40.

Donnerstagvormittag, der siebzehnte Dezember


Simone spürt plötzlich einen Tropfen Blut aus ihrer Unterlippe quellen. Ohne es zu merken, hat sie sich gebissen. All ihre Energie wendet sie dafür auf, diese Gedanken fernzuhalten. Ihr Vater ist von einem Auto angefahren worden und liegt seit zwei Tagen in einem dunklen Zimmer im Sankt-Görans-Krankenhaus. Bis jetzt hat man noch nicht feststellen können, wie schwer er wirklich verletzt ist. Sie weiß nur, dass der Aufprall ihn hätte umbringen können. Kopfschmerzen rollen wie eine stählerne Kugel durch ihren Kopf. Sie hat Erik verloren, sie hat unter Umständen Benjamin verloren, und nun wird sie womöglich auch noch ihren Vater verlieren.

Sie weiß nicht, wie oft sie es schon getan hat, holt sicherheitshalber aber noch einmal ihr Handy heraus, kontrolliert, dass es funktioniert, und legt es ins äußere Fach ihrer Handtasche, um schnell herankommen zu können, falls es klingelt.

Dann beugt sie sich über ihren Vater und zupft seine Decke zurecht. Er schläft, aber man hört keinen Mucks. Kennet Sträng ist wahrscheinlich der einzige Mann auf der Welt, der beim Schlafen keinen Lärm macht, das hat sie schon oft gedacht.

Seine Stirn liegt unter einem weißen Verband, unter dem ein dunkler Schatten beginnt, ein Bluterguss, der sich über die ganze Wange erstreckt. Kennet sieht verändert aus: der große Bluterguss, die geschwollene Nase und der herabhängende Mundwinkel.

Aber er ist nicht tot, denkt sie. Er lebt. Und Benjamin lebt auch, das weiß sie, er muss einfach leben.

Simone geht im Zimmer auf und ab. Sie denkt daran, dass sie vor zwei Tagen von Sim Shulman zurückgekommen war und unmittelbar vor Kennets Unfall mit ihrem Vater telefoniert hatte. Dabei hatte er ihr gesagt, dass er Wailord gefunden hatte und zu einem Ort fahren wollte, der Das Meer hieß und irgendwo auf einer Landzunge namens Loudden lag.

Simone sieht erneut ihren Vater an. Er schläft tief und fest.

»Papa?«

Sie bereut es sofort. Er wacht zwar nicht auf, aber ein gequälter Zug huscht wie eine Wolke über sein schlafendes Gesicht. Simone tastet vorsichtig die Wunde auf ihrer Unterlippe ab. Ihr Blick fällt auf einen Adventskerzenständer. Sie mustert ihre Schuhe in den blauen Plastikschützern und denkt an einen Nachmittag vor vielen Jahren zurück, an dem sie und Kennet ihre Mutter winken und in ihrem kleinen grünen Fiat verschwinden sahen.

Simone schaudert. Sie zieht die Strickjacke enger um sich. Plötzlich hört sie Kennet leise stöhnen.

»Papa«, sagt sie wie ein kleines Kind.

Er öffnet die Augen. Sie wirken trübe, nicht wirklich wach. Ein Augapfel ist blutrot.

»Papa, ich bin’s. Wie geht es dir?«

Sein Blick irrt an ihr vorbei. Auf einmal hat sie Angst, dass er sie nicht sehen kann.

»Sixan?«

»Ich bin hier, Papa.«

Sie setzt sich vorsichtig neben ihn und nimmt seine Hand. Seine Augen schließen sich wieder, und die Augenbrauen ziehen sich zusammen, als hätte er Schmerzen.

»Papa«, fragt sie leise, »wie fühlst du dich?«

Er versucht, ihre Hand zu tätscheln, schafft es aber nicht wirklich.

