10.
Dienstagnachmittag, der achte Dezember
Erik wusste, dass er nicht einschlafen würde, hat es aber trotzdem versucht. Er ist die ganze Zeit hellwach gewesen, obwohl Kriminalkommissar Joona Linna sehr ruhig auf der Landstraße 275 über Värmdö vor den Toren Stockholms gefahren ist. Sie sind unterwegs zu dem Sommerhaus, in dem sich Evelyn Ek aufhalten soll.
Als sie an einem alten Sägewerk vorbeikommen, beginnt loser Schotter unter dem Auto zu knirschen. Die Nachwirkungen der Kodeinkapseln machen Eriks Augen lichtempfindlich und trocknen sie aus. Er blinzelt auf eine Wochenendhaussiedlung aus Blockhäusern auf winzigen Rasengrundstücken hinaus. Die Bäume stehen kahl in der sterilen Dezemberkälte. Das Licht und die Farben lassen Erik an die Schulausflüge seiner Kindheit zurückdenken. Der Geruch morscher Stämme, die Pilzdüfte aus dem Erdreich. Seine Mutter arbeitete halbtags als Schulkrankenschwester am Gymnasium von Sollentuna und war felsenfest vom Nutzen frischer Luft überzeugt. Es war der Wunsch seiner Mutter gewesen, dass er Erik Maria getauft wurde. Den ungewöhnlichen Namen hatte er einer Sprachreise nach Wien zu verdanken, wo seine Mutter ins Burgtheater gegangen und Strindbergs Der Vater mit Klaus Maria Brandauer in der Hauptrolle gesehen hatte. Die Vorstellung hatte sie so beeindruckt, dass ihr der Name des Schauspielers nicht mehr aus dem Sinn ging. Als Kind hatte Erik stets versucht, seinen zweiten Vornamen zu verschweigen, und in der Pubertät identifizierte er sich mit dem Lied A Boy Named Sue auf einer Platte Johnny Cashs, die im St. Quentin-Gefängnis aufgenommen worden war. »Some gal would giggle and I’d get red, and some guy ’d laugh and I’d bust bis head,
I tellya, life ain’t easy for a boy named Sue.«
Eriks Vater, der bei der Sozialversicherungskasse arbeitete, hatte sich Zeit seines Lebens eigentlich immer nur für eins interessiert. Sein Hobby war das Zaubern gewesen, und er verkleidete sich regelmäßig mit einem selbst genähten Umhang, einem gebrauchten Frack und einer Art zusammenklappbaren Zylinder auf dem Kopf, den er seinen Chapeau claque nannte. Erik und seine Freunde mussten auf Holzstühlen in der Garage Platz nehmen, wo er eine kleine Bühne mit geheimen Fallluken gebaut hatte. Die meisten seiner Tricks hatte er im Katalog von Bernandos magic in Bromölla gefunden: Zauberstäbe, die raschelten und aufklappten, Bälle, die in Metalltassen verschwanden und wieder auftauchten, ein Kescher aus Samt mit einem Geheimfach und die blitzblanke Handguillotine. Mittlerweile denkt Erik belustigt und zärtlich an seinen Vater zurück, der mit dem Fuß das Tonbandgerät mit der Musik Jean Michel Jarres einschaltete, während er magische Bewegungen über einem schwebenden Totenschädel vollführte. Erik hofft von ganzem Herzen, dass sein Vater nie gemerkt hat, wie sehr er sich schämte, als er älter wurde und hinter dem Rücken des Vaters zu seinen Freunden gewandt die Augen verdrehte.
