53.
Sonntagmorgen, der zwanzigste Dezember,
vierter Advent
Das rote Gebäude des Flughafens von Vilhelmina liegt verlassen in der weiten, weißen Landschaft. Es ist zehn Uhr, aber die Dämmerung lässt an diesem vierten Adventssonntag noch auf sich warten. Scheinwerfer beleuchten die betonierte Start- und Landebahn. Nach einem neunzigminütigen Flug rollt die Maschine langsam zum Terminal.
In der Wartehalle ist es warm und erstaunlich gemütlich. Aus den Lautsprechern ertönt Weihnachtsmusik, und aus einem Geschäft, das wie eine Kombination aus Zeitschriftenhandel, Information und Cafeteria aussieht, strömt Kaffeeduft. Breite Reihen sogenannter samischer Handwerksprodukte, Buttermesser, hölzerne Schöpfkellen und Birkenrindenrucksäcke, hängen vor dem Geschäft. Simone starrt ausdruckslos die Samenmützen auf einem Ständer an. Der Gedanke an diese uralte Jägerkultur, die gezwungen wird, in Form von bunten Mützen mit roten Zipfeln für scherzende Touristen wiederaufzuerstehen, macht sie sehr traurig. Die Zeit hat den Schamanismus der Samen verdrängt, die Leute hängen sich die Zaubertrommeln stattdessen über die Couch, und die Rentierzucht ist auf dem besten Weg, sich in eine Show für Touristen zu verwandeln.
Joona zieht sein Handy heraus und wählt eine Nummer, während Erik auf einen Taxibus zeigt, der vor dem leeren Ausgang wartet. Joona schüttelt den Kopf und redet immer ärgerlicher auf jemanden ein. Erik und Simone hören eine dumpfe Stimme in der Leitung. Als Joona das Telefon zuklappt, ist sein Gesicht verschlossen. Seine eisig leuchtenden Augen sind vor Ernst geschärft.
»Was ist?«, fragt Erik.
Joona streckt den Hals, um zum Fenster hinauszuschauen.
»Die Polizisten, die zu dem Haus hinausgefahren sind, haben sich immer noch nicht gemeldet«, sagt er mit abwesender Stimme.
»Das klingt nicht gut«, erwidert Erik leise.
»Ich werde mit der Polizeiwache sprechen.«
Simone versucht, Erik mit sich zu ziehen.
»Wir können hier doch nicht nur herumsitzen und warten.«
»Das werden wir auch nicht«, entgegnet Joona. »Wir bekommen ein Auto – es müsste eigentlich schon da sein.«
»Großer Gott«, seufzt Simone. »Das dauert alles so lange.«
»Die Entfernungen sind hier oben ein bisschen größer«, sagt Joona mit einem stechenden Funkeln in den Augen.
Simone zuckt mit den Schultern. Sie gehen zum Ausgang, und als sie die Türen passiert haben, schlägt ihnen die ganz andere, trockene Kälte Lapplands entgegen. Zwei dunkelblaue Wagen halten vor ihnen, und zwei Männer in den orangen Uniformen der Bergwacht steigen aus.
»Joona Linna?«, fragt einer der beiden.
Joona nickt kurz.
»Wir sollten Ihnen ein Auto bringen.«
»Die Bergwacht«, sagt Erik gestresst. »Wo ist die Polizei?«
Einer der Männer streckt sich und erklärt gereizt:
»Hier oben ist das kein großer Unterschied. Die Polizei, der Zoll, die Bergwacht – wir arbeiten alle zusammen, wie es sich gerade ergibt.«
Der andere Mann mischt sich ein:
»Wir haben im Moment zu wenig Leute, Weihnachten steht vor der Tür und so …«
Sie bleiben schweigend stehen. Erik wirkt mittlerweile völlig verzweifelt. Er öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber Joona kommt ihm zuvor:
»Habt ihr etwas von der Streife gehört, die zu dem Haus hinausgefahren ist?«, erkundigt er sich.
»Seit sieben nicht mehr«, antwortet der eine Mann.
»Wie lange dauert es, bis man dort ist?«
»Na ja, ein, zwei Stunden braucht man schon, wenn man nach Sutme hinauswill.«
»Zweieinhalb«, mischt sich der andere ein. »Jedenfalls um diese Jahreszeit.«
»Welchen Wagen nehmen wir?«, fragt Joona ungeduldig und bewegt sich auf eines der Autos zu.
»Tja, ich weiß nicht«, antwortet der eine Mann.
»Gebt uns den mit dem meisten Benzin«, schlägt Joona vor.
»Soll ich nachsehen?«, fragt Erik.
»Ich habe siebenundvierzig Liter im Tank«, sagt der eine Mann schnell.
»Dann hast du zehn mehr als ich.«
»Schön«, sagt Joona, während er die Autotür öffnet.
Sie setzen sich in den warmen Wagen. Joona nimmt den Schlüssel entgegen und bittet Erik, das Fahrziel in das brandneue Navigationsgerät einzugeben.