»Ich bin bald wieder auf den Beinen«, röchelt er. »Mach dir keine Sorgen.«

Es wird still. Simone versucht, ihre Gedanken zu verdrängen, sich von den Kopfschmerzen abzulenken und gegen die aufwallende Sorge anzukämpfen. Sie weiß nicht, ob sie es wagen kann, ihn in diesem Zustand zu bedrängen, aber ihre Panik zwingt sie, einen Versuch zu machen.

»Papa«, fragt sie leise. »Weißt du noch, worüber wir gesprochen haben, bevor du angefahren wurdest?«

Er blinzelt sie müde an und schüttelt den Kopf.

»Du hast gesagt, du wüsstest, wo Wailord ist. Du hast über das Meer gesprochen, erinnerst du dich? Du meintest, du wolltest zum Meer fahren.«

Kennets Augen leuchten auf, und er macht Anstalten, sich aufzusetzen, sinkt aber stöhnend zurück.

»Papa, sag’s mir, ich muss wissen, wo das ist. Wer ist Wailord? Wer ist das?«

Er öffnet den Mund, und sein Kinn zittert, als er flüstert:

»Ein … Kind … das ist … ein Kind …«

»Was sagst du da?«

Aber Kennet hat die Augen geschlossen und scheint sie nicht mehr zu hören. Simone geht zum Fenster und schaut auf das Krankenhausgelände hinab. Sie spürt den kalten Luftzug. Ein schmutziger Rand läuft am Glas entlang. Als sie die Scheibe anhaucht, sieht sie für einen flüchtigen Moment den Abdruck eines Gesichts im beschlagenen Glas. Jemand hat erst kürzlich an der gleichen Stelle gestanden und sich gegen das Glas gelehnt.

Die Kirche auf der anderen Straßenseite ist dunkel, und die Straßenlaternen spiegeln sich in ihren schwarzen Bogenfenstern. Sie denkt daran, dass Benjamin Aida geschrieben hat, sie dürfe Nicke nicht zum Meer lassen.

»Aida«, sagt sie leise. »Ich fahre zu Aida und rede mit ihr. Diesmal muss sie mir alles erzählen.«

Als Simone bei Aida klingelt, öffnet Nicke die Tür. Er sieht sie fragend an.

»Hallo«, sagt sie.

»Ich habe neue Karten bekommen«, erzählt er eifrig.

»Toll«, erwidert sie.

»Ein paar sind Luschenkarten, aber viele sind superstark.«

»Ist deine Schwester zu Hause?«, fragt Simone und tätschelt Nickes Arm.

»Aida! Aida!«

Nicke läuft den dunklen Flur hinab und verschwindet irgendwo in der Wohnung.

Simone bleibt stehen und wartet. Dann hört sie ein eigentümlich pumpendes Geräusch und leises Klirren und sieht im nächsten Moment eine hagere, gebeugte Frau auf sich zukommen, die ein Wägelchen hinter sich herzieht, auf das eine Sauerstoffflasche montiert ist. Von der Flasche aus führt ein Schlauch zu der Frau, an dessen Ende durchsichtige Plastikröhrchen sitzen, die Sauerstoff in ihre Nasenlöcher pumpen.

Die Frau klopft sich mit einer schmalen Faust auf die Brust.

»Em…physem«, keucht sie, woraufhin sich ihr faltiges Gesicht zu einem heiseren, krampfhaften Hustenanfall verzerrt.

Als sie endlich verstummt, bittet sie Simone mit einer Geste einzutreten. Gemeinsam gehen sie durch den langen dunklen Flur und gelangen in ein Wohnzimmer, das mit schweren Möbeln vollgestellt ist. Auf dem Fußboden, zwischen einem Hi-Fi-Turm mit Glastür und dem flachen TV-Schrank, spielt Nicke mit seinen Pokemonkarten. Auf der braunen Couch, eingeklemmt zwischen zwei großen Zimmerpalmen, sitzt Aida.