Es gab wohl keine tieferen Gründe dafür, warum Erik Arzt wurde. Er hatte sich im Grunde nie einen anderen Beruf gewünscht, sich nie ein anderes Leben vorgestellt. Er entsinnt sich all der verregneten letzten Schultage, der gehissten Flagge und der Sommerlieder. Er hatte immer die besten Noten in allen Fächern, seine Eltern verließen sich darauf. Seine Mutter sprach oft darüber, dass die Schweden, die ihren Wohlfahrtsstaat so selbstverständlich nahmen, verwöhnt waren, obwohl er aller Wahrscheinlichkeit nach nur eine kurze historische Episode bleiben würde. Sie glaubte, dass das schwedische System mit kostenloser ärztlicher und zahnärztlicher Versorgung, kostenloser Kinderbetreuung und Schullaufbahn, kostenlosen Universitäten jederzeit verschwinden konnte. Aber jetzt gab es für ganz gewöhnliche Jungen oder Mädchen die Chance, zu studieren und an allen Universitäten des Landes Arzt, Architekt oder Doktor der Volkswirtschaft zu werden, ohne vermögend zu sein oder Stipendien zu bekommen.
Das Gefühl, diese Chancen zu erkennen, war ein Privileg, das ihn wie ein goldener Schimmer umschloss. Es schenkte ihm als jungem Mann einen Vorsprung und eine Zielstrebigkeit, möglicherweise jedoch auch einen gewissen Hochmut.
Er weiß noch, wie es war, als Achtzehnjähriger in Sollentuna auf der Couch zu sitzen, seine glänzenden Noten anzustarren und anschließend den Blick durch das schlicht möblierte Zimmer schweifen zu lassen. Die Bücherregale mit den Schmuckgegenständen und Souvenirs, die Fotos in ihren Rahmen aus Neusilber, Bilder von seiner Konfirmation und der Hochzeit und dem fünfzigsten Geburtstag der Eltern, gefolgt von etwa zehn Bildern ihres einzigen Sohns, vom pummeligen Baby im Spitzenkleid bis zum grinsenden Jüngling im Röhrenanzug.
Seine Mutter trat ins Zimmer und gab ihm die Bewerbungsformulare für das Medizinstudium. Sie behielt wie immer Recht. Als er im Karolinska-Institut sein Studium begann, fühlte er sich sofort wie zu Hause. Als er sich im Fachbereich Psychiatrie spezialisierte, erkannte er, dass der Beruf des Arztes besser zu ihm passte, als er zugeben wollte. Nach dem achtzehnmonatigen Dienst in verschiedenen Fachbereichen, der verlangt wurde, bevor die Sozialbehörde einem die Approbation erteilte, hatte er für Ärzte ohne Grenzen gearbeitet. Es hatte ihn nach Kismaayo südlich von Mogadischu in Somalia verschlagen. Es war eine sehr intensive Zeit in einem Feldlazarett gewesen, dessen Ausrüstung aus ausgemustertem schwedischen Krankenhausmaterial, Röntgengeräten aus den Sechzigern, abgelaufenen Medikamenten, rostigen und fleckigen Pritschen aus geschlossenen oder modernisierten Krankenhausstationen bestand. In Somalia war er zum ersten Mal schwer traumatisierten Menschen begegnet. Kindern, die nicht mehr spielen wollten, die apathisch waren, Jugendlichen, die tonlos aussagten, wie man sie gezwungen hatte, grauenhafte Verbrechen zu begehen, Frauen, die so misshandelt worden waren, dass sie die Sprache verloren hatten und nur noch ausweichend lächelten und niemals aufblickten. Er hatte gespürt, dass er daran arbeiten wollte, Menschen zu helfen, die von den Demütigungen gefangen gehalten wurden, die sie erlitten hatten, die gepeinigt wurden, obwohl ihre Peiniger längst verschwunden waren.
Erik kehrte heim und absolvierte in Stockholm seine Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie. Aber erst als er sich im Bereich Psychotraumatologie und Katastrophenpsychiatrie spezialisierte, bekam er Kontakt zu diversen Theorien über Hypnose. Es war die Schnelligkeit, die ihn an der Hypnose faszinierte, dass sich der Psychologe mit ihrer Hilfe so rasch dem Ursprung des Traumas nähern konnte. Erik erkannte, wie ungeheuer wichtig diese Schnelligkeit war, wenn man mit Kriegsopfern und den Opfern von Naturkatastrophen arbeiten wollte.
