Zehn Jahre zuvor


Es war an einem Morgen um halb neun. Die Sonne stand auf den verstaubten Fenstern. Ich hatte nach meinem Nachtdienst im Büro geschlafen und war müde, packte aber trotzdem meine Sporttasche. Lasse Ohlson hatte unsere Badmintonspiele wochenlang abgesagt. Er hatte einfach zu viel um die Ohren gehabt, pendelte zwischen einem Krankenhaus in Oslo und dem Karolinska-Krankenhaus, hielt Vorlesungen in London und sollte in den Klinikvorstand berufen werden. Zwei Tage zuvor hatte er mich jedoch angerufen und gefragt, ob ich bereit sei.

»Ja, klar«, hatte ich geantwortet.

»Du bist also bereit, fertiggemacht zu werden«, sagte er ohne den üblichen Elan in der Stimme.

Ich kippte den restlichen Kaffee in den Ausguss, stellte die Tasse in die Personalküche, lief die Treppen hinunter und fuhr mit dem Fahrrad zur Sporthalle. Als ich hereinkam, war Lars Ohlson schon in der kalten Umkleide. Er blickte auf, betrachtete mich mit einem beinahe ängstlichen Blick, wandte sich ab und zog seine Sporthose an.

»Du wirst so viel Prügel beziehen, dass du eine Woche nicht sitzen kannst«, sagte er und sah mich an.

Seine Hand zitterte, als er den Schrank abschloss.

»Du hast viel zu tun gehabt«, sagte ich.

»Was? Ja, stimmt, es ist …«

Er verstummte und ließ sich schwer auf die Bank fallen.

»Geht es dir gut?«, erkundigte ich mich.

»Aber ja«, antwortete er. »Und wie läuft es bei dir?«

»Am Freitag habe ich einen Termin beim Vorstand.«

»Stimmt, dein Etat ist ausgeschöpft, es ist immer dasselbe.«

»Eigentlich mache ich mir keine großen Sorgen«, sagte ich. »Ich denke, es wird klappen, meine Forschung macht Fortschritte, es geht voran, ich kann sehr gute Ergebnisse vorweisen.«

»Ich kenne Frank Paulsson, er sitzt im Vorstand«, sagte Lasse Ohlson und stand auf.

»Du kennst ihn? Wie kommt’s?«

»Wir waren zusammen bei der Armee, er ist ein kluger Kopf und offen für Neues.«

»Gut«, sagte ich leise.

Wir verließen den Umkleideraum, und Lasse packte mich am Arm.

»Soll ich ihn anrufen und ihm sagen, dass sie auf dich setzen sollen?«

»Geht das denn?«, fragte ich.

»Es ist sicher nicht erlaubt, aber was soll’s.«

»Dann ist es vielleicht besser, wenn du es lässt«, erwiderte ich lächelnd.

»Aber du musst doch mit deiner Forschung weitermachen dürfen.«

»Das wird schon klappen.«

»Keiner erfährt etwas davon.«

Ich sah ihn an und sagte zögernd:

»Aber vielleicht wäre es ein Fehler.«

»Ich rufe Frank Paulsson noch heute Abend an.«

Ich nickte, und er schlug mir lächelnd auf den Rücken.

Als wir in die große Halle mit ihren Echos und quietschenden Schuhen kamen, fragte Lars mich unvermittelt:

»Könntest du vielleicht eine meiner Patientinnen übernehmen?«

»Und warum?«

»Ich habe einfach keine Zeit für sie«, antwortete er.

»Ich bin leider auch total ausgebucht«, erwiderte ich.

»Okay.«

Bis Platz fünf frei wurde, machte ich Dehnübungen. Lasse trabte umher, strich sich über die Haare und räusperte sich.

»Eva Blau würde bestimmt gut in deine Gruppe passen«, sagte er. »Sie schließt sich wie eine Muschel um ein Trauma. Jedenfalls glaube ich das, denn ich habe es nicht geschafft, diese Schale zu durchdringen, es ist mir nicht ein einziges Mal gelungen.«

»Ich gebe dir gerne ein paar Tipps, wenn du …«

»Tipps?«, unterbrach er mich und senkte die Stimme. »Um ehrlich zu sein, ich bin fertig mit ihr.«

»Ist was passiert?«, fragte ich.

»Nein, nein, es ist nur … Ich dachte sie wäre sehr krank, ich meine körperlich.«

»Aber das war sie nicht?«, wollte ich wissen.

Er lächelte gestresst und beobachtete mich.

»Kannst du nicht einfach sagen, dass du sie übernimmst?«, fragte er.

»Ich überlege es mir«, antwortete ich.

»Wir sprechen später noch einmal darüber«, sagte er schnell.

Lasse joggte auf der Stelle, blieb stehen, schaute mit unruhigen Augen zum Eingang, beobachtete alle, die hereinkamen, und lehnte sich an die Wand.

»Ich weiß nicht, Erik, aber ich wäre wirklich verdammt froh, wenn du dir Eva ansehen könntest, ich würde …«

Er verstummte und sah zum Platz hinüber, wo zwei junge Frauen, die wie Medizinstudentinnen aussahen, noch ein paar Minuten Spielzeit hatten. Als die eine stolperte und einen einfachen Stoppball verpasste, schnaubte er und flüsterte:

»Dumme Kuh.«

Ich sah auf die Uhr und rollte mit den Schultern. Lasse stand neben mir und kaute Fingernägel. Ich sah, dass er unter den Armen schwitzte. Sein Gesicht war älter, hagerer geworden. Jemand schrie vor der Halle, und er zuckte zusammen und warf einen Blick zu den Türen.

Die Frauen sammelten ihre Sachen ein und verließen plaudernd den Platz.

»Jetzt spielen wir«, sagte ich und setzte mich in Bewegung.

»Erik, habe ich dich jemals gebeten, eine meiner Patientinnen zu übernehmen?«

»Nein, es ist nur so, dass ich so ausgebucht bin.«

»Und wenn ich deine Dienste übernehme?«, sagte er schnell und beobachtete mich.

»Das sind ziemlich viele«, antwortete ich fragend.

»Ich weiß, aber ich habe mir gedacht, du hast doch Familie und musst auch mal zu Hause sein.«

»Ist sie gefährlich?«

»Wie meinst du das?«, fragte er mit einem unsicheren Lächeln und nestelte an seinem Schläger herum.

»Eva Blau? Wie schätzt du sie ein?«

Wieder schaute er zur Tür.

»Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll«, sagte er leise.

»Hat sie dir gedroht?«

»Was ich meine, ist … alle Patienten dieser Art können gefährlich sein, das ist manchmal nicht ganz leicht zu durchschauen, aber ich bin mir sicher, dass du mit ihr klarkommen wirst.«

»Das werde ich schon«, sagte ich.

»Du übernimmst sie? Sag, dass du es tust, Erik. Übernimmst du sie?«

»Ja«, antwortete ich.

Seine Wangen liefen rot an, und er wandte sich ab und ging zur Grundlinie. Plötzlich lief auf der Innenseite seines Oberschenkels ein Striemen Blut herab. Er wischte es mit der Hand ab und sah mich an. Als er begriff, dass ich das Blut gesehen hatte, murmelte er, er habe Probleme mit der Leiste, entschuldigte sich und verließ humpelnd den Platz.

Zwei Tage später war ich gerade in mein Behandlungszimmer zurückgekehrt, als es an die Tür klopfte. Ich öffnete, und vor mir standen Lars Ohlson und ein paar Meter weiter eine Frau in einem weißen Regenmantel. Ihre Augen schauten bekümmert, und ihre Nase war rot angelaufen, als wäre sie erkältet. Sie hatte ein schmales und spitzes Gesicht und war stark geschminkt, sie hatte blauen und rosa Lidschatten aufgetragen.

»Das ist Erik Maria Bark«, sagte Lasse. »Ein sehr guter Arzt, besser als ich es jemals sein werde.«

»Ihr kommt früh«, sagte ich.

»Ist das okay?«, fragte er gestresst.

Ich nickte und bat die beiden einzutreten.

»Erik, ich habe leider keine Zeit«, meinte er leise.

»Also, es wäre schon gut, wenn du dabei sein könntest.«

»Ich weiß, aber ich muss los«, sagte er. »Du kannst mich jederzeit anrufen, ich gehe an den Apparat, mitten in der Nacht, immer.«

Er eilte davon, und Eva Blau begleitete mich in mein Zimmer, schloss die Tür hinter sich und begegnete meinem Blick.

»Gehört der Ihnen?«, fragte sie plötzlich und hielt einen Porzellanelefanten in ihrer zitternden Hand.

»Nein, der gehört mir nicht«, antwortete ich.

»Aber ich habe doch gesehen, wie Sie ihn angeschaut haben«, sagte sie höhnisch. »Sie wollen ihn haben, stimmt’s?«

Ich atmete tief durch und fragte:

»Warum glauben Sie, dass ich ihn haben will?«

»Sie wollen ihn nicht haben?«

»Nein.«

»Wollen Sie die vielleicht haben?«, fragte sie und zog ihr Kleid hoch.

Sie trug keinen Slip und hatte sich die Schamhaare abrasiert.

»Eva, tun Sie das nicht«, sagte ich.

»Okay«, sagte sie mit nervös zitternden Lippen.

Es war viel zu wenig Platz zwischen uns. Ihre Kleider rochen intensiv nach Vanille.