Simone erkennt sie kaum wieder. Sie ist ungeschminkt. Sie hat ein süßes und sehr junges Gesicht, und alles an ihr wirkt sehr zierlich. Ihre Haare sind zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden.

Als Simone den Raum betritt, streckt sie die Hand nach einer Zigarettenschachtel aus und zündet sich eine an.

»Hallo«, sagt Simone. »Wie geht es dir?«

Aida zuckt mit den Schultern. Offenbar hat sie geweint. Sie raucht einen Zug und hebt einen grünen Aschenbecher zur Glut, als hätte sie Angst, Asche auf die Möbel fallen zu lassen.

»Setzen … Sie sich …«, keucht ihre Mutter an Simone gewandt, die sich daraufhin in einem der breiten Sessel niederlässt, die neben Couch, Tisch und Palmen gezwängt stehen.

Aida ascht in den grünen Aschenbecher.

»Ich komme gerade aus dem Krankenhaus«, sagt Simone. »Mein Vater ist angefahren worden. Er war auf dem Weg zum Meer, zu Wailord.«

Nicke schießt sofort in die Höhe. Sein Gesicht ist feuerrot.

»Wailord ist wütend, so wütend, so wütend.«

Simone wendet sich Aida zu, die heftig schluckt und dann die Augen schließt.

»Worum geht es hier eigentlich?«, fragt Simone. »Dieser Wailord? Was ist mit ihm?«

Aida drückt ihre Zigarette aus und sagt mit brechender Stimme:

»Sie sind verschwunden.«

»Wer?«

»Eine Gang, die gemein zu uns war. Zu Nicke und mir. Sie waren schlimm, sie wollten mich brandmarken, sie wollten …«

Sie verstummt und sieht ihre Mutter an, die ein Schnauben herausbringt.

»Sie wollten aus Mama … einen Scheiterhaufen machen«, sagt Aida langsam.

»Drecks… schwänze …«, keucht die Mutter aus dem anderen Sessel.

»Sie benutzen die Namen von Pokemonfiguren, sie heißen Tobutz, Magbrant oder Lucario. Manchmal wechseln sie die Namen, man begreift es nicht.«

»Wie viele sind es?«

»Ich weiß nicht, vielleicht nur fünf«, antwortet Aida. »Es sind Kinder, der Älteste ist so alt wie ich, der Kleinste ist bestimmt erst sechs. Aber sie haben beschlossen, dass alle, die hier wohnen, ihnen etwas geben müssen«, erklärt Aida und begegnet zum ersten Mal Simones Blick. Ihre Augen sind bernsteinbraun, schön, klar, aber voller Furcht. »Die kleinen Kinder mussten Süßigkeiten oder Stifte abgeben«, fährt sie mit ihrer dünnen Stimme fort. »Sie haben ihre Sparschweine geplündert, um nicht verprügelt zu werden. Andere haben ihnen ihre Sachen gegeben, Handys und Nintendospiele. Sie haben meine Jacke und Zigaretten bekommen. Nicke haben sie einfach so geschlagen, sie haben ihm alles abgenommen, sie waren so gemein zu ihm.«

Ihre Stimme erstirbt,und Tränen treten in ihre Augen.

»Haben sie Benjamin entführt?«, fragt Simone ohne Umschweife.

Aidas Mama wedelt mit der Hand.

»Dieser … Junge … ist … nicht … gut …«

»Antworte mir, Aida«, sagt Simone heftig. »Du antwortest mir jetzt!«

»Schreien Sie … meine Tochter … nicht an«, keucht Aidas Mutter.

Simone schüttelt ihr zugewandt den Kopf und sagt noch einmal und noch schneidender:

»Du erzählst mir jetzt, was du weißt, hörst du!«

Aida schluckt heftig.