Seine Grundausbildung in Hypnose bekam er durch die European Society of Clinical Hypnosis und bald darauf wurde er Mitglied der Society for Clinical and Experimental Hypnosis, des European Board of Medical Hypnosis und des Schwedischen Vereins für klinische Hypnose und korrespondierte jahrelang mit Karen Olness, jener amerikanischen Kinderärztin, deren bahnbrechende Methoden, chronisch kranke und unter starken Schmerzen leidende Kinder zu hypnotisieren, immer noch das sind, was ihn am meisten beeindruckt hat.
Fünf Jahre lang behandelte Erik für das Rote Kreuz in Uganda traumatisierte Menschen. Während dieser Jahre hatte er keine Zeit, die Hypnose als Behandlungsform zu testen und zu entwickeln, die Situationen waren viel zu überwältigend und akut, sodass es fast immer bloß darum ging, grundlegende Bedürfnisse zu befriedigen. Während des gesamten Zeitraums arbeitete er nur etwa zehn Mal mit Hypnose, und wenn überhaupt, dann eher in einfacheren Fällen, als Ersatz für Schmerzmittel bei einer Überempfindlichkeit oder als eine erste Blockade gegen angstbedingte Fixierungen. In seinem letzten Jahr in Uganda stieß er jedoch auf ein Mädchen, das man in ein Zimmer gesperrt hatte, weil es nicht mehr aufhörte zu schreien. Die katholischen Nonnen, die als Krankenschwestern arbeiteten, erklärten ihm, das Mädchen sei auf der Straße vom Slum nördlich von Mbale herangekrochen gekommen. Sie glaubten, dass sie dem Stamm der Bagisu angehörte, weil sie Lugisu sprach. Sie hatte keine Nacht geschlafen, sondern ununterbrochen geschrien, sie sei ein schrecklicher Dämon mit Feuer in den Augen. Erik hatte die Nonnen gebeten, ihm die Tür zu dem Mädchen zu öffnen. Als er ihr begegnete, sah er sofort, dass sie an akutem Wassermangel litt. Als er jedoch versuchte, ihr etwas zu trinken zu geben, brüllte sie, als würde der Anblick von Wasser brennen wie Feuer. Sie wälzte sich auf dem Fußboden und schrie. Er beschloss, es mit Hypnose zu versuchen, um sie zu beruhigen. Eine der Nonnen, Schwester Marion, übersetzte seine Worte in Bukusu, was das Mädchen verstehen sollte, und als sie ihm schließlich zuhörte, war es ganz einfach, sie zu hypnotisieren. Das Mädchen brauchte nur eine Stunde, um sein gesamtes psychisches Trauma zu beschreiben. Ein Tanklastwagen aus Jinja war nördlich des Slums auf der Mbale-Soroti-Road von der Straße abgekommen. Das schwere Fahrzeug war umgekippt und hatte neben der Straße einen tiefen Graben gepflügt. Aus einem Loch in dem großen Tank lief reines Benzin aus. Das Mädchen war nach Hause gerannt, hatte seinen Onkel getroffen und ihm von dem Benzin erzählt, das einfach in der Erde verschwand. Der Onkel war mit zwei leeren Plastikkanistern hingelaufen. Als das Mädchen seinen Onkel am Tanklaster einholte, waren bereits zehn Menschen vor Ort, die Eimer mit Benzin aus dem Graben füllten. Es stank grauenhaft, die Sonne schien, und es war heiß. Der Onkel winkte sie zu sich. Sie nahm den ersten Kanister an und begann, ihn nach Hause zu schleppen. Er war sehr schwer. Sie blieb stehen, um ihn sich auf den Kopf zu heben, und sah eine Frau mit einem blauen Kopftuch, die bis zu den Knien in Benzin stand, neben dem Tanklaster stehen und kleine Glasflaschen füllen. Weiter weg, auf der Straße, die in die Stadt führte, fiel dem Mädchen ein Mann in einem gelben Tarnhemd ins Auge. Er näherte sich mit einer Zigarette im Mund, und wenn er an ihr zog, leuchtete die Glut rot auf.