»Wollen wir uns nicht setzen?«, fragte ich neutral.

»Aufeinander?«

»Sie können auf der Couch Platz nehmen«, sagte ich.

»Auf der Couch?«

»Ja.«

»Das würde dir so passen«, sagte sie, warf den Regenmantel auf den Boden, ging zum Schreibtisch und setzte sich auf meinen Stuhl.

»Mögen Sie mir ein bisschen über sich erzählen?«, fragte ich.

»Was interessiert Sie?«

Ich fragte mich, ob sie trotz ihrer starken Anspannung ein Mensch war, der sich leicht hypnotisieren lassen würde, oder ob sie sich gegen die Hypnose stemmen und versuchen würde, sich nicht aus der Reserve locken zu lassen und eine Beobachterin zu bleiben.

»Ich bin nicht Ihr Feind«, erklärte ich ruhig.

»Nicht?«

Sie zog eine Schreibtischschublade heraus.

»Würden Sie das bitte lassen«, sagte ich.

Sie ignorierte meine Worte und stocherte achtlos zwischen den Papieren herum. Ich ging zu ihr, hob ihre Hand weg, schob die Schublade zu und sagte mit Nachdruck:

»Das dürfen Sie nicht tun. Ich habe Sie gebeten, damit aufzuhören.«

Sie sah mich trotzig an und öffnete erneut die Schublade. Ohne mich aus den Augen zu lassen, zog sie einen Blätterstapel heraus und warf ihn auf den Boden.

»Schluss jetzt«, sagte ich hart.

Ihre Lippen begannen zu zittern. Tränen schossen ihr in die Augen.

»Sie hassen mich«, flüsterte sie. »Ich wusste es, ich wusste, dass Sie mich hassen würden, alle hassen mich.«

Sie klang plötzlich ängstlich.

»Eva«, sagte ich behutsam. »Es ist alles in Ordnung, setzen Sie sich, wo Sie möchten, wenn Sie wollen, können Sie auch meinen Stuhl haben oder sich auf die Couch setzen, wenn Ihnen das lieber ist.«

Sie nickte, stand auf und ging zur Couch. Dann drehte sie sich um und fragte leise:

»Darf ich Ihre Zunge berühren?«

»Nein, das dürfen Sie nicht. Setzen Sie sich jetzt bitte.«

Sie nahm endlich Platz, begann aber sofort, rastlos hin und her zu rutschen.

Mir fiel auf, dass sie etwas in der Hand hielt.

»Was haben Sie da?«, fragte ich.

Sie verbarg rasch ihre Hand hinter dem Rücken.

»Kommen Sie her und sehen Sie es sich an«, sagte sie in ihrem ängstlich feindseligen Ton.

Ich spürte, dass ich kurz davor war, die Geduld zu verlieren, zwang mich jedoch, vollkommen ruhig zu klingen, als ich sie fragte:

»Möchten Sie mir nicht erzählen, warum Sie bei mir sind?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Was glauben Sie?«, fragte ich.

Es zuckte in ihrem Gesicht.

»Weil ich gesagt habe, ich hätte Krebs«, flüsterte sie.

»Hatten Sie Angst, Sie könnten an Krebs leiden?«

»Ich dachte, er würde wollen, dass ich Krebs habe«, sagte sie.

»Lars Ohlson?«

»Sie haben mich am Gehirn operiert, sie haben mich zweimal operiert. Ich wurde betäubt. Als ich bewusstlos war, haben sie mich vergewaltigt.«

Ihr Blick begegnete meinem, und sie verzog hastig den Mund.

»Also bin ich jetzt schwanger und lobotomiert.«

»Was wollen Sie mir damit sagen?«

»Dass es gut so ist, denn ich sehne mich nach einem Kind, einem Sohn, einem Jungen, der an meiner Brust saugt.«

»Eva«, sagte ich, »was denken Sie, warum Sie hier sind?«

Sie zog die Hand hinter dem Rücken hervor und öffnete die geballte Faust. Ihre Hand war leer, und sie drehte sie mehrmals hin und her.

»Möchten Sie meine Möse untersuchen?«, flüsterte sie.

Ich spürte, dass ich entweder das Zimmer verlassen oder jemanden hinzurufen musste. Eva Blau stand schnell auf:

»Entschuldigung«, sagte sie. »Entschuldigung, ich habe nur solche Angst, dass Sie mich hassen werden. Bitte, hassen Sie mich nicht. Ich will bleiben, ich brauche Hilfe.«

»Eva, beruhigen Sie sich bitte. Ich versuche nur, ein Gespräch mit Ihnen zu führen. Sie sollen in meine Hypnosegruppe aufgenommen werden, das wissen Sie, das hat Lars Ihnen erklärt. Er meinte, Sie wären dafür, Sie wollten das.«

Sie nickte, streckte die Hand aus und stieß meine Kaffeetasse vom Tisch.

»Entschuldigung«, sagte sie erneut.

Als Eva Blau gegangen war, sammelte ich meine Papiere vom Fußboden auf und setzte mich an den Schreibtisch. Vor meinem Fenster regnete es leicht, und mir fiel ein, dass Benjamin mit seiner Kindergartengruppe einen Ausflug machte und sowohl ich als auch Simone vergessen hatten, ihm die Regenhose mitzugeben, die in der Wäsche gewesen war.

Jetzt fiel klares, helles Regenwasser auf Straßen, Fußwege und Spielplätze.

Ich überlegte, ob ich im Kindergarten anrufen und die Erzieherinnen bitten sollte, Benjamin nicht aus dem Haus zu lassen. Jeder Ausflug machte mir Angst. Mir gefiel nicht einmal die Vorstellung, dass er durch mehrere Flure und zwei Treppen hinuntergehen musste, um in den Speisesaal zu kommen. Ich stellte mir vor, wie er von übereifrigen Kindern gestoßen wurde und jemand eine schwere Tür aufschlug und ihn damit traf, ich sah ihn über Schuhe stolpern, die in schmutzigen Haufen vor der Schuhgrenze abgestellt waren. Ich gebe ihm seine Spritzen, dachte ich. Das Medikament sorgt dafür, dass er an einer kleinen Wunde nicht mehr verbluten wird, aber er ist immer noch viel verletzlicher als andere Kinder.


Ich erinnere mich an das Sonnenlicht am nächsten Morgen, das durch die dunkelgrauen Vorhänge fiel. Simone schlief nackt neben mir. Ihr Mund stand halb offen, ihre Haare hingen wirr herab, Schultern und Brüste waren von kleinen hellen Sommersprossen bedeckt. Plötzlich bekam ihr Arm eine Gänsehaut. Ich zog die Decke über sie. Benjamin hustete leise. Ich hatte nicht bemerkt, dass er bei uns lag. Manchmal schlich er sich nachts herein und legte sich auf die Matratze auf dem Fußboden, wenn er schlecht geträumt hatte. Ich lag dann oft in einer unbequemen Stellung und hielt seine Hand, bis er wieder eingeschlafen war.

Ich sah, dass es sechs Uhr war, drehte mich auf die Seite, schloss die Augen und überlegte, dass es nicht zu verachten wäre, wenn ich noch etwas schlafen dürfte.

»Papa?«, flüsterte Benjamin auf einmal.

»Schlaf noch ein bisschen«, sagte ich leise.

Er setzte sich auf seiner Matratze auf, sah mich an und sagte mit seiner hellen, klaren Stimme:

»Papa, du hast heute Nacht auf Mama gelegen.«

»Tatsächlich«, sagte ich und merkte, dass Simone neben mir wach wurde.

»Ja, du hast unter der Decke gelegen und auf ihr geschaukelt«, fuhr er fort.

»Das klingt aber komisch«, versuchte ich darüber hinwegzuplaudern.

»Hm.«

Simone prustete los und versteckte ihren Kopf unter dem Kissen.

»Vielleicht habe ich ja was geträumt«, sagte ich vage.

Jetzt schüttelte sich Simone vor Lachen unter ihrem Kissen.

»Du hast geträumt, dass du schaukelst?«

»Na ja …«

Simone hob breit lächelnd den Kopf.

»Jetzt antworte doch«, sagte sie mit gefasster Stimme. »Hast du geträumt, dass du schaukelst?«

»Papa?«

»Das muss ich wohl getan haben.«

»Aber«, fuhr Simone lachend fort, »warum hast du dann auf mir gelegen, als du …«

»Jetzt frühstücken wir«, unterbrach ich sie.

Ich sah Benjamin beim Aufstehen grimassieren. Morgens war es immer am schlimmsten. Seine Glieder waren stundenlang nicht bewegt worden, sodass es oft zu spontanen Blutungen kam.

»Wie fühlst du dich?«

Benjamin stützte sich gegen die Wand, um stehen zu können.

»Warte, kleiner Mann, ich werde dich massieren«, sagte ich.

Benjamin seufzte, als er sich ins Bett legte und ich vorsichtig anfing, seine Gliedmaßen zu beugen und zu strecken.

»Ich will keine Spritze«, sagte er mit trauriger Stimme.

»Heute bekommst du auch keine, Benjamin, erst übermorgen.«

»Ich will nicht, Papa.«

»Denk mal an Lasse, der hat Diabetes«, sagte ich. »Der braucht jeden Tag eine Spritze.«

»David braucht keine Spritzen«, beklagte sich Benjamin.

»Aber vielleicht gibt es ja etwas anderes, was er schlimm findet.«

Es wurde still.