»Wartet«, ruft Joona den Männern hinterher, die gerade in den zweiten Wagen steigen wollen.
Sie halten inne.
»Die Streife, die heute Morgen zu dem Haus gefahren ist, waren das auch Leute von der Bergwacht?«
»Na ja, ich denke schon.«
Sie fahren in nordwestlicher Richtung am Volgsee entlang, um die Landstraße 45 nach Westen zu erreichen, von der sie nach zehn Kilometern in die kurvenreiche Straße abbiegen werden, die südlich am Klimpfjäll vorbei nach achtzig Kilometern das Daimatal erreicht.
Sie schweigen während der Fahrt. Als sie Vilhelmina weit hinter sich gelassen haben und auf die Straße nach Sutme gebogen sind, sehen sie, dass der Himmel heller wird. Es ist ein eigentümliches und sanftes Licht, das allmählich die Sicht auf die Landschaft freigibt. Sie ahnen die Konturen von Bergen und Seen.
»Siehst du«, sagt Erik. »Es wird hell.«
»Hier wird es die nächsten Wochen nicht richtig hell«, erwidert Simone.
»Der Schnee fängt das Licht auch durch die Wolkendecke auf«, sagt Joona.
Simone lehnt die Stirn gegen das Autofenster. Sie fahren durch verschneite Wälder, die sich mit riesigen weißen Kahlschlägen, dunklen Mooren und Seen von der Größe weiter Ebenen abwechseln. Sie kommen an Ortsschildern mit Namen wie Jetneme, Trollklinten und an dem breiten Långselefluss vorbei. Im Zwielicht erahnen sie einen wundersam schönen See, der dem Schild zufolge Mevattnet heißt und steile Felsufer hat, die im Schneelicht kalt, starr vor Frost und dunkel funkeln.
Nach fast neunzigminütiger Fahrt wird die Straße allmählich schmaler und neigt sich zu dem gigantischen Borgasee hinunter. Mittlerweile befinden sie sich in der Gemeinde Dorotea. Sie nähern sich der norwegischen Grenze, und die Landschaft türmt sich vor ihnen zu hohen, spitzen Gebirgsformationen auf. Plötzlich signalisiert ein entgegenkommendes Auto mit den Scheinwerfern. Sie halten am Straßenrand und sehen das andere Auto bremsen und zurücksetzen.
»Die Bergwacht«, bemerkt Joona trocken, als sie sehen, dass es sich um das gleiche Automodell handelt.
Joona lässt die Scheibe herunter, und eiskalte Luft saugt die Wärme aus dem Wagen.
»Seid ihr die Stockholmer?«, ruft einer der Männer in dem Auto mit einem starken finnischen Akzent.
»Ja, sind wir«, antwortet Joona auf Finnisch. »Die Hauptstädter.«
Sie lachen kurz, und Joona spricht auf Schwedisch weiter:
»Seid ihr zu dem Haus gefahren? Die anderen konnten euch nicht erreichen.«
»Kein Netz«, erklärt der Mann. »Aber das war ohnehin reine Benzinverschwendung. Da oben ist nichts.«
»Nichts? Es gibt keine Spuren an dem Haus?«
Der Mann schüttelt den Kopf.
»Wir sind die einzelnen Schneeschichten durchgegangen.«
»Wie meinen Sie das?«, fragt Erik.
»Seit dem Zwölften hat es fünf Mal geschneit – also haben wir in fünf Schneeschichten nach Spuren gesucht.«
»Gute Arbeit«, sagt Joona.
»Deshalb hat es auch ein bisschen gedauert.«
»Aber es ist keiner da gewesen?«, erkundigt sich Simone.
Der Mann schüttelt den Kopf.
»Jedenfalls nicht seit dem Zwölften.«
»Verdammter Mist«, sagt Joona leise.
»Kommt ihr mit zurück?«, fragt der Mann.
Joona schüttelt den Kopf.
»Wir sind nicht den ganzen Weg von Stockholm gekommen, um jetzt kehrtzumachen.«
»Tja, wie ihr wollt.«
Die Männer winken ihnen zu und entfernen sich in östliche Richtung.
»Wieso kein Netz?«, flüstert Simone. »Jussi hat doch von dem Haus aus angerufen?«
Sie fahren schweigend weiter. Simone denkt dasselbe wie die anderen: dass ihre Reise sich als ein schicksalsschwerer Fehler erweisen könnte und sie vielleicht in die falsche Richtung gelockt wurden, in eine Kristallwelt aus Schnee und Eis, in sumpfiges Gelände und Dunkelheit, während Benjamin an einem ganz anderen Ort liegt, schutzlos, ohne Faktorpräparat, vielleicht schon nicht mehr am Leben.
Es ist Mittag, aber so hoch im Norden, tief in den Wäldern Västerbottens, ähnelt der Tag um diese Jahreszeit eher der Nacht, einer Nacht, die so mächtig und streng ist, dass es ihr im Dezember und Januar fast gelingt, die Dämmerung zu überschatten.