Erik erinnert sich noch gut, wie das Mädchen bei diesen Worten aussah. Ihre Stimme war belegt und dumpf, und Tränen strömten ihre Wangen hinab, als sie erzählte, sie habe das Feuer der Zigarette mit ihren Augen eingefangen und es zu der Frau mit dem blauen Kopftuch getragen. Das Feuer war in meinen Augen, sagte das Mädchen. Denn als sie sich wieder umwandte und die Frau ansah, geriet diese in Brand. Erst wurde nur das blaue Kopftuch, dann aber ihre ganze Gestalt in hohe Flammen gehüllt. Plötzlich erhob sich rund um den Tanklaster ein Feuersturm. Das Mädchen lief los und hörte nichts als Schreie hinter sich.
Nach der Hypnose sprachen Erik und Schwester Marion lange mit dem Mädchen über die Dinge, die sie unter Hypnose erzählt hatte. Sie erklärten ihr immer wieder, dass die Benzindämpfe, die so stanken, sich entzündet hatten. Die Zigarette des Mannes hatte den Tanklaster durch die Luft entzündet, es war nicht ihre Schuld gewesen.
Nur einen Monat nach dem Vorfall mit dem Mädchen kehrte Erik nach Stockholm zurück, wo er beim Forschungsrat für Medizin Gelder beantragte, um sich am Karolinska-Institut mit Hypnose und Traumabehandlung zu beschäftigen. Kurz darauf lernte er Simone kennen. Er erinnert sich, dass er ihr auf einem großen Fest in der Universität begegnete. Sie war aufgedreht, hatte rote Wangen und war glänzend gelaunt. Als Erstes waren ihm ihre rotblonden und lockigen Haare aufgefallen. Dann hatte er ihr Gesicht gesehen. Ihre Stirn war gewölbt und blass, ihr feiner, heller Teint war von hellbraunen Sommersprossen übersät. Sie sah aus wie ein Poesiealbumsengel, war klein und schlank. Er weiß noch, wie sie an jenem Abend gekleidet war: Sie trug eine grüne, eng geschnittene Seidenbluse, eine schwarze Hose und hohe dunkle Pumps. Ihre Lippen waren in einem blassrosa Ton geschminkt, und ihre Augen leuchteten hellgrün.
Sie heirateten bereits ein Jahr später und versuchten schon bald, Kinder zu bekommen, was sich jedoch als schwierig erwies. Simone hatte vier Fehlgeburten hintereinander. Eine ist Erik besonders deutlich in Erinnerung geblieben. Simone war in der sechzehnten Woche, als ein weiblicher Fötus kam. Exakt zwei Jahre nach dieser Fehlgeburt wurde Benjamin geboren.
Erik blickt blinzelnd aus dem Autofenster und lauscht Joona Linna, der sich über Funk leise mit seinen Kollegen unterhält, die ebenfalls auf dem Weg nach Värmdö sind.
»Mir ist da etwas durch den Kopf gegangen«, sagt Erik.
»Ja?«
»Ich habe gesagt, dass Josef Ek nicht fliehen kann, aber wenn ich bedenke, dass er sich selbst all diese Messerstiche zugefügt hat, sollte man sich dessen vielleicht nicht zu sicher sein.«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, erwidert Joona.
»Okay.«
»Ich habe einen meiner Männer vor seinem Zimmer postiert.«
»Es ist vermutlich völlig unnötig«, sagt Erik.