»Sein Vater ist tot«, flüsterte Benjamin.

»Ja«, sagte ich und beendete die Massage seiner Arme und Hände.

»Danke, Papa«, sagte Benjamin und stand vorsichtig auf.

»Mein Bärchen.«

Ich umarmte seinen kleinen schmalen Körper, bezähmte aber wie üblich meine Lust, ihn ganz fest an mich zu drücken.

»Darf ich Pokemon gucken?«, wollte er wissen.

»Frag Mama«, antwortete ich und hörte Simone aus der Küche »Feigling« rufen.

Nach dem Frühstück setzte ich mich im Arbeitszimmer an Simones Schreibtisch, griff nach dem Telefon und wählte Lasse Ohlsons Nummer. Seine Sekretärin Jennie Lagercrantz ging an den Apparat. Sie arbeitete schon mindestens zwanzig Jahre für ihn. Ich machte Konversation und erzählte ihr, dass es der erste Morgen seit drei Wochen war, an dem ich ausschlafen durfte. Anschließend bat ich, ein paar Worte mit Lasse wechseln zu dürfen.

»Einen Moment«, sagte sie.

Falls es noch nicht zu spät war, wollte ich ihn bitten, nicht mit Frank Paulsson über mich zu sprechen.

Es klickte im Hörer, und einige Sekunden später sagte seine Sekretärin:

»Lars kann im Moment kein Gespräch annehmen.«

»Sagen Sie ihm, dass ich es bin.«

»Das habe ich schon getan«, erklärte sie förmlich.

Ich legte wortlos auf, schloss die Augen und begriff, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, dass man mich möglicherweise hereingelegt hatte und Eva Blau wahrscheinlich unangenehmer oder gefährlicher war, als Lasse Ohlson mir gesagt hatte.

»Ich schaffe das schon«, flüsterte ich vor mich hin.

Dann überlegte ich jedoch, dass die Hypnosegruppe aus dem Gleichgewicht geraten könnte. Ich hatte eine relativ kleine Gruppe von Menschen zusammengestellt, Frauen und Männer, deren Probleme, Krankheitsgeschichten und Herkunft völlig verschieden waren. Ich hatte keine Rücksicht darauf genommen, ob sie leicht zu hypnotisieren waren oder nicht. Das Entscheidende war für mich die Kommunikation, die Berührungspunkte innerhalb der Gruppe, die Beziehungen, die sie zu sich und anderen entwickelten. Manche hatten große Schuld auf sich geladen, was sie daran hinderte, sich anderen Menschen zu nähern. Andere gaben sich selbst die Schuld dafür, dass sie vergewaltigt oder misshandelt worden waren. Sie hatten die Kontrolle über ihr Leben oder jegliches Vertrauen in die Welt verloren.

Die bisher letzte Sitzung hatte meine Gruppe einen Schritt weitergebracht. Wir hatten uns wie immer zunächst unterhalten, ehe ich versuchte, Marek Semiovic zu hypnotisieren. Das war bei ihm bisher nicht so einfach gewesen. Es war ihm schwergefallen, sich zu konzentrieren, und er hatte sich beharrlich gewehrt. Ich spürte, dass ich noch nicht den richtigen Zugang gefunden hatte und wir nicht einmal einen Ort entdeckt hatten, an dem wir ansetzen konnten.

»Ein Haus? Ein Fußballplatz? Ein Wäldchen?«, schlug ich vor.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Marek wie üblich.

»Irgendwo müssen wir anfangen«, sagte ich.

»Aber wo?«

»Stell dir einen Ort vor, an den du zurückkehren musst, um den Menschen zu verstehen, der du heute bist«, sagte ich.

»Die Gegend um Zenica«, erwiderte Marek neutral. »Zenicˇko-dobojoski.«

»Okay, gut«, kommentierte ich und machte mir eine Notiz. »Weißt du, was dort passiert ist?«

»Alles ist dort passiert, in einem großen Kasten aus dunklem Holz, fast schon eine Art Schloss, ein Gutshaus mit steilem Dach und Türmchen und Veranden …«

Jetzt war die Hypnosegruppe konzentriert, alle lauschten und begriffen, dass Marek auf einmal eine Reihe innerer Türen geöffnet hatte.

»Ich glaube, ich saß in einem Sessel«, sagte Marek zögernd. »Oder auf ein paar Kissen, jedenfalls rauchte ich eine Marlboro, während … Es müssen Hunderte Mädchen und Frauen aus meiner Heimatstadt gewesen sein, die an mir vorbeikamen.«

»Vorbeikamen?«

»Innerhalb weniger Wochen … Sie kamen durch die Eingangstüren herein und wurden die große Treppe hinauf zu den Schlafzimmern geführt.«

»War das ein Bordell?«, fragte Jussi.

»Ich weiß nicht, was dort passiert ist, weiß fast nichts«, antwortete Marek leise.

»Du hast die Zimmer in der oberen Etage nie gesehen?«, fragte ich.

Er rieb sich das Gesicht mit den Händen und atmete tief durch.

»Eine Erinnerung geht so«, setzte er an. »Ich komme in ein kleines Zimmer und sehe eine Lehrerin, die ich in der Mittelstufe hatte, sie liegt gefesselt auf einem Bett, ist nackt und hat blaue Flecken auf Hüften und Oberschenkeln.«

»Was passiert?«

»Ich stehe an der Tür und halte eine Art Holzstab in der Hand und … An mehr kann ich mich nicht erinnern.«

»Versuch es«, sagte ich ruhig.

»Es ist verschwunden.«

»Bist du sicher?«

»Ich kann nicht mehr.«

»Okay, schon gut, das reicht«, sagte ich.

»Warte kurz«, erwiderte er und schwieg anschließend längere Zeit.

Er seufzte, rieb sich das Gesicht und stand auf.

»Marek?«

»Ich erinnere mich an nichts, aber alles passierte in diesem verdammten Haus«, sagte er.

Ich sah ihn an und nickte.

»Alles, was ich bin – befindet sich in diesem Holzhaus.«

»In diesem verwunschenen Schloss«, sagte Lydia auf ihrem Platz neben ihm.

»Genau, es war ein verwunschenes Schloss«, sagte er und lachte mit traurigem Gesicht.


Ich sah wieder auf die Uhr. Bald würde ich mich mit der Krankenhausleitung treffen und meine Forschungsarbeit vorstellen. Entweder wurden mir neue Mittel bewilligt, oder ich musste Forschung und Therapie auslaufen lassen. Ich hatte noch keine Zeit gehabt, nervös zu werden. Ich ging zum Waschbecken und wusch mir das Gesicht, blieb einen Moment stehen, musterte mich im Spiegel und versuchte zu lächeln, ehe ich das Badezimmer verließ. Als ich die Tür zu meinem Büro abschloss, sah ich, dass nur wenige Schritte entfernt eine junge Frau im Flurstand.

»Erik Maria Bark?«

Sie hatte dichte dunkle Haare, die im Nacken zu einem Knoten gebunden waren, und als sie mich anlächelte, tauchten in ihren Wangen tiefe Lachgrübchen auf. Sie trug einen Arztkittel, und ihr Namensschild wies sie als angehende Ärztin aus.

»Ich heiße Maja Swartling«, sagte sie und streckte mir die Hand entgegen. »Ich bin eine Ihrer größten Bewunderinnen.«

»Woran mag das liegen?«, fragte ich leise lächelnd.

Sie wirkte fröhlich und duftete nach Hyazinthen.

»Ich würde mich gerne an Ihrer Arbeit beteiligen«, sagte sie ohne Umschweife.

»An meiner Arbeit?«

Sie nickte und errötete heftig.

»Ich muss einfach«, sagte sie. »Sie ist so unglaublich spannend.«

»Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Ihren Enthusiasmus ein wenig dämpfen muss, aber ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich meine Forschungen fortsetzen kann«, erklärte ich.

»Wie bitte?«

»Meine Forschungsmittel reichen nur noch bis zum Jahresende.«

Ich dachte an meine bevorstehende Besprechung und versuchte, es ihr freundlich zu erklären:

»Es ist ganz wunderbar, dass Sie sich für meine Arbeit interessieren, und ich bin gerne bereit, mich mit Ihnen darüber zu unterhalten. Aber ich bin gerade auf dem Weg zu einer wichtigen Besprechung, die …«

Maja Swartling trat zur Seite.

»Entschuldigung«, sagte sie. »Oh Gott, entschuldigen Sie.«

»Wir können auf dem Weg zum Aufzug weiterreden«, schlug ich vor und lächelte sie an.

Die Situation schien sie zu stressen. Sie errötete erneut und ging neben mir.

»Glauben Sie, dass es Probleme geben könnte, neue Forschungsgelder zu bekommen?«, fragte sie besorgt.

In zwei Minuten würde ich den Krankenhausvorstand treffen. Von seiner Forschung zu berichten – Ergebnisse, Ziele und Zeitplan –, um neue Mittel zu beantragen, war das übliche Verfahren, aber ich fand es dennoch immer besonders unangenehm, weil ich wusste, dass ich wegen der vielen Vorurteile gegenüber der Hypnose auf Schwierigkeiten stoßen würde.

»Die meisten halten Hypnose immer noch für etwas Windiges, das man nicht ernst nehmen muss, und dieser Stempel macht es ziemlich schwierig, vorläufige Ergebnisse vorzustellen.«

»Aber wenn man Ihre Berichte liest, erkennt man doch unglaublich interessante Muster, auch wenn es noch zu früh ist, etwas zu veröffentlichen.«

»Sie haben alle meine Berichte gelesen?«, fragte ich skeptisch.