Als sie Jussis Haus erreichen, ist es dunkel. Es ist eisig kalt und windstill. Sie gehen das letzte Stück über den verharschten Schnee. Joona zieht seine Waffe und denkt, dass er zum ersten Mal seit langer Zeit richtigen Schnee sieht und spürt, wie die strenge Kälte seine Nase austrocknet.
Drei kleine Häuser stehen u-förmig zusammen. Der Schnee hat eine riesige, sanft geschwungene Decke auf die Dächer gelegt, und an den Wänden haben sich Schneewehen gebildet, die bis zu den kleinen Fenstern hochreichen. Erik steigt aus und schaut sich um. Die parallelen Reifenspuren des Bergwachtautos sind ebenso deutlich zu erkennen wir die zahlreichen Fußspuren der Männer rund um die Gebäude.
»Oh Gott«, flüstert Simone und eilt hin.
»Warte«, sagt Joona.
»Hier ist keiner, das Haus ist leer, wir haben …«
»Das Haus scheint leer zu sein«, unterbricht Joona sie. »Das ist alles, was wir wissen.«
Simone wartet frierend, während Joona über den knirschenden Schnee zu den Häusern geht. Er bleibt an einem der kleinen flachen Fenster stehen, lehnt sich vor und sieht eine Holzkiste und Flickenteppiche auf dem Fußboden. Die Stühle stehen auf dem Esstisch, und der Kühlschank ist offen und leer.
Simone beobachtet Erik, der sich plötzlich seltsam verhält. Er geht mit abgehackten Bewegungen im Schnee umher, streicht sich über den Mund, stellt sich mitten auf den Hof und schaut sich immer wieder um. Sie will ihn gerade fragen, was los ist, als er laut und deutlich verkündet:
»Wir sind falsch.«
»Keiner da«, erwidert Joona müde.
»Ich meine etwas anderes«, sagt Erik mit einem eigenartigen, fast schrillen Ton in der Stimme. »Ich meine, dass das hier nicht Jussis verwunschenes Schloss ist.«
»Was sagst du da?«
»Es ist das falsche Haus. Jussis verwunschenes Schloss ist hellgrün, er hat das Haus beschrieben, es gibt eine Speisekammer im Eingangsbereich, ein Blechdach mit rostigen Nägeln, eine Satellitenschüssel in Giebelnähe, und der Hof müsste voller alter Autos, Busse, Traktoren stehen …«
Joona zeigt auf die Häuser.
»Das ist seine Adresse, hier ist er gemeldet.«
»Es ist trotzdem das falsche Haus.«
Erik macht wieder ein paar Schritte am Haus entlang, sieht mit ernster Miene erst Simone und danach Joona an und erklärt mit Nachdruck:
»Das hier ist nicht das verwunschene Schloss.«
Joona flucht und zieht sein Handy heraus, flucht jedoch noch lauter, als ihm einfällt, dass sie kein Netz haben.
»Wir dürften hier draußen niemanden finden, den wir fragen können, also müssen wir zurückfahren, bis wir wieder ein Netz haben«, sagt er und setzt sich in den Wagen. Sie kehren zur Einfahrt zurück und wollen auf die Landstraße biegen, als Simone zwischen den Bäumen eine dunkle Gestalt bemerkt. Ein Mann steht dort vollkommen regungslos und mit hängenden Armen und beobachtet sie.
»Da!«, ruft sie. »Da drüben ist jemand.«
Der Waldsaum auf der anderen Seite der Straße ist dunkel, der Schnee liegt dicht zwischen den Stämmen, die Äste hängen schwer, überladen herab. Sie steigt aus dem Auto und hört Joona rufen, dass sie warten soll. Simone versucht, zwischen den Bäumen etwas zu sehen. Erik holt sie ein.
»Ich habe jemanden gesehen«, flüstert sie.
Joona zieht die Handbremse, greift schnell nach seiner Waffe und folgt ihnen. Simone eilt zum Waldsaum und sieht wieder den Mann, diesmal jedoch etwas tiefer im Wald.
»Hallo, warten Sie«, ruft Simone.
Sie läuft ein paar Schritte, bleibt dann aber stehen, als sie dem Blick des Mannes begegnet. Es ist ein Greis mit einem zerfurchten und vollkommen ruhigen Gesicht. Er ist sehr klein, reicht ihr kaum bis zur Brust und trägt einen dicken, steifen Anorak und eine Jeans. In der Hand hält er ein eisgrünes Handy, das er zuklappt und in die Tasche steckt.
»Entschuldigen Sie die Störung«, sagt Simone.
Er erwidert leise etwas, das sie nicht versteht, schlägt anschließend die Augen nieder und murmelt etwas. Erik und Joona kommen vorsichtig näher. Joona hält seine Waffe unter der Jacke verborgen.
»Es klingt, als würde er Finnisch sprechen«, sagt Simone.
»Wartet«, sagt Joona und wendet sich dem Mann zu.