»Ja.«
Drei Autos parken unter einem Hochspannungsmast am Straßenrand. Vier Polizisten stehen im hellen Licht und unterhalten sich, ziehen ihre Schutzwesten an und zeigen auf eine Karte. Das Sonnenlicht wird vom Glas eines alten Gewächshauses reflektiert.
Joona setzt sich wieder auf den Fahrersitz und bringt kühle Luft mit herein. Er wartet darauf, dass die anderen in ihren Wagen Platz nehmen, und trommelt gedankenverloren mit einer Hand auf dem Lenkrad herum.
Aus dem Funkgerät ertönt plötzlich eine schnelle Tonfolge und anschließend ein lautes Krachen, das abrupt aufhört. Joona wechselt den Kanal, testet, ob alle in der Gruppe zugeschaltet sind, und wechselt ein paar Worte mit jedem, ehe er den Motor anlässt.
Sie fahren an einem braunen Acker vorüber, lassen ein Birkenwäldchen und ein großes rostiges Silo hinter sich.
»Wenn wir da sind, warten Sie im Auto«, sagt Joona leise.
»Ja«, antwortet Erik.
Ein paar Krähen fliegen von der Straße auf und flattern davon.
»Welche negativen Seiten hat die Hypnose?«, erkundigt sich Joona.
»Wie meinen Sie das?«
»Sie waren einer der Besten auf der Welt, haben aber trotzdem aufgehört.«
»Menschen können gute Gründe haben, Dinge zu verbergen«, antwortet Erik.
»Das ist klar, aber …«
»Und diese Gründe sind bei einer Hypnose nur sehr schwer zu beurteilen.«
Joona wirft Erik einen skeptischen Blick zu.
»Warum glaube ich nicht, dass dies wirklich der Grund dafür ist, dass Sie aufgehört haben?«
»Ich möchte nicht darüber sprechen«, sagt Erik.
Beiderseits der Straße flimmern Baumstämme vorbei. Der Wald wird dichter und dunkler. Unter dem Auto knirscht Kies. Sie biegen in einen schmalen Waldweg ab, kommen an ein paar Sommerhäusern vorbei und halten. In der Ferne sieht Joona zwischen den Fichten ein braunes Holzhaus auf einer dunklen Lichtung.
»Ich verlasse mich darauf, dass Sie hier sitzen bleiben«, sagt er zu Erik und steigt anschließend aus dem Wagen.
Während Joona zur Einfahrt geht, wo die anderen Beamten schon auf ihn warten, denkt er erneut an den hypnotisierten Jungen. Die Worte, die einfach so zwischen seinen schlaffen Lippen herausströmten. Ein Junge, der seine bestialische Aggression mit distanziertem, klarem Blick beschrieb. Die Erinnerung musste ihm ganz deutlich vor Augen gestanden haben: die Fieberkrämpfe der kleinen Schwester, die aufbrausende Wut, die Wahl der Messer, die Euphorie darüber, eine Grenze zu überschreiten. Gegen Ende der Hypnose wurden Josefs Beschreibungen wirr, und es fiel schwerer zu verstehen, was er meinte, was er wirklich wahrnahm, ob seine ältere Schwester Evelyn ihn tatsächlich gezwungen hatte, die Morde auszuführen.
Joona schart die vier Polizisten um sich. Ohne den Einsatz zu heißzureden, beschreibt er den Ernst der Lage und gibt Anweisungen zum Gebrauch von Schusswaffen. Bei gezielten Schüssen muss unter allen Umständen auf die Beine gezielt werden. Er vermeidet Begriffe aus seiner Ausbildung in Polizeitaktik und erklärt stattdessen, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach einen vollkommen harmlosen Menschen antreffen werden.