»Es waren ziemlich viele«, antwortete sie trocken.

Wir blieben vor dem Aufzug stehen.

»Was halten Sie von meinen Ideen zum Thema Engramme?«, testete ich sie.

»Sie denken an den Abschnitt über den Patienten mit Schädelverletzungen?«

»Ja«, sagte ich und versuchte zu überspielen, wie überrascht ich war.

»Ich finde es interessant«, sagte sie, »dass Sie Einwände gegen gewisse Theorien zur Verteilung des Erinnerungsvermögens im Gehirn erheben.«

»Wie stehen Sie dazu?«

»Nun ja, ich finde, Sie sollten die Synapsenforschung vertiefen und sich auf die Amygdala konzentrieren.«

»Ich bin beeindruckt«, sagte ich und drückte auf den Aufzugknopf.

»Sie müssen diese Forschungsgelder bekommen.«

»Ich weiß«, antwortete ich.

»Was passiert, wenn die Nein sagen?«

»Dann wird man mir hoffentlich wenigstens die erforderliche Zeit zubilligen, die Therapie auslaufen zu lassen und meine Patienten anderen Behandlungsformen zuzuführen.«

»Und Ihre Forschung?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Ich könnte mich an einer anderen Universität bewerben, falls mich jemand nimmt.«

»Haben Sie Feinde im Vorstand?«, fragte sie.

»Das glaube ich nicht.«

Sie hob die Hand, legte sie sanft auf meinen Arm und lächelte entschuldigend. Ihre Wangen erröteten noch heftiger.

»Sie werden die Gelder bekommen, denn Ihre Arbeit ist bahnbrechend, davor kann der Vorstand einfach nicht die Augen verschließen«, sagte sie und sah mir tief in die Augen. »Wenn diese Leute das nicht sehen, begleite ich Sie zu jeder Universität, egal welcher.«

Plötzlich fragte ich mich, ob sie mit mir flirtete. Da war etwas in ihrer Beflissenheit, ihrem sanften, heiseren Tonfall. Ich warf einen kurzen Blick auf ihr Namensschild, um mich ihres Namens zu vergewissern: Maja Swartling, Arzt im PJ.

»Maja …«

»Sie dürfen mich nicht abweisen«, flüsterte sie verspielt. »Erik Maria Bark.«

»Wir müssen uns später weiter unterhalten«, sagte ich, als die Aufzugtüren aufglitten.

Maja Swartling lächelte so breit, dass man wieder ihre Grübchen sah, führte die Hände unter dem Kinn zusammen, verneigte sich tief und scherzhaft und sagte sanft:

»Sawadee.«

Ich ertappte mich dabei, angesichts ihres thailändischen Grußes zu lächeln, als ich mit dem Aufzug in die Chefarztetage hochfuhr. Es klingelte, und ich trat in den Flur hinaus. Obwohl die Tür offen stand, klopfte ich an, bevor ich eintrat. Annika Lorentzon saß am Tisch und sah aus dem Fenster. Durch die Panoramafenster hatte man eine wunderbar weite Aussicht über den Nordfriedhof und den Hagapark. In ihrem Gesicht sah man keine Spur der zwei Flaschen Wein, die sie gerüchteweise jeden Abend trank, um einschlafen zu können. Die Blutgefäße lagen gleichmäßig und verborgen unter ihrem fünzigjährigen Teint. Dennoch, unter den Augen und auf der Stirn sah man ein oberflächliches Netz feiner Falten, und ihre einst so schöne Hals- und Kinnlinie, die ihr vor vielen Jahren den zweiten Platz bei der Wahl zur Miss Sweden eingebracht hatte, war gealtert.

Dafür hätte Simone mir gehörig die Leviten gelesen, dachte ich. Sie hätte mir sofort aufgezeigt, dass es eine typisch männliche Machttechnik ist, eine übergeordnete Frau herabzusetzen, indem man an ihrem Aussehen herummäkelt. Kein Mensch spricht über die Trinkgewohnheiten männlicher Chefs, keiner käme auf die Idee, über die erschlafften Gesichtszüge eines Mannes in leitender Position zu reden.

Ich grüßte die Leiterin des Krankenhauses und setzte mich neben sie.

»Grandios«, sagte ich.

Annika Lorentzon lächelte mich still an. Sie war braungebrannt und schlank, hatte dünne und von Dauerwellen strapazierte Haare. Sie roch nicht nach Parfüm, eher nach Reinlichkeit; der vage Hauch einer exklusiven Seife umwehte sie.

»Möchtest du?«, fragte sie und deutete auf ein paar Mineralwasserflaschen.

Ich schüttelte den Kopf und begann mich zu fragen, wo die anderen wohl sein mochten. Der Vorstand sollte eigentlich versammelt sein, auf meiner Uhr waren es fünf Minuten über die verabredete Zeit.

Annika stand auf und erklärte, als hätte sie meine Gedanken gelesen:

»Sie kommen schon noch, Erik. Weißt du, heute ist ihr Saunatag.«

Sie lächelte schief.

»Auch eine Art, mich nicht dabeizuhaben. Clever, was?«

Im selben Augenblick öffnete sich die Tür, und fünf Männer mit hochroten Köpfen traten ein. Ihre Anzüge waren an den Kragen feucht von nassen Haaren und Hälsen, sie dünsteten Wärme und Aftershave aus. Sie beendeten ohne größere Eile ihre Gespräche.

»Aber mein Forschungsprojekt bekommst du nicht umsonst«, hörte ich Ronny Johansson sagen.

»Schon klar«, erwiderte Svein Holstein verlegen.

»Ich sag’s ja nur, weil Bjarne geschwafelt hat, sie würden ein bisschen kürzen und dass diese Pfennigfuchser alle Forschungsetats neu aufteilen wollen.«

»Das habe ich auch gehört, aber das ist nicht der Rede wert«, erklärte Holstein mit leiser Stimme.

Allmählich verebbten die Gespräche.

Svein Holstein gab mir kraftvoll die Hand.

Ronny Johansson, der Vertreter der Pharmaindustrie im Vorstand, winkte mir nur lässig zu und setzte sich, während mir Peder Mälarstedt, der Vertreter der Bezirksregierung, die Hand gab. Er lächelte mich keuchend an, und ich sah, dass er immer noch stark schwitzte.

»Bist du jemand, der viel schwitzt?«, fragte er mich lächelnd. »Meine Frau hasst es, aber ich glaube, es ist gesund. Natürlich ist es gesund.«

Frank Paulsson begegnete meinem Blick kaum, nickte mir nur kurz zu und blieb ansonsten am anderen Ende des Raums. Nachdem alle eine Weile geplaudert hatten, klatschte Annika sanft in die Hände und forderte den Vorstand auf, sich an den Konferenztisch zu setzen. Die Sauna hatte die Männer durstig gemacht, und sie öffneten unverzüglich einige der Mineralwasserflaschen, die mitten auf dem großen hellgelben Plastiktisch standen.

Ich blieb einen Moment vollkommen regungslos stehen und betrachtete diese Menschen, in deren Händen meine Forschung lag. Es war eigenartig. Ich musterte den Krankenhausvorstand und dachte gleichzeitig an meine Patienten. Sie waren ein Teil dieses Augenblicks: Ihre Erinnerungen, Erlebnisse und Verdrängungen hingen wie unbewegliche Rauchwirbel in dieser Glas­kugel. Charlottes tragisch schönes Gesicht, Jussis schwerer trauriger Körper, Mareks kurz geschorener Schädel und sein scharfer, verschreckter Blick, Pierres blasse Nachgiebigkeit, Lydia mit ihrem klimpernden Schmuck und ihren nach Räucherkerzen duftenden Kleidern, Sibel mit ihren Perücken und schließlich die hyperneurotische Eva Blau. Meine Patienten bildeten heimliche Spiegelbilder dieser selbstsicheren und gut situierten Anzugträger.

Die Vorstandsmitglieder machten es sich bequem. Irgendeiner von ihnen spielte mit Münzen in seiner Hosentasche. Ein anderer vertiefte sich in seinen Terminkalender. Annika blickte auf, lächelte sanft und sagte:

»Bitte sehr, Erik.«

»Mein methodischer Ansatz«, begann ich, »mein methodischer Ansatz besteht darin, psychische Traumata mit einer hypnotischen Gruppentherapie zu behandeln.«

»Das haben wir verstanden«, seufzte Ronny Johansson.

Ich versuchte zusammenzufassen, was ich bisher getan hatte. Meine Zuhörer lauschten zerstreut, manche sahen mich an, andere starrten schläfrig auf die Tischplatte.

»Ich muss jetzt leider gehen«, erklärte Rainer Milch nach einer Weile und stand auf.

Er gab zwei Männern die Hand und verließ den Raum.

»Ihr habt das Material natürlich vorab bekommen«, fuhr ich fort. »Ich weiß, es ist ziemlich umfangreich, aber es ging nicht anders, ich konnte es nicht kürzen.«

»Warum nicht?«, wollte Peder Mälarstedt wissen.

»Weil es noch zu früh ist, Schlussfolgerungen zu ziehen«, erklärte ich.

»Aber wo werden wir in zwei Jahren stehen?«, sagte er.

