorschriften für Lagerung und Einkäufe.«
»Wie habt ihr euch selbst eingestuft?«
»Wir kamen überein, daß wir Naturmenschen sind, denen nichts angekreidet werden kann. Die Moral, nach der wir schuldig sind, ist überholt, sie gehört einer vergangenen Epoche an. Wir sind Pioniere einer neuen, aufrichtigen Moral, die die Gesetzgebung noch nicht erfaßt hat.«
»Bravo, bravo.«
Er vertiefte sich in den Anblick der Bäume, die den Weg in unvergleichlich ästhetischer Vollkommenheit zu beiden Seiten einfaßten. Änderten sie ihre Plätze, so wären Wissenschaft und Erkenntnis dahin. Da war eine Schlange, die um einen Ast kroch und etwas sagen wollte. Ja, sagen Sie etwas, das hörenswert ist. Aber verflucht sei das Getöse. »Laßt mich hören!« Sie lachten über sein Geschrei. »Was möchtest du hören?« fragte Mustafa. Sie drängten sich ins Auto, und er quetschte sich wieder gegen die Tür, und die Schlange verschwand. »Jetzt fährt euch ein moderner Fahrer«, sagte Ragab. Der Wagen setzte sich in Bewegung, der Motor heulte auf wie ein Sturmwind. Beständig erhöhte er seine Geschwindigkeit. Hysterisches Gelächter brach aus. Abgerissene Wortfetzen waren zu hören. Protestierende Rufe und Hilfeschreie erhoben sich. Fliehende Bäume jagten an ihnen vorüber. Ein wildes Gefühl überfiel die Körper, als stürzten sie in einen Abgrund, und die erschreckende Erwartung erfüllte sie, in der Tiefe aufzuprallen.
»Wahnsinn. Das ist Wahnsinn!«
»Wir werden unbarmherzig in den Tod gefahren.«
»Halt! Wir müssen wieder zu Atem kommen.«
»Nein… nein… auch der Wahnsinn hat eine Grenze.« Aber Ragab hob den Kopf in einem wilden Rausch, gab Vollgas und schrie dabei wie ein Indianer. Sammara berührte seinen Arm und flüsterte: »Bitte…«
»Laila weint«, sagte Khalid nervös, »nimm Vernunft an!« Ah, da verfliegen die Phantasien, und im Kopf bleibt nur ein hoher Blutdruck zurück. Der Herzschlag setzt aus wie in den schlimmsten Krisen der Sucht. Schließ die Augen, damit du nicht den Tod siehst.
Plötzlich ein entsetzlicher Schrei. Erschauernd öffnete er die Augen und sah einen schwarzen Schatten durch die Luft fliegen. Der Wagen wurde gewaltig hin- und hergerissen und drohte umzustürzen. Das plötzliche Bremsen warf sie durcheinander, sie flogen gegen Sitze und Türen. Ein erbarmungswürdiges Stöhnen durchfuhr sie. »Ein Mensch wurde zerschmettert.«
»Zehnfach getötet!«
»So mußte es enden!«
»O Unglücksnacht!«
»Nehmt euch zusammen!« schrie Ragab mit rauher Stimme. Er erhob sich leicht, um nach hinten zu sehen, setzte sich aber wieder und fuhr weiter.
Ahmad Nasr beugte sich nach vorn, wie um etwas zu fragen, doch der andere sagte entschlossen: »Wir müssen fliehen.«
Ein tödliches Schweigen befiel sie; er aber sagte weiter: »Das ist die einzige Lösung.« Keiner erhob Einspruch, bis Sammara flüsterte: »Vielleicht braucht er Hilfe?«
»Es ist zu Ende mit ihm.« Etwas zu laut sagte sie: »Das kann man nicht mit Sicherheit sagen.«
»Wir jedenfalls sind keine Ärzte.« Sie richtete ihre Frage an alle: »Was sagt ihr dazu?«
Als niemand einen Laut von sich gab, murmelte sie: »Ich glaube…«
Verärgert bremste er und brachte den Wagen mitten auf der Straße zum Stehen und wandte sich an die anderen: »Es soll morgen nicht gesagt werden, ich allein hätte mich zum Fliehen entschlossen. Ich stehe zur Verfügung; was denkt ihr?«
»Antwortet! Ich verspreche, mich eurem Beschluß zu unterwerfen«, schrie er aus Protest gegen ihr Schweigen. »Wir müssen fliehen, das ist die einzige Lösung«, erwiderte Khalid.
