16

Die Stimme Amm Abduhs, die zum Frühgebet rief, tönte zu ihm herüber. Er fühlte sich einsam, es wäre besser, jemanden einzuladen oder sich jemandem anzuschließen. Er fuchtelte mit den Armen in der Dämmerung und sagte sich, daß der geheimnisvolle Zauber verraucht und daß er ernüchtert sei. Er lachte über den merkwürdigen Einfall, aber er war ernüchtert, ernüchtert. Die Dämmerung sprach ohne Stimme, und vom Wal war keine Spur zu sehen. Wo war der Rest des Stoffs? War er vom Auto überfahren worden? Al-Hakim bi Amri 'l-Allah[14], der Herrscher von Gottes Gnaden, tötete einst unbekümmert. Als er glaubte, daß er Gott selbst sei, verbot er dem Volk, al-Muluhiya, die grüne Blättersuppe, zu essen. Warum hast du nachgegeben und bist mit ihnen ausgefahren? So bist du zum Mörder geworden. Die wahnsinnige Geschwindigkeit der Mord und die Flucht, die eigenartige Diskussion, die Abstimmung in einer blutigen Demokratie. Die Frau und das Kind wurden ins Leben zurückgerufen und starben wieder. Heute nacht werden nur die Toten schlafen. Das Geschrei, das der Gestirne spottet. Ein Unbekannter, aus einem unbekannten Land, zu etwas Unbekanntem unterwegs. Wann wird sich das Gehirn über sich erbarmen und sich dem Schlaf überlassen. Der Herrscher von Gottes Gnaden bestieg den Berg, um sein heiliges Amt auszuüben und kehrte nicht zurück, bis heute nicht. Keine Spur wurde von ihm gefunden, und bis zur Stunde hat man nicht aufgehört, nach ihm zu suchen. Deshalb sage ich euch, daß er noch lebt. Ein Blinder hat ihn gesehen, aber keiner hat ihm geglaubt. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß er den Berauschten in Lailat al-qadr[15], in der heiligen »Nacht der Bestimmung«, erscheint. Sie hatten einen Unbekannten getötet, wie sie den Schlaf getötet hatten. Seine wirren Blicke blieben am oberen Rand der Kühlschranktür haften, zum ersten Mal bemerkte er eine Ähnlichkeit zwischen diesem Rand und der Stirn Ali as-Sayyids; auch hatte er zusammengekniffene lachende Augen wie Ali as-Sayyid. Man erzählt, daß der Herrscher von Gottes Gnaden getötet worden sei. Doch nein, einer wie er konnte nicht getötet werden, er konnte nur sich selbst töten. Er warf vom Berg herab einen Blick auf Kairo und befahl dem Berg, Kairo zu zertrümmern. Als der Berg jedoch nicht gehorchte, begriff er, daß alle seine Anstrengungen sinnlos waren. Darum beging er Selbstmord. Deshalb sage ich, daß er noch lebt, und es ist nicht ausgeschlossen, daß er den Berauschten in der heiligen »Macht der Bestimmung« erscheint. Die Stimme Amm Abduhs tönte aus dem Garten zu ihm herüber, er rief ihn. Der Alte kam und sagte: »Sie haben noch nicht geschlafen?« Anis fragte ihn ungeduldig: »Hast du den Rest des Stoffs aufgehoben?«

»Nein.«

»Ich habe ihn überall gesucht, und ich weiß nicht, wo er geblieben ist.«

»Warum haben Sie nicht geschlafen?«

»Der Rausch ist mir auf dieser Unglücksfahrt vergangen…«

»Sie müssen ins Bett gehen, Sie müssen schlafen.« Als sich der Alte anschickte, wegzugehen, fragte er ihn: »Amm Ahduh, hast du in deinem Leben einmal jemanden umgebracht?«