Erik hört, dass Joona sich vorstellt, auf das Auto zeigt und dann Jussis Namen ausspricht. Er spricht ruhig und relativ leise Finnisch. Der alte Mann nickt bedächtig und zieht eine Zigarettenschachtel aus der Jacke. Dann schaut er hoch, als würde er nach etwas Ausschau halten und gleichzeitig horchen. Er schüttelt eine Zigarette heraus, betrachtet sie und stellt Joona mit ruhiger und melodisch glucksender Stimme eine Frage, erhält eine Antwort und schüttelt anschließend bedauernd den Kopf. Er sieht Erik und Simone mitfühlend an. Als er ihnen Zigaretten anbietet, hat Erik genügend Geistesgegenwart, eine anzunehmen, ihm zu danken und sich das Plastikfeuerzeug mit Betty Boop auf der Seite auszuleihen.
Der Same knipst den Filter von seiner Zigarette ab, steckt sie sich zwischen die Lippen und zündet sie an. Simone hört, dass er Joona umständlich etwas erklärt. Er bricht einen Zweig von einem Baum ab und zeichnet ein paar Striche in den Schnee. Joona beugt sich über die Schneekarte, zeigt und fragt nach. Er zieht einen kleinen Notizblock aus der Jackentasche und zeichnet die Karte ab. Simone flüstert »Danke«, als sie zum Auto zurückkehren. Der kleine Mann dreht sich um, zeigt in den Wald hinein und entfernt sich auf einem schmalen Pfad zwischen den Bäumen.
Sie gehen mit schnellen Schritten zum Auto zurück, dessen Türen offen gestanden haben, sodass die Sitze jetzt so kalt sind, dass sie am Rücken und an den Oberschenkeln brennen.
Joona gibt Erik den Zettel, auf dem er die Anweisungen des alten Mannes kopiert hat.
»Er sprach einen seltsamen samischen Dialekt, ich habe nicht alles verstanden. Er redete vom Land der Familie Kroik.«
»Aber er kannte Jussi?«
»Ja, wenn ich es richtig verstanden habe, besitzt Jussi ein zweites Haus, eine Jagdhütte, die noch tiefer im Wald liegt. Links soll ein See auftauchen. Wir können bis zu einer Stelle fahren, an der man zur Erinnerung an das alte Sommerlager der Samen drei große Findlinge aufgestellt hat. Ab da ist die Straße nicht mehr geräumt, und wir müssen in nördliche Richtung durch den Schnee gehen, bis wir einen alten Wohnwagen sehen.«
Joona wirft Erik und Simone einen ironischen Blick zu und ergänzt:
»Der Alte meinte, wenn wir im Eis des Waldsees einbrechen, sind wir zu weit gegangen.«
Vierzig Minuten später halten sie bei den drei Steinen, die von der Gemeinde Dorotea als Denkmal errichtet worden sind. Die Scheinwerfer machen alles grau und werfen Schatten. Die Steine tauchen für ein paar Sekunden auf und verschwinden anschließend wieder in der Dunkelheit.
Joona parkt den Wagen am Waldsaum und sagt, dass er ihn eigentlich mit ein paar Zweigen tarnen müsste, sie dafür aber keine Zeit haben. Er wirft einen kurzen Blick in den Sternenhimmel und geht schnell los. Die anderen folgen ihm. Der Harsch liegt wie eine schwere, starre Scheibe auf dem hohen, porösen Schnee. Sie bewegen sich möglichst leise. Die Anweisungen des alten Mannes stimmen: Nach einem halben Kilometer erblicken sie einen schneebedeckten, verrosteten Wohnwagen. Sie weichen vom Waldweg ab und sehen, dass auf dem neuen Pfad Menschen gegangen sind. Unter ihnen liegt ein Haus im Schnee. Aus dem Schornstein steigt Rauch auf. In dem Licht, das durch die Fensterscheiben ins Freie fällt, sehen die Wände minzgrün aus.
Das ist Jussis Haus, denkt Erik. Das ist das verwunschene Schloss.
Auf dem weitläufigen Hof erkennt man große dunkle Konturen. Der verschneite Fahrzeugpark formt ein eigentümliches Labyrinth.
Knirschend bewegen sie sich langsam auf das Haus zu. Sie gehen in den engen Gängen zwischen aufgebockten und schneebedeckten Autowracks, Linienbussen, Mähdreschern, Pflügen und Scootern hindurch.
Sie sehen eine Gestalt, die sich im Haus am Fenster vorbeibewegt, irgendetwas geschieht dort, die Bewegungen sind schnell. Erik kann nicht länger warten, er läuft auf das Haus zu, die Konsequenzen sind ihm egal, er muss jetzt endlich Benjamin finden, koste es, was es wolle. Simone folgt ihm keuchend. Sie nähern sich auf dem Harsch und bleiben vor der Kante zu einem freigeschaufelten Weg stehen. Am Haus lehnen eine Schaufel und ein Schlitten aus Aluminium. Man hört einen erstickten Schrei und rasches Poltern. Jemand schaut aus dem Fenster. Am Waldrand wird ein Zweig abgebrochen. Die Tür zum Holzschuppen schlägt. Simone atmet schnell. Sie nähern sich dem Haus. Die Person am Fenster ist verschwunden. Der Wind streicht durch die Baumwipfel. Dünner Schnee wirbelt über dem Harsch. Plötzlich schlägt jemand die Tür auf, und sie werden von einem Lichtstrahl geblendet. Jemand leuchtet sie mit einer starken Taschenlampe an. Sie blinzeln und halten die Hände schützend vor ihre Augen, um etwas sehen zu können.