Und Ahmad Nasr sagte:
»Bring uns weg von hier, damit wir an einem sicheren Ort darüber nachdenken können, was wir tun sollen.«
»Wir haben keine Zeit, darum herumzureden. Ich möchte es jetzt klipp und klar wissen…« Darauf sagte Ali as-Sayyid entschieden:
»Los, wir müssen fliehen! Wer anderer Meinung ist, soll sich jetzt melden.« Verängstigt sagte Mustafa: »Mach zu, sonst verpassen wir diese Chance!« Laila weinte und steckte Saniya an. Da wandte sich Ragab Sammara zu:
»Sie sehen, es ist ein Mehrheitsbeschluß.« Als sie stumm blieb, fuhr er wieder an und sagte dabei: »Wir sind auf der Erde, nicht auf der Bühne.« Das Auto fuhr in gemäßigtem Tempo, der Fahrer blieb unbewegt. Tödliche Stille lastete auf allen. Anis schloß die Augen, aber er sah den schwarzen Schatten durch die Luft fliegen. Wie? Litt er noch immer? Wußte er nicht, warum und wie er getötet worden war? Oder warum er gelebt hatte? War er endgültig dahin? Wird das Leben weitergehen, als wäre nichts geschehen?
Der Wagen fuhr weiter und hielt erst vor dem Hausboot. Schweigend stiegen sie aus. Ragab blieb zurück, um das Auto vorn zu untersuchen. Amm Abduh empfing sie stehend, aber keiner beachtete ihn. Im Schein der Lampe wurden ihre bleichen, niedergeschlagenen Gesichter erkennbar. Ragab folgte ihnen mit starrer Miene, die man an ihm nicht gewohnt war. Das Schweigen wurde so unerträglich, daß Ali as-Sayyid sagte: »Es ist nicht völlig ausgeschlossen, daß es ein Tier gewesen ist.« Ahmad Nasr erwiderte aber:
»Es war der Schrei eines Menschen.«
»Meint ihr, man wird uns auf die Spur kommen?«
»Mit Grübeleien gewinnen wir nichts als Schlaflosigkeit.«
»Wir haben es nicht gewollt«, murmelte Ragab. »Aber die Flucht ist ein Verbrechen«, erwiderte Sammara. »Sie war nicht zu umgehen, und alle stimmten zu«, entgegnete er scharf und lief zwischen dem Wandschirm und der Veranda hin und her.
»Ich bin zutiefst betroffen, aber es ist besser, daß wir die ganze Sache vergessen.« »Wenn wir vergessen können.«
»Wir müssen vergessen, irgendein anderes Verhalten hätte den Ruf dreier Damen ruiniert, die anderen in Schwierigkeiten und mich vor Gericht gebracht.«
Amm Abduh trat ein. Sie blickten ihn unwillig an, aber er fragte, ohne irgend etwas zu bemerken: »Wünschen Sie etwas?« Ragab winkte ab, und er ging und sagte: »Ich gehe zur Gebetskapelle…«
Nachdem der Alte gegangen war, fragte Ragab, ob er etwas verstanden haben könnte. »Er versteht nichts«, erwiderte Anis. »Es ist besser, daß wir gehen«, sagte Ragab erregt. »Bald ist Sonnenaufgang«, bekräftigte Khalid seine Aufforderung.
Sie gingen, Khalid, Ali, Laila, Saniya, Mustafa und Ahmad. »Es tut mir leid«, sagte Ragab zu Sammara, »Sie in Ihrem Frieden gestört zu haben. Aber kommen Sie, ich fahre Sie nach Hause.«
Angeekelt schüttelte sie den Kopf: »Nicht in diesem Auto…«
»Glauben Sie an Geister?«
»Nein, aber es hat mich selbst überfahren.«
»Übertreiben Sie nicht!«
»Wahrhaftig, ich bin wie zerschlagen.«
»Auf jeden Fall werde ich Sie nicht hierlassen. Wir werden zusammen laufen, bis Sie ein Verkehrsmittel finden.« Er stand vor ihr, bis sie sich erhob.