»Das ist schwer zu sagen, aber ich erkenne gewisse Muster«, antwortete ich, obwohl ich wusste, dass ich darauf lieber nicht eingehen sollte.

»Muster? Was für Muster?«

»Möchtest du uns nicht erzählen, was du dir erhoffst?«, fragte Annika Lorentzon lächelnd.

»Ich hoffe, die mentalen Sperren beschreiben und analysieren zu können, die während der Hypnose erhalten bleiben, ich will aufzeigen, wie das Gehirn in tiefer Entspannung neue Methoden ersinnt, um das Individuum vor dem zu schützen, was ihm solche Angst macht. Ich meine mit anderen Worten – und das ist wirklich interessant –, wenn man sich einem Trauma nähert, dem Kern, also dem, was wirklich gefährlich ist … Wenn die verdrängte Erinnerung in der Hypnose endlich an die Oberfläche geschwemmt wird, beginnt der Patient, nach anderen Möglichkeiten zu greifen in einem letzten Versuch, sich vor dem Geheimnis zu schützen, und dann – will es mir scheinen – zieht die betreffende Person Traummaterial in die Erinnerungsbilder herein, um auf die Art nicht sehen zu müssen.«

»Die wirkliche Situation nicht sehen zu müssen?«, erkundigte sich Ronny Johansson mit plötzlicher Neugier.

»Ja, oder vielmehr … den Täter«, antwortete ich. »Man ersetzt den Täter durch alles Mögliche, oft durch ein Tier.«

Es wurde still am Tisch.

Ich sah, dass Annika Lorentzon, die mein Vortrag bisher eher verlegen gemacht zu haben schien, still in sich hineinlächelte.

»Kann das wirklich zutreffen?«, sagte Ronny Johansson beinahe flüsternd.

»Wie deutlich ist dieses Muster?«, fragte Mälarstedt.

»Es ist deutlich erkennbar, aber noch nicht endgültig bewiesen«, antwortete ich.

»Gibt es international ähnliche Forschungsprojekte?«, erkundigte sich Mälarstedt.

»Nein«, antwortete Ronny Johansson augenblicklich.

»Mich würde Folgendes interessieren«, meldete sich Holstein zu Wort. »Wenn man an diesem Punkt auf Widerstand stößt, wird der Patient dann deiner Meinung nach in der Hypnose immer neue Schutzmechanismen finden?«

»Kann man weiter vorstoßen?«, fragte Mälarstedt.

Ich spürte, dass ich rot anlief, räusperte mich leise und antwortete:

»Ich glaube, dass man mit einer tieferen Hypnose hinter die Bilder gelangen kann.«

»Aber was ist mit den Patienten?«

»Dasselbe habe ich auch gerade gedacht«, sagte Mälarstedt zu Lorentzon.

»Das klingt natürlich alles verdammt verlockend«, meinte Holstein. »Aber ich brauche Garantien … Keine Psychosen, keine Selbstmorde.«

»Ja, aber …«

»Kannst du mir das versprechen?«, unterbrach er mich.

Frank Paulsson saß bloß da und kratzte am Etikett der Wasserflasche. Holstein schien müde zu sein und sah auf die Uhr.

»Meine oberste Priorität ist es, den Patienten zu helfen«, sagte ich.

»Und die Forschung?«

»Die ist …«

Ich räusperte mich.

»Die ist trotz allem eher ein Nebeneffekt«, sagte ich leise. »So muss ich es sehen.«

Einige der Männer am Vorstandstisch wechselten Blicke.

»Gute Antwort«, sagte Frank Paulsson plötzlich. »Erik Maria Bark hat meine volle Unterstützung.«

»Ich mache mir immer noch Sorgen um die Patienten«, wandte Holstein ein.

»Aber hier ist doch alles dokumentiert«, sagte Frank Paulsson und deutete in das Kompendium. »Er hat die Entwicklung der Patienten aufgezeichnet, und die Sache sieht meines Erachtens mehr als vielversprechend aus.«

»Nur dass wir es hier mit einer so ungewöhnlichen und gewagten Therapie zu tun haben, dass wir sicher sein müssen, sie verteidigen zu können, falls etwas schiefgehen sollte.«

»Im Grunde kann eigentlich gar nichts schiefgehen«, sagte ich und spürte, wie mir ein Schauer über den Rücken lief.

»Erik, es ist Freitag, und alle wollen nach Hause«, erklärte Annika Lorentzon. »Ich denke, du kannst davon ausgehen, dass für deine Forschung neue Mittel bewilligt werden.«

Die anderen nickten zustimmend, und Ronny Johansson lehnte sich zurück und klatschte in die Hände.


Als ich nach Hause kam, stand Simone in unserer geräumigen Küche. Sie füllte den Tisch mit Lebensmitteln aus vier Tüten: Spargel, frischer Majoran, Hähnchenfleisch, Zitronen und Jasminreis. Als sie mich sah, musste sie lachen.

»Was ist?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf und sagte mit einem breiten Lächeln:

»Du solltest dich mal sehen.«

»Wieso?«

»Du siehst aus wie ein kleiner Junge an Heiligabend.«

»Kann man das so gut sehen?«

»Benjamin«, rief sie.

Benjamin kam mit seinem Medikamentenetui in der Hand in die Küche. Simone verbarg ihre Heiterkeit und zeigte auf mich.

»Schau mal«, sagte sie. »Wie sieht Papa aus?«

»Du siehst fröhlich aus, Papa.«

»Das bin ich, kleiner Mann. Das bin ich.«

»Haben sie das Medikament erfunden?«, fragte er.

»Wie meinst du das?«

»Mit dem ich gesund werde und keine Spritzen mehr brauche«, antwortete Benjamin.

Ich hob ihn hoch, umarmte ihn und sagte, dass man das Medikament noch nicht entdeckt hatte, ich mir aber mehr als alles andere auf der Welt wünschte, dass man es bald fand.

»Okay«, sagte er.

Ich setzte ihn wieder ab und sah Simones nachdenkliches Gesicht.

Benjamin zog mich am Hosenbein.

»Was ist es dann?«, fragte er.

Ich begriff nicht.

»Warum bist du denn jetzt so fröhlich, Papa?«

»Es geht nur um Geld«, antwortete ich trocken. »Ich habe Geld für meine Forschung bekommen.«

»David sagt, dass du zauberst.«

»Ich zaubere nicht, ich hypnotisiere Menschen, die traurig sind oder Angst haben, und versuche ihnen damit zu helfen.«

»Künstler?«, fragte er.

Ich lachte, und Simone sah ihn erstaunt an.

»Wie kommst du denn darauf?«, erkundigte sie sich.

»Du hast am Telefon gesagt, die Künstler hätten Angst, Mama.«

»Das habe ich gesagt?«

»Ja, eben, ich habe es gehört.«

»Stimmt, du hast Recht, es ging darum, dass Künstler ängstlich und nervös sind, wenn sie anderen ihre Bilder zeigen sollen«, erläuterte sie.

»Wie waren denn eigentlich die Räume am Berzelii-Park?«, fragte ich.

»In der Arsenalsgatan.«

»Hast du sie dir angesehen?«

Simone nickte bedächtig.

»Sie waren gut«, sagte sie. »Morgen unterschreibe ich den Vertrag.«

»Warum hast du nichts gesagt? Gratuliere, Sixan!«

Sie lachte.

»Ich weiß genau, was ich als Erstes ausstellen werde«, sagte sie. »Es gibt da eine junge Künstlerin, die von der Kunstakademie in Bergen kommt, sie ist fantastisch, macht große …«

Als es an der Tür klingelte, verstummte Simone. Sie versuchte, durchs Küchenfenster zu sehen, wer es war, bevor sie öffnete. Ich folgte ihr und sah sie durch den dunklen Flur in der Türöffnung stehen, die vom Tageslicht erhellt wurde. Als ich zu ihr kam, schaute sie aus dem Haus.

»Wer war das?«, fragte ich.

»Niemand, da war niemand«, sagte sie.

Ich blickte über die Sträucher vor der Straße hinweg.

»Was ist das?«, fragte sie plötzlich.

Auf der Treppe vor unserer Tür lag ein Stab mit einem Griff am einen Ende und einer kleinen Holzplatte am anderen.

»Merkwürdig«, sagte ich und hob den antiken Gegenstand auf.

»Ich glaube, das ist eine Rute, mit der man früher Kinder gezüchtigt hat.«


Eine Sitzung mit meiner Hypnosegruppe stand an. In zehn Minuten würden die Patienten hier sein. Die sechs angestammten Mitglieder und die neue Frau namens Eva Blau. Wenn ich meinen Arztkittel anzog, gab es jedes Mal einen kurzen Moment schwindelerregender Aufregung, eine Art Lampenfieber. Ich hatte das Gefühl, auf eine Bühne zu kommen, ins Rampenlicht zu treten. Es hatte nichts mit Eitelkeit zu tun, sondern mit dem überaus angenehmen Gefühl, konzentriertes Fachwissen vermitteln zu können.

Ich griff nach meinem Schreibblock und las mir meine Notizen zu unserer letzten Sitzung durch, bei der Marek Semiovic von dem großen Holzhaus auf dem Land im Bezirk Zenica-Dobojs erzählt hatte.