»Ich möchte euch alle ermahnen, vorsichtig aufzutreten, um das Mädchen nicht zu erschrecken«, betont Joona. »Sie könnte Angst haben oder verletzt sein, aber gleichzeitig dürft ihr keine Sekunde vergessen, dass sie auch gefährlich sein könnte.«
Er schickt eine Patrouille von drei Beamten um das Haus herum, bittet sie, nicht durch den Gemüsegarten zu trampeln, außerhalb des Grundstücks zu bleiben, um sich dann auf der Rückseite dem Haus aus sicherer Entfernung zu nähern.
Sie gehen den Waldweg hinunter und einer von ihnen bleibt stehen und schiebt sich einen Portionsbeutel Schweden-Snus unter die Lippe. Die schokoladenbraune Fassade des Hauses besteht aus waagerecht angebrachten, sich überlappenden Brettern. Die Fensterrahmen sind weiß gestrichen, und die Haustür ist schwarz lackiert. Rosa Vorhänge hängen in den Fenstern. Aus dem Schornstein steigt kein Rauch auf. Auf der Eingangstreppe stehen ein Schrubber und ein gelber Plastikeimer mit trockenen Fichtenzapfen.
Joona sieht, dass sich die Polizeipatrouille in einem guten Abstand und mit gezogenen Waffen um das Haus verteilt. Ein Ast knackt. In der Ferne hört er das hallende Klopfen eines Spechts. Joonas Augen verfolgen die Bewegungen der anderen Polizisten, während er sich gleichzeitig langsam dem Haus nähert und versucht, durch den rosa Vorhangsstoff zu schauen. Er gibt Polizeimeisterin Kristina Andersson, einer jungen Frau mit einem spitzen Gesicht, ein Zeichen, dass sie auf dem Weg stehen bleiben soll. Ihre Wangen sind gerötet, und sie nickt, ohne das Haus aus den Augen zu lassen. Mit ruhigem Ernst zieht sie ihre Dienstwaffe und bewegt sich ein paar Schritte zur Seite.
Das Haus ist leer, denkt Joona und nähert sich der Eingangstreppe. Die Dielen knarren leise unter seinem Gewicht. Als er an die Tür klopft, beobachtet er die Vorhänge, um plötzliche Luftströme wahrzunehmen. Nichts geschieht. Er wartet einen Moment, erstarrt auf einmal, weil er etwas gehört zu haben meint, und sucht mit den Augen den Wald neben dem Haus ab, hinter dem Unterholz und den vorderen Baumstämmen. Er zieht seine Pistole, eine schwere Smith & Wesson, die er der Standardwaffe der Marke Sig Sauer vorzieht, entsichert sie und vergewissert sich, dass eine Patrone im Lauf ist. Plötzlich raschelt es am Waldrand, und ein Reh verschwindet mit schnellen Sprüngen zwischen den Bäumen. Als er Kristina Andersson ansieht, erwidert sie gestresst sein Lächeln. Er zeigt auf das Fenster, geht vorsichtig hin und lugt am Vorhang vorbei ins Haus.
Im Zwielicht sieht er einen Rohrtisch mit einer zerkratzten Glasscheibe und ein hellbraunes Cordsofa. Über der Rückenlehne eines roten Holzstuhls hängen zum Trocknen zwei weiße Baumwollslips. In der Kochnische stehen mehrere Pakete Schnellmakkaroni, Pestogläser, Konserven und eine Tüte mit Äpfeln. Auf dem Fußboden vor der Spüle und unter dem Küchentisch schimmern Besteckteile. Joona kehrt zur Eingangstreppe zurück, zeigt Kristina Andersson an, dass er hineingehen wird, öffnet die unverschlossene Tür und geht aus dem Weg, bekommt das Okay von Kristina Andersson, blickt hinein und tritt über die Schwelle.