»Benjamin?«, ruft Erik fragend.
Als der Lichtkegel gesenkt wird, sieht er, dass Lydia vor ihnen steht. Sie hält eine große Schere in der Hand. Das Licht der Taschenlampe fällt jetzt auf eine Gestalt im Schnee. Es ist Jussi. Sein Gesicht ist erfroren, blaugrau, die Augen sind geschlossen, in seiner Brust steckt eine Axt, und er ist von gefrorenem Blut bedeckt. Simone steht schweigend neben Erik, und er hört an ihren kurzen, erschreckten Atemzügen, dass auch sie die Leiche gesehen hat. Im selben Augenblick erkennt er, dass Joona nicht mehr bei ihnen ist. Er muss einen anderen Weg genommen haben, denkt Erik. Wenn es mir gelingt, Lydia lange genug hinzuhalten, kann er sich von hinten anschleichen.
»Lydia«, sagt Erik. »Schön, dich wiederzusehen.«
Sie rührt sich nicht von der Stelle und sieht Erik und Simone wortlos an. Die Schere schimmert in ihrer Hand, baumelt lose herab. Das Licht der Lampe funkelt auf dem grauen Grund des Gangs.
»Wir sind gekommen, um Benjamin abzuholen«, erklärt Erik ruhig.
»Benjamin«, erwidert Lydia. »Wer ist das?«
»Das ist mein Kind«, sagt Simone halb erstickt.
Erik versucht, ihr mit einer Geste klarzumachen, dass sie still sein soll, und vielleicht sieht sie es, denn sie weicht einen kleinen Schritt zurück und bemüht sich, ruhiger zu atmen.
»Ich habe hier keine anderen Kinder gesehen, nur mein eigenes«, sagt Lydia bedächtig.
»Lydia, hör mir zu«, sagt Erik. »Wenn wir Benjamin bekommen, gehen wir wieder und vergessen das Ganze. Ich schwöre, dass ich nie, nie wieder jemanden hypnoti…«
»Aber ich habe ihn nicht gesehen«, beharrt Lydia und wirft einen Blick auf die Schere. »Hier gibt es nur mich und meinen Kasper.«
»Lass uns, lass uns ihm nur seine Medikamente geben«, bittet Erik und merkt, dass seine Stimme zittert.
Lydia steht genau richtig, denkt er fieberhaft, sie kehrt dem Haus den Rücken zu, Joona braucht sich also bloß auf der Rückseite des Hauses anzuschleichen und sie von hinten zu übermannen.
»Ich will, dass ihr jetzt geht«, sagt Lydia kurz.
Erik meint einen Menschen zu sehen, der sich an den Fahrzeugreihen schräg hinter dem Haus vorbeibewegt. Sein Herz macht vor Erleichterung einen Satz. Plötzlich wird Lydias Blick wachsam. Sie hebt die Taschenlampe, leuchtet den Holzschuppen an und lässt den Lichtkegel über den Schnee schweifen.
»Kasper braucht seine Medikamente«, sagt Erik.
Lydia senkt die Lampe wieder. Ihre Stimme ist streng und kühl.
»Ich bin seine Mutter, ich weiß, was er braucht«, sagt sie.
»Da hast du Recht, das stimmt natürlich«, erwidert Erik schnell. »Aber wenn wir ihm nur kurz sein Medikament geben … dann kannst du ihn erziehen, ihn zurechtweisen, es ist doch Sonntag und …«
Erik verstummt unfreiwillig, als er die Gestalt hinter dem Haus näher kommen sieht.
»Die Sonntage«, fährt er fort, »die nutzt du doch immer, um …«
Zwei Personen kommen um das Haus herum. Joona bewegt sich steif und widerwillig auf sie zu. Hinter ihm geht Marek, der einen Elchstutzen auf Joona gerichtet hat.
Lydia verzieht den Mund, verlässt den freigeschaufelten Gang und steigt auf den Harsch.
»Erschieß sie«, sagt sie kurz und deutet mit einem Kopfnicken auf Simone. »Fang mit ihr an.«
»Ich habe aber nur zwei Patronen«, entgegnet Marek.
»Mach es, wie du willst, Hauptsache, du machst es«, sagt sie.
»Marek«, sagt Erik. »Ich wurde suspendiert, ich hätte dir sonst gerne geholfen, dich …«
»Halt’s Maul«, unterbricht Marek ihn.
»Du hattest angefangen, über die Dinge zu sprechen, die in dem großen Landhaus in Zenica-Doboj passiert sind.«
»Ich kann dir zeigen, was passiert ist«, sagt Marek und sieht Simone mit ruhigen, glänzenden Augen an.