Es war mir gelungen, Marek Semiovic in eine tiefere Hypnose zu versetzen als bisher. Ruhig und sachlich hatte er daraufhin einen Kellerraum mit Zementfußboden beschrieben, in dem man ihn gezwungen hatte, seinen Freunden und entfernten Verwandten elektrische Schläge zu versetzen. Aber plötzlich hatte er sich einfach abgewandt, das Szenario gewechselt, meine Anweisungen ignoriert und aus eigenem Antrieb einen Weg aus der Hypnose gesucht. Ich wusste, wie wichtig es war, in kleinen Schritten vorzugehen. Deshalb beschloss ich, Marek heute eine Pause zu gönnen. Charlotte sollte den Anfang machen, und anschließend würde ich vielleicht einen ersten Versuch mit meiner neuen Patientin Eva Blau wagen.

Das Hypnosezimmer war so eingerichtet, dass es neutral, beruhigend wirkte. Die Vorhänge hatten einen unbestimmten gelben Farbton, der Fußboden war grau, die Möbel waren einfach, aber bequem: Stühle und Tische aus Birkenholz, einem sonnenhellen Holz mit kleinen, braunen Sommersprossen. Unter einem der Stühle lag ein vergessener blauer Schuhschützer. Die Wände waren bis auf einige Lithographien in dezenten Farben leer.

Ich stellte die Stühle in einem Halbkreis auf und platzierte das Stativ für die Videokamera möglichst weit weg.

Die Forschungsarbeit motivierte mich, ich war sehr neugierig auf die Ergebnisse und gleichzeitig immer überzeugter, dass diese neue Therapieform besser war als jede andere, die ich bislang angewandt hatte. Die Bedeutung des Kollektivs bei der Traumabehandlung war enorm. Die einsame Isolation wurde in einen gemeinsamen Heilungsprozess verwandelt.

Ich schraubte die Kamera auf dem Stativ fest, legte eine neue Videokassette ein, zoomte auf einen Stuhlrücken, stellte scharf und zoomte anschließend wieder zurück. Währenddessen betrat eine meiner Patientinnen den Raum. Es war Sibel. Ich nahm an, dass sie seit einigen Stunden vor dem Krankenhaus darauf gewartet hatte, dass die Sitzung beginnen würde. Sie setzte sich und produzierte seltsame Laute in ihrer Kehle, schluckende, glucksende Geräusche. Mit einem unzufriedenen Lächeln zupfte sie ihre große blond gelockte Perücke zurecht, die sie bei unseren Treffen immer trug, und seufzte anschließend vor Anstrengung.

Charlotte Cederskiöld trat ein. Sie trug einen dunkelblauen Trenchcoat, der um die schmale Taille mit einer breiten Schärpe zugebunden war. Als sie ihre Mütze absetzte, fielen ihre dichten kastanienbraunen Haare herab. Sie war wie immer ungeheuer traurig und schön.

Ich ging zum Fenster, öffnete es und spürte, wie mir der frische, sanfte Frühlingswind ins Gesicht wehte.

Als ich mich wieder dem Raum zuwandte, war auch Jussi Persson gekommen.

»Herr Doktor«, sagte er in seinem bedächtigen nordschwe­dischen Tonfall.

Er gab mir die Hand, begrüßte Sibel, schlug sich auf seinen Bierbauch und machte eine Bemerkung, die sie erröten und kichern ließ. Die beiden plauderten leise miteinander, während die übrigen Gruppenmitglieder eintrafen, Lydia, Pierre und schließlich Marek, der wie üblich etwas zu spät kam.

Ich rührte mich nicht von der Stelle und wartete darauf, dass sie bereit sein würden. Sie hatten eins gemeinsam: traumatisierende Übergriffe. Die traumatischen Erlebnisse hatten in ihren Psychen eine derart zerstörerische Wirkung entfaltet, dass sie, um weiterleben zu können, den Übergriff vor sich selbst verborgen hatten. Keiner von ihnen wusste, was wirklich passiert war, ihnen war lediglich bewusst, dass etwas Schreckliches in ihrer Vergangenheit ihr Leben zerstörte.

Denn die Vergangenheit ist nicht tot, die Vergangenheit ist nicht einmal vergangen, pflegte ich den Schriftsteller William Faulkner zu zitieren. Ich meinte damit, dass alles, was ein Mensch erlebt hatte, ihn in der Gegenwart begleitete. Jedes Erlebnis beeinflusste jede Entscheidung – und wenn es um traumatische Erlebnisse ging, nahm die Vergangenheit in der Gegenwart fast allen Raum ein.

Meistens hypnotisierte ich die ganze Gruppe gleichzeitig und wählte anschließend einen oder zwei von ihnen aus, mit denen ich weiter ging als mit den anderen. So hatten wir laufend Zugang zu zwei Ebenen, auf denen wir diskutieren konnten, was geschehen war: die Ebene der Hypnosesuggestion und die Ebene des Bewusstseins.

Ich hatte in der Hypnose etwas entdeckt. Erst war es nur eine Ahnung gewesen, die sich jedoch nach und nach zu einem immer deutlicher erkennbaren Muster entwickelte. Es war eine Entdeckung, die natürlich erst noch bewiesen werden musste. Mir war bewusst, dass ich mir von meiner These möglicherweise zu viel erhoffte: Der Täter des entscheidenden Traumas trat in der Tiefenhypnose nie als er selbst auf. Es war möglich, die entscheidende Situation zu finden und den erschreckenden Ablauf zu betrachten, doch der Täter blieb im Verborgenen.

Mittlerweile saßen alle auf ihren Plätzen, meine neue Patientin, Eva Blau, war jedoch noch nicht gekommen. Eine vertraute Unruhe verbreitete sich in der Gruppe.

Charlotte Cederskiöld saß immer am weitesten entfernt. Sie hatte ihren Mantel ausgezogen und war wie üblich ausgesprochen elegant gekleidet, trug eine dezente, graue Kombination aus Pullover und Strickjacke und eine breite, schimmernde Perlenkette um ihren schlanken Hals. Sie hatte einen dunkelblauen Faltenrock und eine enge dunkle Strumpfhose an. Ihre Schuhe glänzten und waren flach. Als unsere Blicke sich begegneten, lächelte sie mich schüchtern an. Als ich Charlotte in meine Gruppe aufnahm, hatte sie fünfzehn Mal versucht, sich das Leben zu nehmen. Bei ihrem letzten Versuch hatte sie sich mit dem Elchstutzen ihres Mannes mitten im Salon ihrer Villa auf Djursholm in den Kopf geschossen. Das Gewehr war abgerutscht, und sie hatte ein Ohr und ein Stück Wange verloren, wovon man aber nichts mehr sah: Sie hatte mehrere chirurgische Eingriffe hinter sich und trug ihre Haare in einer glatten, dichten Pagenfrisur, die ihre Ohrenprothese und das Hörgerät verbarg.

Wenn ich Charlotte den Kopf schief legen und höflich und respektvoll den Geschichten der anderen lauschen sah, wurde mir vor Sorge immer ganz kalt. Eine schön gealterte Frau. Attraktiv, obwohl sie etwas ungeheuer Verwüstetes an sich hatte. Mir war bewusst, dass ich dem Abgrund, den ich in ihrem Inneren ahnte, nicht neutral gegenüberstehen konnte.

»Sitzt du gut, Charlotte?«, fragte ich.

Sie nickte und antwortete mit ihrer sanften Stimme:

»Mir geht es gut, richtig gut.«

»Heute werden wir Charlottes inneren Raum untersuchen«, erläuterte ich.

»Mein verwunschenes Schloss«, lächelte sie.

»Genau.«

Marek grinste mich freudlos und ungeduldig an, als unsere Blicke sich begegneten. Er hatte den ganzen Morgen im Fitnessstudio trainiert, seine Muskeln strotzten vor Blut. Ich sah auf die Uhr. Es wurde Zeit, wir konnten nicht noch länger auf Eva Blau warten.

»Ich schlage vor, wir fangen an«, sagte ich.

Sibel stand hastig auf und legte einen Kaugummi in eine Papierserviette, die sie fortwarf. Sie warf mir einen scheuen Blick zu und sagte:

»Ich bin bereit, Herr Doktor.«

Der Entspannung folgte die schwere, warme Leiter der Induktion, die Auflösung des Willens und aller Grenzen. Langsam versetzte ich sie in eine tiefere Trance, beschwor das Bild einer feuchten Holztreppe herauf, auf der ich sie sachte hinabführte.

Diese spezielle Energie regte sich zwischen uns, eine ganz eigenartige Wärme zwischen mir und den anderen. Meine Stimme war anfangs klar und artikuliert, wurde jedoch allmählich immer dunkler. Jussi wirkte unruhig, brummte vor sich hin und verzog gelegentlich aggressiv den Mund. Meine Stimme steuerte die Patienten, und meine Augen sahen ihre Körper auf den Stühlen zusammensinken, ihre Gesichter flacher werden und den eigentümlichen, groben Ausdruck annehmen, den man bei allen hypnotisierten Menschen findet.

Ich bewegte mich hinter ihnen, berührte sie leicht an den Schultern, führte jeden Einzelnen von ihnen, zählte rückwärts, Schritt für Schritt.

Jussi zischelte etwas vor sich hin.

Marek Semiovic’ Mund stand offen, Speichel lief heraus.

Pierre wirkte dünner und weicher denn je. Lydias Arme hingen schlaff herab.

»Geht weiter die Treppe hinunter«, sagte ich leise.

Ich hatte dem Krankenhausvorstand nicht erzählt, dass auch der Hypnotiseur selbst in eine Art Trance versetzt wurde. In meinen Augen war dies unvermeidlich und gut.