»Ich weiß nicht besonders viel«, sagt sie schließlich. »Benjamin hat sich eingemischt, er meinte, wir sollten diesen Jungen nichts mehr geben. Wailord ist ausgerastet und hat gesagt, jetzt ist Krieg, und hat viel Geld von uns gefordert.«

Sie zündet sich eine neue Zigarette an, raucht zitternd, ascht vorsichtig in den grünen Aschenbecher und spricht weiter:

»Als Wailord erfahren hat, dass Benjamin krank ist, hat er den anderen Kindern Nadeln gegeben, damit sie ihn stechen können …«

Sie verstummt und zuckt mit den Schultern.

»Was ist dann passiert?«, fragt Simone ungeduldig.

Aida beißt sich auf die Lippe und pflückt Tabak von der Zunge.

»Was ist passiert?«

»Wailord hat einfach aufgehört«, flüstert sie. »Plötzlich war er verschwunden. Die anderen Kinder habe ich gesehen, sie haben vor ein paar Tagen Nicke überfallen. Sie folgen jetzt einem Typen, der sich Ariandos nennt, aber seit Wailord verschwunden ist, sind sie nur noch verwirrt und ratlos.«

»Wann ist das gewesen, wann ist Wailord verschwunden?«

»Ich glaube«, Aida denkt nach, »ich glaube, das war letzten Mittwoch, drei Tage bevor Benjamin verschwunden ist.«

Ihr Mund beginnt zu zittern.

»Wailord hat ihn entführt«, flüstert sie. »Wailord hat etwas Schreckliches mit ihm gemacht. Und jetzt traut er sich nicht, sich zu zeigen …«

Sie weint laut schluchzend. Simone sieht Aidas Mutter mühsam aufstehen, ihrer Tochter die Zigarette aus der Hand nehmen und sie langsam in dem grünen Aschenbecher ausdrücken.

»Verdammte … Missgeburt«, keucht die Mutter, und Simone hat keine Ahnung, wen Aidas Mutter meint.

»Aber wer ist Wailord?«, fragt sie erneut. »Du musst mir sagen, wer er ist.«

»Ich weiß es nicht«, schreit Aida. »Ich weiß es nicht!«

Simone zieht das Foto von dem Rasen und den Sträuchern vor einem braunen Zaun aus der Tasche, das sie in Benjamins Computer gefunden hat.

»Sieh dir das Bild an«, sagt sie hart.

Aida betrachtet den Computerausdruck mit verschlossenem Gesicht.

»Was ist das?«, fragt Simone.

Aida zuckt mit den Schultern und wirft ihrer Mutter einen kurzen Blick zu.

»Keine Ahnung«, sagt sie tonlos.

»Aber das Foto hast du ihm doch geschickt«, wendet Simone gereizt ein. »Es kam doch von dir, Aida.«

Der Blick des Mädchens schweift ab und sucht erneut die Mutter, die mit der zischenden Sauerstoffflasche zu ihren Füßen im Sessel sitzt.

Simone wedelt mit dem Blatt vor Aidas Gesicht.

»Sieh es dir an, Aida. Schau noch einmal hin. Warum hast du meinem Sohn dieses Foto geschickt?«

»Das war doch nur Spaß«, flüstert sie.

»Spaß?«

Aida nickt.

»Würdest du hier gerne wohnen, oder so«, sagt sie leise.

»Ich glaube dir nicht«, konstatiert Simone verbissen. »Du sagst mir jetzt die Wahrheit!«

Aidas Mutter steht wieder auf und erhebt die Hand gegen Simone.

»Du Hexe … jetzt aber raus mit dir …«

»Warum lügst du?«, fragt Simone und begegnet endlich Aidas Blick.

Das Mädchen sieht unendlich traurig aus.

»Entschuldige«, flüstert Aida mit kaum hörbarer Stimme. »Entschuldige.«

Als Simone geht, begegnet sie Nicke. Er steht in dem dunklen Flur und reibt sich die Augen.

»Ich habe keine Kraft, ich bin ein wertloses Pokemon.«

»Natürlich hast du Kraft«, sagt Simone.

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