»Uoh!«

Er stöhnte vor Ärger: »Geh!«

Er lief auf und ab, bis er müde wurde, dann ging er zur Veranda und warf sich auf ein Kissen, aber die Schärfe seines wachen Bewußtseins ließ ihn an Schlaf nicht denken. Auch daß im Hausboot kein Stoff vorhanden war, steigerte seine Unruhe und seine Ängste. Er sagte sich, er müsse sich mit der Geduld der Sterne wappnen. Die Straßenlampen erloschen, und die Natur begann ihre Farbigkeit zurückzugewinnen. Der erste Schein der Dämmerung kroch herauf und malte den Horizont dunkel violett. Frühdunst zog um Akazien und Lebachbäume. Verbissen und ohne Hoffnung erhob er sich und steckte seinen Kopf lange unter den Wasserhahn. Er nahm eine Milchflasche aus dem Kühlschrank, trank sie lustlos leer, dann kochte er sich Kaffee. Es wurde ihm eng, und so zog er sich an und verließ das Hausboot früh, um bis Dienstbeginn in den Straßen umherzuschlendern. Zum ersten Mal betrat er die Straße nüchtern, weit entfernt von Rausch, Einbildungen und Gelächter. Die Straße dehnte sich vor ihm aus, begrenzt von den aufragenden Bäumen, deren Spitzen in der Ferne ineinander verschlungen schienen. Auch nahm er erstmals die einfachen und die vergoldeten Hausboote mit ihren Vorgärten wahr.

Jedes Hausboot hatte sein eigentümliches Aussehen, seine eigene Farbe, seine Jugend und sein Alter. Jedes Hausboot hatte auch seine besonderen Gesichter, die man an den Fenstern sah. Besonders fiel ihm eine Dattelpalme voll gelber Datteln auf, er hatte sich kaum vorstellen können, daß am Ufer eine Palme wuchs. Es gab auch andere Bäume unterschiedlicher Größe und Gestalt und mit verschiedenartigen Blüten, deren Namen und Eigenschaften ihm unbekannt waren.