Ich begriff nie, warum sich meine eigene Trance, die stets parallel zur Hypnose der Patienten verlief, unter Wasser abspielte. Aber mir gefiel das Wasserbild, es war deutlich und angenehm, und ich hatte mich daran gewöhnt, an ihm die Nuancen des Verlaufs abzulesen.

Während ich in einem Meer versank, sahen meine Patienten natürlich völlig andere Dinge, sie fielen in ihre Erinnerungen, in die Vergangenheit, sie landeten in den Zimmern ihrer Kindheit, an den Orten ihrer Jugend, im Sommerhaus der Eltern oder in der Garage des Nachbarmädchens. Sie wussten nicht, dass sie sich für mich gleichzeitig tief unter Wasser befanden und langsam parallel zu einer riesigen Korallenformation, einem Tiefseesockel oder der rauen Wand eines Kontinentalgrabens sanken.

In meinen Gedanken sanken wir nun gemeinsam durch perlendes Wasser.

Diesmal wollte ich versuchen, alle ziemlich tief in die Hypnose mitzunehmen. Meine Stimme zählte und sprach über die angenehme Entspannung, während das Wasser in meinen Ohren rauschte.

»Ich möchte, dass ihr noch tiefer sinkt, noch ein bisschen weiter«, sagte ich. »Geht tiefer hinab, aber langsamer, immer langsamer. Gleich bleibt ihr stehen, ganz sanft und still … ein bisschen tiefer, noch etwas, jetzt bleiben wir stehen.«

Die ganze Gruppe stand mir auf dem sandigen Meeresgrund in einem Halbkreis gegenüber. Flach und weitgestreckt wie ein gigantischer Fußboden. Das Wasser war hell und leicht grünlich. Der Sand unter unseren Füßen war zu kleinen, regelmäßigen Wellen geformt. Über uns trieben schimmernd rosafarbene Quallen. Plattfische wirbelten gelegentlich Sandwolken auf und schossen davon.

»Wir sind jetzt alle ganz tief«, sagte ich.

Sie öffneten die Augen und sahen mich unverwandt an.

»Charlotte, du machst heute den Anfang«, fuhr ich fort. »Was siehst du? Wo bist du?«

Ihr Mund bewegte sich lautlos.

»Du brauchst dich vor nichts zu fürchten«, erklärte ich. »Wir sind immer bei dir, stehen hinter dir.«

»Ich weiß«, erwiderte sie eintönig.

Ihre Augen waren weder offen noch geschlossen. Sie blinzelten leer und abwesend wie die eines Schlafwandlers.

»Du stehst vor der Tür«, sagte ich. »Möchtest du hineingehen?«

Sie nickte, und ihre Haare bewegten sich mit der Strömung des Wassers.

»Dann tu es«, sagte ich.

»Ja.«

»Was siehst du?«, fuhr ich fort.

»Ich weiß es nicht.«

»Bist du hineingegangen?«, fragte ich und hatte gleichzeitig das Gefühl, es zu eilig zu haben.

»Ja.«

»Aber du siehst nichts?«

»Doch.«

»Ist es etwas Seltsames?«

»Ich weiß nicht, ich glaube nicht …«

»Beschreibe es«, sagte ich schnell.

Sie schüttelte den Kopf, und kleine Luftblasen lösten sich aus ihren Haaren und stiegen glitzernd nach oben. Ich erkannte im Grunde, dass ich einen Fehler machte, nicht feinfühlig genug war, sie nicht führte, sondern nach vorn zu stoßen versuchte, konnte es mir aber trotzdem nicht verkneifen zu sagen:

»Du bist wieder im Haus deines Großvaters.«

»Ja«, antwortete sie gedämpft.

»Du bist schon durch die Tür getreten und gehst jetzt weiter.«

»Ich will nicht.«

»Mach nur noch einen Schritt.«

»Lieber nicht«, flüsterte sie.

»Du blickst auf und schaust.«

»Ich will nicht.«

Ihre Unterlippe zitterte.

»Siehst du etwas Merkwürdiges?«, fragte ich. »Etwas, das dort nicht sein sollte?«

Eine markante Furche trat auf ihre Stirn, und ich erkannte auf einmal, dass sie jeden Moment loslassen und jäh aus der Hypnose gerissen werden würde. Das konnte gefährlich sein – es wäre überhaupt nicht gut. Wenn es zu schnell ging, stürzte sie das unter Umständen in eine tiefe Depression. Große Blasen entströmten wie eine glänzende Kette ihrem Mund. Ihr Gesicht schimmerte, grünblaue Striche liefen über ihre Stirn.

»Du musst das nicht tun, Charlotte, du musst nicht hinschauen«, sagte ich beruhigend. »Wenn du willst, kannst du die Glastüren öffnen und in den Garten gehen.«

Sie zitterte am ganzen Leib, und ich begriff, dass es zu spät war.

»Du bleibst ganz ruhig«, flüsterte ich und streckte eine Hand aus, um sie zu streicheln.

Ihre Lippen waren weiß und die Augen weit aufgerissen.

»Charlotte, wir werden jetzt gemeinsam zur Oberfläche zurückkehren«, sagte ich.

Ihre Füße wirbelten eine dichte Sandwolke auf, als sie aufwärtstrieb.

»Warte«, sagte ich schwach.

Marek sah mich an und versuchte, etwas zu rufen.

»Wir sind schon auf dem Weg nach oben, und ich werde bis zehn zählen«, fuhr ich fort, während wir schnell zur Oberfläche aufstiegen. »Und wenn ich bis zehn gezählt habe, öffnet ihr die Augen, und dann werdet ihr euch gut fühlen und …«


Charlotte rang nach Luft, stand taumelnd auf, zupfte ihre Kleider zurecht und sah mich fragend an.

»Wir machen eine kurze Pause«, sagte ich.

Sibel stand träge auf und ging hinaus, um eine Zigarette zu rauchen. Pierre folgte ihr. Jussi blieb schwer und schlaff auf seinem Stuhl sitzen. Keiner von ihnen war völlig wach. Der Aufstieg war zu abrupt gewesen. Aber da wir schon bald in die Tiefe zurückkehren würden, dachte ich, dass es besser sein würde, die Gruppe auf diesem leicht getrübten Bewusstseinsniveau zu halten. Ich blieb auf meinem Stuhl sitzen, rieb mir das Gesicht und machte mir Notizen, als Marek Semiovic zu mir kam.

»Gut gemacht«, sagte er und verzog trocken den Mund.

»Es ist nicht so gelaufen, wie ich es mir gedacht hatte«, antwortete ich.

»Ich fand es lustig«, erwiderte er.

Lydia näherte sich mit ihrem klimpernden Schmuck. Ihre hennagefärbten Haare glühten wie Kupferdraht, als sie durch einen Sonnenstrahl ging.

»Was denn?«, fragte ich. »Was war so lustig?«

»Dass du es dieser Oberklassenhure gezeigt hast.«

»Was hast du gesagt?«, fragte Lydia.

»Ich rede nicht von dir, ich rede …«

»Trotzdem sollst du nicht sagen, dass Charlotte eine Hure ist, denn das stimmt nicht«, erklärte Lydia sanft. »Nicht wahr, Marek?«

»Okay, verdammt.«

»Weißt du, was eine Hure tut?«

»Ja.«

»Eine Hure zu sein«, fuhr sie lächelnd fort, »muss nichts Schlechtes sein, man hat eine Wahl, und es geht um Shakti, um weibliche Kraft, weibliche Macht.«

»Ja genau, sie wollen Macht haben«, sagte er eifrig. »Sie brauchen einem verdammt nochmal nicht leidzutun.«

Ich entfernte mich, blickte in meine Aufzeichnungen, lauschte aber trotzdem weiter ihrem Gespräch.

»Es gibt Menschen, denen es nicht gelingt, ihr Chakra im Gleichgewicht zu halten«, erläuterte Lydia ruhig. »Denen geht es dann natürlich schlecht.«

Marek Semiovic setzte sich, wirkte unruhig, leckte sich die Lippen und sah Lydia an.

»In diesem verwunschenen Schloss sind Dinge passiert«, sagte er leise. »Ich weiß es, aber …«

Er verstummte und biss die Zähne so fest zusammen, dass seine Kiefermuskeln hervortraten.

»Es gibt im Grunde nichts, was verkehrt ist«, sagte sie und nahm seine Hand in ihre.

»Warum kann ich mich nicht erinnern?«

Sibel und Pierre kamen wieder herein. Alle waren schweigsam. Charlotte sah sehr zerbrechlich aus. Sie hatte ihre schmalen Arme vor der Brust gekreuzt, die Hände lagen auf den Schultern.

Ich wechselte die Kassette in der Videokamera, nannte Zeit und Datum und erklärte anschließend, dass sich alle noch in einem posthypnotischen Zustand befanden. Ich blickte durch den Sucher, schob das Stativ etwas höher und richtete die Kamera neu aus. Anschließend stellte ich die Stühle zusammen und bat die Patienten, erneut Platz zu nehmen.

»Kommt, setzt euch, es wird Zeit, dass wir weitermachen«, sagte ich.

Plötzlich klopfte es an die Tür, und Eva Blau trat ein. Ich sah, wie gestresst sie war, und ging zu ihr.

»Herzlich willkommen«, sagte ich.

»Bin ich das auch?«, fragte sie.