»Tu es einfach«, seufzt Lydia und wirkt ungeduldig.
»Leg dich hin«, befiehlt Marek Simone. »Und zieh die Jeans aus.«
Sie rührt sich nicht. Marek richtet das Gewehr auf sie, und sie weicht zurück. Erik tritt näher, und Marek zielt schnell auf ihn.
»Ich schieße ihm in den Bauch«, erklärt Marek. »Dann darf er zugucken, wie wir uns amüsieren.«
»Tu es einfach«, sagt Lydia.
»Warte«, ruft Simone und öffnet ihre Jeans.
Marek spuckt in den Schnee und macht einen Schritt auf sie zu. Er scheint nicht recht zu wissen, was er tun soll, schaut zu Erik hinüber und richtet das Gewehr kurz auf ihn. Simone begegnet seinem Blick nicht. Er zielt mit dem Gewehr auf sie und richtet die Mündung erst auf ihren Kopf und dann auf den Bauch.
»Tu das nicht«, sagt Erik.
Marek senkt erneut den Elchstutzen und nähert sich Simone. Lydia weicht etwas zurück. Simone zieht ihre Jeans und die Skiunterhose herunter.
»Halt das Gewehr«, sagt Marek leise zu Lydia.
Sie kommt langsam näher. Gleichzeitig hört man es zwischen den schneebedeckten Fahrzeugen mehrmals metallisch knacken. Joona hustet. Auf einmal hört man ein Grollen. Ein Motor ist angelassen worden, und sie hören das harte Geräusch arbeitender Kolben. Unter dem Harsch gehen starke Scheinwerfer an. Der ganze Boden unter ihnen wird leuchtend weiß. Der Motor heult auf, die Gangschaltung protestiert kreischend, und Schnee wirbelt auf. Ein alter Linienbus mit einer großen Plane auf dem Dach prescht aus dem Schneewall hervor, reißt den Harsch auf und fährt direkt auf sie zu.
Als Marek den Blick auf den Bus richtet, bewegt sich Joona eigentümlich schnell auf ihn zu und packt den Lauf des Gewehrs. Marek hält die Waffe fest, muss aber einen Schritt nach vorn machen. Joona versetzt ihm daraufhin einen harten Schlag gegen die Brust und will seine Beine wegtreten, aber Marek fällt nicht. Stattdessen versucht er, das Gewehr umzudrehen. Der Kolben trifft Joona am Kopf und rutscht über den Scheitel. Mareks Finger sind so kalt, dass die Waffe seinem Griff entgleitet. Sie fliegt wirbelnd durch die Luft und landet vor Lydia. Simone rennt auf sie zu, aber Marek bekommt ihre Haare zu fassen und reißt sie zurück.
Der Bus ist an einer schlanken Fichte hängen geblieben, der Motor brüllt. Abgase und aufgewirbelter Schnee umgeben das Fahrzeug. Die vordere Tür des Busses öffnet und schließt sich immer wieder zischend.
Die Umdrehungszahl wird noch einmal erhöht, und der Baum wankt, von seinen dunklen Ästen fällt Schnee. Der Bus stößt immer wieder gegen den Stamm und schabt dumpf und metallisch Rinde ab. Die Räder drehen mit klirrenden Schneeketten durch.
»Benjamin«, schreit Simone. »Benjamin!«
Benjamins verwirrtes Gesicht taucht hinter der Windschutzscheibe auf. Er blutet aus der Nase. Lydia läuft mit Mareks Gewehr in der Hand auf den Bus zu. Erik verfolgt sie. Lydia zwängt sich in den Bus und schreit Benjamin an, schlägt mit dem Gewehrkolben und stößt ihn vom Fahrersitz. Erik kommt zu spät. Der Bus rollt rückwärts, schwenkt jäh herum und fährt ächzend die Böschung zum See hinunter. Erik schreit Lydia zu, dass sie anhalten soll, und rennt dem Bus in den Reifenspuren hinterher.
Marek lässt Simones Haare nicht los. Sie schreit und versucht, seine Hand aufzubiegen. Joona rutscht schnell ein Stück zur Seite, seine Schulter senkt sich, sein Körper dreht sich, und er schlägt mit geballter Faust von unten hoch und trifft Marek mit voller Wucht in der Achselhöhle. Mareks Arm flattert, als wäre er abgetrennt worden. Simone kann sich befreien und sieht im selben Moment die Schere im Schnee liegen. Marek schlägt mit der anderen Hand, aber Joona wehrt sie ab und wirft mit seinem ganzen Körpergewicht den rechten Ellbogen seitlich gegen Mareks Hals, woraufhin das Schlüsselbein mit einem dumpfen Knacken bricht. Marek fällt schreiend hin. Simone versucht die Schere zu erreichen, aber Marek tritt sie in den Bauch, bekommt die Schere zu fassen und schwenkt sie mit seinem gesunden Arm in einem weiten Bogen nach hinten. Simone schreit auf und sieht Joonas Gesicht erstarren, als sich die Schere in seinen rechten Oberschenkel bohrt. Blut spritzt in den Schnee. Joona bleibt auf den Beinen, hat die Handschellen schon in der Hand und schlägt mit ihnen auf Mareks linkes Ohr. Es ist ein harter Schlag. Marek wird ganz still, starrt nur erstaunt vor sich hin und versucht, etwas zu sagen. Er blutet aus Ohr und Nase. Keuchend beugt Joona sich über ihn und legt ihm die Handschellen an.