Erik sitzt im Wagen und kann auf die Entfernung nur erahnen, was vorgeht. Er sieht Joona Linna gefolgt von einer Polizistin in dem braunen Haus verschwinden. Kurz darauf tritt der Kommissar wieder auf die Eingangstreppe hinaus. Drei Polizisten kommen um das Haus herum und bleiben davor stehen. Sie unterhalten sich, schauen auf eine Karte, zeigen zur Straße und zu den anderen Sommerhäusern. Joona scheint einem der anderen etwas im Haus zeigen zu wollen. Alle begleiten ihn, und der letzte schließt die Tür hinter sich, damit das Haus nicht auskühlt.
Plötzlich sieht Erik jemanden zwischen den Bäumen stehen, wo der Boden zum Sumpf hin abfällt. Es ist eine schlanke Frau mit einem Gewehr in der Hand, einer Schrotflinte. Der glänzende Doppellauf schleift über die Erde, als sie sich Richtung Haus in Bewegung setzt. Erik sieht die Waffe sanft gegen Blaubeersträucher und Moos schlagen.
Die Polizisten haben die Frau nicht gesehen, und sie hat keine Chance gehabt, die Beamten wahrzunehmen. Erik wählt Joonas Handynummer. Das Telefon klingelt im Auto, es liegt neben ihm auf dem Fahrersitz.
Ohne Hast geht die Frau zwischen den Bäumen, das Gewehr baumelt in ihrer Hand. Erik erkennt, dass eine gefährliche Situation entstehen könnte, wenn die Polizei und die Frau einander überraschen. Er steigt aus dem Wagen, läuft zur Einfahrt und geht dann gemächlich weiter.
»Hallo«, ruft er.
Die Frau bleibt stehen und dreht sich zu ihm um.
»Ziemlich kühl heute«, sagt er leise.
»Bitte?«
»Im Schatten ist es kalt«, sagt er lauter.
»Ja«, antwortet sie.
»Sind Sie neu hier?«, fragt er und bewegt sich weiter auf sie zu.
»Nein, meine Tante hat mir erlaubt, in ihrem Haus zu wohnen.«
»Sonja ist Ihre Tante?«
»Ja«, antwortet sie lächelnd.
Erik tritt zu ihr.
»Was jagen Sie?«
»Hasen«, antwortet sie.
»Darf ich Ihre Flinte mal sehen?«
Sie klappt das Gewehr auf und reicht es ihm. Ihre Nasenspitze ist rot. In ihren sandfarbenen Haaren hängen trockene Kiefernnadeln.
»Evelyn«, sagt er ruhig. »Es sind ein paar Polizisten hier, die mit Ihnen sprechen wollen.«
Sie wirkt besorgt und weicht einen Schritt zurück.
»Wenn Sie einen Moment Zeit haben«, sagt er lächelnd.
Sie nickt schwach, und Erik ruft zum Haus. Joona kommt mit gereizter Miene heraus, um ihn in den Wagen zurückzukommandieren. Als er die Frau sieht, erstarrt er für den Bruchteil einer Sekunde.
»Das ist Evelyn«, sagt Erik und reicht dem Kommissar das Gewehr.
»Hallo«, sagt Joona.
Die Frau wird blass und sieht aus, als könnte sie jeden Moment bewusstlos werden.
»Ich muss mit Ihnen reden«, erklärt Joona ernst.
»Nein«, flüstert sie.
»Kommen Sie bitte ins Haus.«
»Ich will nicht.«
»Sie möchten nicht hineingehen?«
Evelyn wendet sich an Erik:
»Muss ich?«, fragt sie mit zitterndem Mund.
»Nein«, antwortet er. »Entscheiden Sie selbst.«
»Kommen Sie bitte mit«, sagt Joona.
Sie schüttelt den Kopf, begleitet ihn aber dennoch ins Haus.
»Ich warte draußen«, sagt Erik.
Er geht ein Stück die Einfahrt hinunter. Der Kies ist von Nadeln und braunen Zapfen bedeckt. Er hört Evelyn durch die Wände des Hauses schreien. Ein einziger Schrei. Er klingt einsam und verzweifelt. Ein Ausdruck unfassbaren Verlusts. Aus seiner Zeit in Uganda kennt er ihn nur zu gut.