Eine Kamelkarawane zog an ihm vorbei, von einem Treiber angeführt. Er fragte sich, woher sie kämen und wohin sie gingen. Wie eine Gewißheit überkam ihn das deutliche Gefühl, daß sie sich eingezwängt, erregt und voller Mühsal dahinschleppte. Er las über dem Eingang eines Hausboots ein Schild: Möblierte Etage zu vermieten. Da war eine leere Wohnung, und da war eine Frau, die aus der oberen Etage nach ihm schaute. Alter und Aussehen waren gar nicht so übel. Man konnte sich vorstellen, welche Aussichten einen neuen ledigen Mieter dort erwarteten. Wie aber konnte der Tag eines nüchternen Menschen verstreichen? Ein Baum stand ihm im Wege. Vor seiner Mächtigkeit und seinem Umfang blieb er stehen. Er hob seine Augen zu den sich verzweigenden Ästen empor, die ihm wie eine gewaltige, in den durchsichtigen morgendlichen Wolken schwebende Krone erschienen. Dann schaute er nach unten zu dem uralten Stamm, dessen kahle Wurzeln sich in den Boden eingruben, Fingernägeln gleich, die sich in einem schmerzhaften, heftigen Sturz in die Erde krallten. An einer Stelle war die Rinde aufgerissen; das fahlgelbe Innere, einem mannshohen gotischen Tor gleich, lud ihn zum Eintreten ein. Allein das hohe Alter des Baums, dachte er, müsse genügen, alle Zweifler von der Unvernunft der Pflanzen zu überzeugen. Er ging seines Weges, während er in seiner Umgebung aufmerksam umherschaute und sich selbst staunend fragte, ob die Farbe des Seins rot oder gelb und ob die Rinde des Baumes der Haut der Toten ähnlich sei. Aber wann hatte er die Haut eines Toten gesehen? Er hatte das Gefühl, daß irgend etwas ihn hartnäckig herausfordere und ihn schmerzhaft auf seinem Weg behindere. Er erinnerte sich plötzlich, daß er sich nicht rasiert hatte, daß er dies niemals im Rausch vergessen hatte und daß dies die Dinge schwieriger machte. Eine Stimme fragte ihn nach der Uhrzeit, aber er kümmerte sich nicht darum. Er ging schwerfällig. Ein Zeitungsverkäufer winkte ihm mit der Morgenzeitung, aber er ging gleichgültig an ihm vorüber. Seit Menschengedenken hatte er keine Zeitung mehr gelesen, vom Geschehen wußte er lediglich das, was die Berauschten in ihren endlosen Halluzinationen erzählten. Wer waren die Minister, was war mit der Politik, und wie standen die Dinge? Schau, mein Herr, solange du durch eine fast menschenleere Straße läufst, ohne von Räubern überfallen zu werden, solange Amm Abduh dir jeden Abend den Stoff bringt, solange du genug Milch im Kühlschrank hast, so lange laufen die Dinge mit Sicherheit gut. Doch er wußte immer noch nicht, wer die Verantwortung trug für die Schmerzen des Nüchternseins, für die Verkehrsunfälle und für die geheimnisvollen Gespräche der Nacht. Er betrat das Amt vor der Zeit. Sowie er sich auf seinen hölzernen Stuhl niedergelassen hatte, überfiel ihn das unwiderstehliche Bedürfnis zu schlafen. Er warf seinen Kopf auf den Schreibtisch und schlief fest ein. Seine Kollegen forderten ihn zu einer Diskussion über die Disziplinarordnung auf, doch er erwiderte, daß die Ämter am besten nach den Zehn Geboten reformiert werden sollten, vor allem nach den Geboten des Stehlens und Hurens. Er verließ das Zimmer und ging ins Dorf. Seine Spielkameraden umringten ihn und warfen mit Erde nach ihm, er stürzte sich auf sie, einen Stein in der erhobenen Hand, Adila aber ergriff seinen Arm und sagte: »Ich bin deine Frau, du sollst mich nicht schlagen.« Er fragte sie nach ihrem Kind, und sie gab zur Antwort, es sei ins Paradies vorausgegangen und reiche den Seligen frisches Wasser. Er freute sich sehr und meinte, ein langes Leben sei verronnen, während er sich vergeblich daran zu erinnern versuchte. Der Weg zum Paradies war von hohen Laubbäumen eingefaßt, nachts war es beschwerlich, auf ihm zu gehen, aber der Wagen legte ihn in Sekunden zurück, in entsetzlichen Sekunden. Ein Mensch schrie, aber seine Stimme erstickte in seiner Kehle, und keiner hörte ihn. Etwas flog durch die Luft und blieb auf einem Ast liegen. Staunend sagte er: »Also du bist es.« Sie erwiderte: »Wie konntest du mich nicht erkennen!« Es sei die Nacht, Schwärze tropfe herab, sagte er, er könne nichts sehen und rede viel, aber vergeblich. Sie sprach: »Sag, was du möchtest!« Er entgegnete: »Ich suchte es überall, aber jetzt kommt es als schwarze Wolke; bald wird ein kurzer Schauer vom Himmel niedergehen, doch es wird genug sein, um die Lippen des Gemarterten zu benetzen.«