Mit stechenden Atemzügen rennt Erik in der Dunkelheit dem Bus hinterher. Die roten Rücklichter leuchten vor ihm, und die blassen Strahlen der Scheinwerfer beleuchten flackernd die Bäume. Es kracht, als an einem Baum ein Rückspiegel abgeschlagen wird. Erik denkt, dass die Kälte seinen Sohn schützt, dass die Minusgrade die Körpertemperatur um einige Zehntel senken und Benjamins Blut dickflüssiger machen, sodass er vielleicht durchkommt, obwohl er verletzt worden ist.
Das Gelände fällt hinter dem Haus steil ab. Erik kommt zu Fall und rappelt sich wieder auf. Unter dem Schnee liegen Unterholz und Erdhöcker verborgen. Der Bus ist ein Schatten, eine Silhouette, die von einem vagen Lichtschein umgeben wird.
Er überlegt, ob Lydia versuchen wird, um den Waldsee herumzufahren und auf die alte Holzfällerstraße zu gelangen. Der Bus bremst ab, und Erik sieht ihn stattdessen auf die Eisfläche schwenken. Er schreit, dass sie anhalten soll. Ein hinterherschleifendes Seil verheddert sich im Bootssteg, und die Plane wird vom Dach des Busses gezogen.
Erik nähert sich der Badestelle, es riecht nach Diesel. Der Bus ist bereits zwanzig Meter auf dem See.
Er ist völlig außer Atem, läuft aber weiter.
Plötzlich hält der Bus. Von panischer Angst gepackt sieht Erik, dass sich die roten Rücklichter nach oben bewegen, als würde jemand langsam aufblicken.
Das Eis donnert und kracht gewaltig. Erik bleibt am Ufer stehen und versucht, etwas zu sehen. Er erkennt, dass das Eis nachgegeben hat und der Bus eingebrochen ist. Die Räder drehen durch, reißen das Eisloch dadurch aber nur noch größer.
Erik reißt den Rettungsreifen an der Badestelle von seinem Ständer und läuft aufs Eis hinaus. Die Beleuchtung in dem schwimmenden Bus lässt das Fahrzeug schimmern wie eine frostige Glasglocke. Schwere Eisschollen werden abgebrochen und drehen sich im schwarzen Wasser.
Erik glaubt, im aufgewühlten Wasser hinter dem Bus ein weißes Gesicht zu erkennen.
»Benjamin«, schreit er.
Wellen schlagen auf das Eis und machen es unter seinen Füßen glitschig. Schnell packt er die Leine, die an dem Rettungsring befestigt ist, und bindet sie sich fest um die Taille, damit er sie nicht verliert. Er wirft den Rettungsring aus, kann in dem dunklen Wasser aber niemanden mehr sehen. Der Frontmotor des Busses arbeitet heulend. Die Rücklichter werfen rotes Licht auf Eismatsch und Schnee.
Der vordere Teil des Fahrzeugs senkt sich, sodass nur noch das Dach zu sehen ist. Die Scheinwerfer verschwinden im Wasser. Der Motor ist nicht mehr zu hören. Es wird fast still. Das Eis knirscht und kracht, und das Wasser gluckert träge. Plötzlich sieht Erik, dass Benjamin und Lydia noch in dem Bus sind, dessen Boden sich neigt. Sie bewegen sich nach hinten. Benjamin klammert sich an eine Stange. Das Dach ist am Fahrersitz fast auf einer Höhe mit dem Eis. Erik läuft zum Eisloch und springt auf den Bus. Das große Fahrzeug schaukelt unter ihm. Hinter sich hört er Simone rufen, die jetzt auch das Ufer erreicht hat. Erik kriecht zur Dachluke, richtet sich auf und tritt sie heraus. Glassplitter regnen auf Sitze und Boden herab. Erik hat nur einen Gedanken, Benjamin aus dem sinkenden Bus zu schaffen. Er klettert hinab, schafft es, sich mit den Füßen an der Rückenlehne eines Sitzes abzustützen und hinunterzulassen. Benjamin scheint panische Angst zu haben, er trägt nur einen Schlafanzug und blutet aus der Nase und einer kleinen Wunde auf seiner Wange.
»Papa«, flüstert er.
Erik folgt seinem Blick, der auf Lydia gerichtet ist. Sie steht am hinteren Ende des Busses, ihr Gesicht ist verschlossen. Sie hält das Gewehr in der Hand und hat einen blutverschmierten Mund. Der gesamte Fahrersitz steht mittlerweile unter Wasser. Der Bus sinkt noch ein Stück, und der Boden neigt sich steiler. Wasser dringt zwischen den Gummileisten der Mitteltüren ein.