Evelyn sitzt auf dem Cordsofa. Sie hat beide Hände zwischen die Oberschenkel geklemmt, und ihr Gesicht ist leichenblass. Sie hat gerade erfahren, was mit ihrer Familie passiert ist. Das Foto in dem Rahmen, der einem Fliegenpilz ähnelt, liegt auf dem Fußboden. Ihre Mutter und ihr Vater sitzen auf etwas, das eine Hollywoodschaukel sein könnte. Sie haben Evelyns kleine Schwester zwischen sich genommen. Die Eltern blinzeln im grellen Sonnenlicht, während die Brille der Schwester weiß leuchtet.
»Mein aufrichtiges Beileid«, sagt Joona gedämpft.
Ihr Kinn zittert.
»Meinen Sie, Sie könnten uns helfen zu verstehen, was passiert ist?«, fragt er.
Der Stuhl knackt unter Joonas Gewicht. Er wartet einen Moment und spricht dann weiter:
»Wo waren Sie am Montag, den siebten Dezember?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Gestern«, präzisiert er.
»Ich war hier«, sagt sie schwach.
»Im Haus?«
Sie begegnet seinem Blick.
»Ja.«
»Sie sind den ganzen Tag nicht aus dem Haus gegangen?«
»Nein.«
»Sie haben nur hier gesessen?«
Sie deutet auf das Bett und die Lehrbücher in Staatswissenschaft, die darauf liegen.
»Sie studieren?«
»Ja.«
»Dann haben Sie gestern also das Haus nicht verlassen?«
»Nein.«
»Gibt es jemanden, der das bestätigen kann?«
»Was?«
»War jemand bei Ihnen?«, fragt Joona.
»Nein.«
»Haben Sie eine Ahnung, wer das Ihrer Familie angetan haben könnte?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Hat jemand Ihre Familie bedroht?«
Sie scheint ihn nicht zu hören.
»Evelyn?«
»Was? Was haben Sie gesagt?«
Ihre Finger sind zwischen den Beinen fest eingeklemmt.
»Gibt es jemanden, der Ihrer Familie gedroht hat, haben Sie irgendwelche Gegner, Feinde?«
»Nein.«
»Wussten Sie, dass Ihr Vater große Schulden hatte?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Die hatte er jedenfalls«, sagt Joona. »Ihr Vater hat sich Geld von Kriminellen geliehen.«
»Aha.«
»Könnte einer von diesen Leuten das getan …«
»Nein«, unterbricht sie ihn.
»Warum nicht?«
»Sie verstehen gar nichts«, sagt sie mit erhobener Stimme.
»Was verstehen wir nicht?«
»Sie verstehen gar nichts.«
»Dann sagen Sie uns, was …«
»Das geht nicht«, schreit sie.
Sie ist so aufgewühlt, dass sie abrupt in Tränen ausbricht. Kristina Andersson geht zu ihr und umarmt sie, und nach einer Weile beruhigt Evelyn sich. Sie sitzt vollkommen regungslos in den Armen der Polizistin, während einzelne Schluchzer durch ihren Körper laufen.
»Kleines«, flüstert Kristina Andersson tröstend.
Sie drückt die junge Frau an sich und streicht ihr übers Haar. Plötzlich schreit Kristina auf und stößt Evelyn von sich und zu Boden.
»Verdammt, sie hat mich gebissen … sie hat mich richtig gebissen.«
Sie blickt verblüfft auf ihre blutigen Finger hinab. Sie blutet aus einer Wunde am Hals.
Evelyn sitzt auf dem Fußboden und verbirgt ein verwirrtes Lächeln hinter ihrer Hand. Ihre Augen rollen nach hinten, und sie sackt bewusstlos zusammen.