Er streckte seine Arme nach ihr aus, aber er sah Amm Abduh vom anderen Ende des Weges heranreiten; der Alte füllte den ganzen Raum aus. Grundlose Furcht ergriff ihn, er verabschiedete sich schnell von ihr und rannte davon, so schnell er konnte, ohne anzuhalten und ohne sich umzudrehen. Aber er fühlte den Alten hinter sich, als strecke er schon die Hand nach ihm aus. Er erreichte das Hausboot, stürzte über den Steg und warf die Tür hinter sich zu. Zu seinem Erstaunen fand er die Gesellschaft vollständig beisammen. Die Gefährten scherzten wie gewöhnlich, er umarmte sie und konnte sich nicht fassen. Er erzählte ihnen, daß er einen schrecklichen Traum gehabt habe. Auf die Frage Ragabs, was er geträumt habe, erwiderte er, daß er die Gesellschaft in einem Auto versammelt gesehen habe und daß er, Ragab, in rasender Geschwindigkeit dahingefahren sei. Sie hätten einen Mann überfahren, der durch die Luft geflogen sei. Darauf lachten die Gefährten lange, und Mustafa riet ihm, sich im Schlaf gut zuzudecken. Er stöhnte, man möge ihm die Wasserpfeife reichen, und Sammara, die die Wasserpfeife bediente, gab sie ihm, er sog lange und tief, bis ihm der Kopf schwindelte. Er lachte und sagte, daß sie ihr das doch wohl vorausgesagt hätten. Da legte sie die Pfeife beiseite, stand auf, knotete einen Schal um ihre Hüften und tanzte einen Bauchtanz. Anis wollte die anderen zum Applaus auffordern, aber plötzlich sah er niemanden außer ihr und sich. Im Hausboot waren nur noch sie allein. Er klatschte Beifall für sie, er umarmte sie und sagte, er habe überall nach ihr gesucht, er habe sogar Amm Abduh nach ihr gefragt. Plötzlich pochte es laut an die Tür, und Amm Abduhs Stimmte ertönte, er schrie: »Mach auf!« Er zog sie an der Hand hinter sich her, sie versteckten sich im Kühlschrank und schlossen die Tür. Das Klopfen wurde so heftig, daß alles erbebte. Das Beben dauerte an, er schlug die Augen auf und sah einen Kollegen, der ihn wachrüttelte: »Gut geschlafen?« Er rieb sich die Augen.

»Gehen Sie zum Amtsleiter«, sagte der andere. »Er hat sie zu sich beordert.«

Er schaute auf seine Uhr, es war schon nach zehn. Taumelnd stand er auf, es wurde ihm bange. Er ging in die Toilette, wusch sich das Gesicht und begab sich in das Büro des Amtsleiters. Demütig stand er vor ihm. Der andere musterte ihn kalt: »Schöne Träume!«

Vor Schmerz und Verdruß schwieg er. Der Mann sagte: »Mit eigenen Augen habe ich Sie fest schlafen gesehen, als ich vorbeiging.«

»Ich bin krank.«

»Sie hätten sich krankschreiben lassen sollen.«

»Ich fühlte mich erst krank, als ich schon hier war.«

»In Wahrheit sind Sie ein ewig Kranker, und für die gibt es keine Heilung.«

Zorn durchfuhr ihn. Rauh stieß er hervor: »Nein…«

»In was für einem Ton sprechen Sie mit mir?«

»Ich habe gesagt, ich bin krank. Spotten Sie nicht über mich!«

»Sie sind zweifellos verrückt geworden.« Mit donnernder Stimme schrie er: »Nein…«

»Wahnsinniger, das sind die Folgen der Sucht.«

»Es wäre besser. Sie achteten auf Ihre Worte!« Der Mann sprang bleich auf und schrie: »Unverschämter, Süchtiger!«

Besinnungslos griff Anis nach dem Löscher und warf ihn auf den Amtsleiter. Er traf ihn auf der Brust über der Krawatte. Bebend drückte der Amtsleiter auf den Klingelknopf, und Anis schrie:

»Noch ein Wort, und ich töte Sie!«

Im Büro umgab ihn drückendes Schweigen, er nahm keinen mehr wahr. Er saß in sich versunken, seiner Umgebung völlig entrückt. Nicht einmal den Schmerz fühlte er mehr. Kurz vor Dienstschluß trat sein Kollege an ihn heran und flüsterte mitleidig:

»Es tut mir leid, dir mitteilen zu müssen, daß eine Anordnung gekommen ist, du bist von der Arbeit suspendiert. Du wirst dich vor der Dienstaufsichtsbehörde verantworten müssen.«

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