»Wir müssen raus aus dem Bus«, ruft Erik.
Lydia schüttelt nur langsam den Kopf.
»Benjamin«, sagt Erik, ohne Lydia aus den Augen zu lassen. »Steig auf meine Schultern und klettere durch die Dachluke.«
Benjamin sagt nichts, tut aber, was Erik sagt. Er kommt taumelnd näher, steigt auf einen Sitz und von da aus auf Eriks Rücken und Schultern. Als seine Hände die offene Luke erreichen, hebt Lydia das Gewehr und schießt. Erik spürt keinen Schmerz, nur einen Schlag gegen die Schulter, der so hart ist, dass er umgeworfen wird. Erst als er wieder aufsteht, spürt er den Schmerz und das warme Blut. Benjamin baumelt von der Dachluke herab. Erik geht zu ihm und hilft ihm mit dem gesunden Arm hinauf, obwohl er sieht, dass Lydia erneut auf ihn anlegt. Benjamin ist schon auf dem Dach, als sie den nächsten Schuss abfeuert. Die Kugel streicht an Eriks Hüfte vorbei und zersplittert eine große Fensterscheibe neben ihm, sodass sich eisiges Wasser in den Bus ergießt, der nun rasch vollläuft. Erik versucht, die Dachluke zu erreichen, aber der Bus kippt auf die Seite und er gerät unter Wasser.
Durch den Schock der eisigen Kälte schwinden ihm für Sekundenbruchteile die Sinne. Seine Beine treten in Panik, und er taucht auf und füllt seine Lunge mit Luft. Der Bus versinkt langsam und metallisch krachend. Er kippt weiter, und Erik bekommt einen Schlag gegen den Kopf und sinkt erneut unter Wasser. In seinen Ohren rauscht es, unfassbare Kälte umschließt ihn. Durch das Fenster sieht er die Scheinwerfer in die Tiefe des Waldsees leuchten. Sein Herz pocht. Gesicht und Kopf spannen. Das Wasser ist so lähmend kalt, dass er sich nicht bewegen kann. Er sieht Lydia unter Wasser, sie hält sich mit dem Rücken zur letzten Sitzbank des Busses an einer Stange fest. Er sieht die offene Dachluke und das herausgeschossene Fenster und weiß, dass der Bus sinkt, weiß, dass er schwimmen muss und die Zeit drängt und er kämpfen muss, aber seine Arme gehorchen ihm nicht. Er ist fast schwerelos, hat aber kein Gefühl in den Beinen. Er versucht, sich zu bewegen, aber es fällt ihm schwer, seine Bewegungen zu koordinieren.
Erik sieht, dass ihn das Blut aus seiner Schulterwunde wie eine Wolke umschwebt.
Plötzlich begegnet er Lydias Blick, sie sieht ihm ruhig in die Augen. Sie hängen regungslos im eisigen Wasser und betrachten einander.
Lydias Haare wehen im Wasser, und aus ihrer Nase strömen perlend kleine Luftblasen.
Erik muss atmen, sein Hals spannt sich an, aber noch wehrt er sich gegen den Drang seiner Lunge, Sauerstoff einzuatmen. Seine Schläfen pochen, und in seinem Kopf blitzt weißes Licht auf.
Seine Körpertemperatur ist inzwischen so niedrig, dass er bald das Bewusstsein verlieren wird. In seinen Ohren klingelt es immer lauter.
Erik denkt an Simone und an Benjamin, der überleben wird. Es ist wie in einem Traum, so frei in dem eisigen Wasser zu treiben. Mit merkwürdiger Klarheit erkennt er, dass der Augenblick seines Todes gekommen ist, und in seinem Inneren wallt panische Angst auf.
Er weiß nicht, wo oben und unten ist, fühlt seinen Körper nicht, kann hell und dunkel nicht mehr unterscheiden. Auf einmal kommt ihm das Wasser warm, fast heiß vor. Er denkt, dass er jeden Moment den Mund öffnen und nachgeben, das Ende kommen lassen und seine Lunge mit Wasser füllen muss. Neue, seltsame Gedanken schießen ihm durch den Kopf, als plötzlich etwas geschieht. Er spürt, dass sich das Seil um seine Taille spannt. Er hat vergessen, dass er sich die lange Leine umgebunden hat, die mit dem Rettungsring verbunden ist. Jetzt hängt das Seil an etwas fest, und er wird schwerfällig zur Seite gezogen. Er kann nichts dagegen tun, hat keine Kraft mehr. Unwiderstehlich wird sein schlaffer Körper um eine Stange und anschließend durch die Dachluke nach oben gezogen. Sein Hinterkopf stößt an, und er verliert einen Schuh. Dann ist er im schwarzen Wasser. Er wird hochgezogen und sieht den Bus ohne ihn in der Tiefe versinken und die schemenhafte Gestalt Lydias in dem leuchtenden Käfig, der lautlos zum Grund des Sees fällt.