»Ja«, antwortete ich.

Hals und Wangen liefen rot an, als ich ihr den Mantel abnahm und ihn aufhängte. Ich führte sie zur Gruppe und zog einen neuen Stuhl zum Halbkreis.

»Eva Blau war bisher Doktor Ohlsons Patientin, wird aber von jetzt an zu unserer Gruppe gehören. Wir werden alle versuchen, ihr zu helfen, sich bei uns wohlzufühlen.«

Sibel nickte gemessen, Charlotte lächelte freundlich, und die anderen begrüßten sie schüchtern. Marek schenkte ihr keine Beachtung.

Eva Blau setzte sich auf den leeren Stuhl und klemmte die Hände zwischen den Oberschenkeln ein. Ich kehrte zu meinem Platz zurück und leitete behutsam den zweiten Teil ein:

»Setzt euch bequem hin, die Füße auf dem Boden, die Hände im Schoß. Der erste Teil ist nicht so verlaufen, wie ich mir das vorgestellt hatte.«

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Charlotte.

»Niemand braucht hier um Entschuldigung zu bitten, am wenigsten du, ich hoffe, das ist dir klar.«

Eva Blau beobachtete mich unablässig.

»Wir beginnen mit Gedanken und Assoziationen zum ersten Teil unserer Sitzung«, sagte ich. »Möchte jemand etwas sagen?«

»Verwirrend«, sagte Sibel.

»Frustrierend«, meinte Jussi. »Also ich bin nur dazu gekommen, die Augen aufzumachen und mich am Kopf zu kratzen, bevor es auch schon wieder vorbei war.«

»Was hast du gefühlt?«, fragte ich ihn.

»Haare«, antwortete er lächelnd.

»Haare?«, fragte Sibel und kicherte.

»Als ich mich am Kopf gekratzt habe«, erläuterte Jussi.

Einige lachten über seinen Scherz.

»Gebt mir Assoziationen zu Haaren«, sagte ich still lächelnd. »Charlotte?«

»Ich weiß nicht«, antwortete sie lächelnd. »Haare? Vielleicht Bart … nein.«

Pierre unterbrach sie mit seiner hohen Stimme:

»Ein Hippie, ein Hippie auf einem Chopper«, sagte er grinsend. »Er sitzt so, kaut Juicyfruit und rutscht …«

Eva Blau stand plötzlich so heftig auf, dass der Stuhl hinter ihr klapperte.

»Das sind doch alles nur Kindereien«, sagte sie aufgebracht und zeigte auf Pierre.

Sein Lächeln erstarb.

»Und warum?«, fragte ich.

Eva antwortete nicht, sie begegnete nur meinem Blick, bevor sie sich schmollend wieder setzte.

»Mach bitte weiter, Pierre«, bat ich ihn ruhig.

Er schüttelte den Kopf, kreuzte seine Zeigefinger gegen Eva gerichtet und tat so, als suchte er Schutz.

»Dennis Hopper wurde erschossen, weil er ein Hippie war«, flüsterte er verschwörerisch.

Sibel kicherte noch lauter und sah mich erwartungsvoll an. Jussi hob die Hand und wandte sich an Eva Blau.

»Im verwunschenen Schloss bleiben dir unsere Kindereien erspart«, sagte er in seinem schwerfälligen Dialekt.

Es wurde vollkommen still im Raum. Ich dachte daran, dass Eva nicht wissen konnte, welche Bedeutung der Begriff »verwunschenes Schloss« für unsere Gruppe hatte, ging aber nicht darauf ein.

Eva Blau wandte sich Jussi zu und schien ihn anschreien zu wollen, aber er erwiderte ihren Blick bloß mit einem so ruhigen und ernsten Gesicht, dass sie stumm blieb.

»Eva, wir beginnen stets mit Entspannungsübungen, zum Beispiel Atemübungen, und anschließend hypnotisiere ich euch einzeln oder auch paarweise«, erklärte ich. »Alle machen natürlich die ganze Zeit mit, unabhängig davon, auf welchem Bewusstseinsniveau man sich befindet.«

Ein ironisches Lächeln huschte über Evas Gesicht.

»Und manchmal«, fuhr ich fort, »wenn ich merke, dass es gut läuft, versuche ich, die ganze Gruppe zu hypnotisieren.«

Ich zog den Stuhl vor, bat alle, die Augen zu schließen und sich zurückzulehnen.

»Die Füße stehen fest auf dem Boden, die Hände liegen im Schoß.«

Während ich sie behutsam tiefer in die Entspannung führte, beschloss ich, Eva Blaus geheime Räume zu erforschen. Es war wichtig, dass sie möglichst bald einen Beitrag leistete, damit sie in die Gemeinschaft aufgenommen wurde. Ich zählte herunter und lauschte den Atemzügen der Gruppe, senkte sie in eine leichte Hypnose und ließ sie kurz unter der silbrigen Wasseroberfläche hängend zurück.

»Eva, jetzt wende ich mich nur an dich«, sagte ich leise. »Du wirst dich auf mich verlassen, ich bin während der Hypnose für dich da, es kann nichts Schlimmes passieren. Du wirst dich entspannt und sicher fühlen, du wirst meiner Stimme lauschen und meinen Worten folgen. Folge den Worten stets spontan, ohne sie zunächst in Frage zu stellen, du wirst dich im Inneren eines Wortstroms aufhalten, weder vor noch hinter ihm, sondern stets in seiner Mitte …«

Wir sanken durch graues Wasser, erblickten flüchtig den Rest der Gruppe, deren Scheitel die gekräuselte Oberfläche berührten. Einem dicken Seil, einer Trosse mit wehenden Tangbüscheln folgend, fielen wir in die dunkle Tiefe.

Gleichzeitig stand ich in Wirklichkeit hinter Eva Blaus Stuhl, hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt und sprach ruhig und mit tiefer werdender Stimme. Aus ihrer Kleidung schlug mir Rauchgeruch entgegen. Sie saß zurückgelehnt, ihr Gesicht war entspannt.

In meiner eigenen Trance war das Wasser vor ihr mal braun, mal grau. Ihr Gesicht lag im Schatten, der Mund war fest geschlossen, eine steile Falte tauchte zwischen den Augenbrauen auf, aber ihr Blick war vollkommen schwarz. Ich überlegte, wo ich anfangen sollte. Im Grunde wusste ich herzlich wenig über sie. Lasse Ohlsons Akte enthielt so gut wie nichts über ihre Herkunft und ihren Lebensweg. Ich würde ihn eigenständig erforschen müssen und beschloss, einen vorsichtigen Einstieg zu erproben. Oft stellte sich heraus, dass der kürzeste Weg zum Bedrückendsten über Ruhe und Freude führte.

»Du bist zehn, Eva«, sagte ich und ging um die Stühle herum, damit ich sie von vorn sehen konnte.

Ihr Brustkorb bewegte sich kaum, sie atmete mit ruhigen, sanften, vom Zwerchfell kommenden Zügen.

»Du bist zehn. Es ist ein schöner Tag. Du bist gut gelaunt. Warum bist du so gut gelaunt?«

Eva spitzte niedlich den Mund, lächelte in sich hinein und sagte:

»Weil der Mann in den Wasserpfützen tanzt und plantscht.«

»Wer tanzt?«, fragte ich.

»Wer?«

Sie schwieg eine Weile.

»Gene Kelly, sagt Mama.«

»Ich verstehe«, meinte ich. »Du guckst Singin’ in the rain

»Mama guckt den Film.«

»Du nicht?«, fragte ich.

»Doch, schon«, sagte sie lächelnd und blinzelte.

»Und du bist gut gelaunt?«

Eva Blau bewegte langsam nickend ihren Kopf.

»Was passiert dann?«

Ich sah ihr Gesicht sachte auf den Brustkorb sinken. Plötzlich zuckte ein eigentümlicher Ausdruck über ihre Lippen.

»Mein Bauch ist dick«, hauchte sie.

»Dein Bauch?«

»Ich sehe, dass er ganz dick ist«, sagte sie mit Tränen in der Stimme.

Jussi atmete schnaufend neben ihr. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, dass er seine Lippen bewegte.

»Das verwunschene Schloss«, flüsterte er in seiner leichen Hypnose. »Das verwunschene Schloss.«

»Eva, hör mir zu«, sagte ich. »Du kannst zwar alle im Raum hören, lauschst aber nur meiner Stimme. Es ist dir egal, was die anderen sagen, nur meine Stimme zählt für dich.«

»Okay«, sagte sie mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck.

»Weißt du, warum dein Bauch dick ist?«, fragte ich.

Sie antwortete nicht. Ich betrachtete sie direkt von vorn. Ihr Gesicht war ernst, bekümmert, und der Blick abgewandt, in einen Gedanken, eine Erinnerung vertieft. Plötzlich sah es aus, als versuchte sie, ein Lächeln zu unterdrücken.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie.

»Doch, ich denke schon, dass du es weißt«, sagte ich. »Aber wir richten uns hier ganz nach dir, Eva. Du brauchst jetzt nicht mehr daran zu denken. Möchtest du wieder fernsehen? Ich begleite dich, alle, die hier sind, gehen mit dir, den ganzen Weg, ganz gleich, was passiert, das versprechen wir dir. Wir haben es versprochen und du kannst dich darauf verlassen.«

»Ich will in das verwunschene Schloss«, flüsterte sie.

Während ich Zahlenreihen herunterzählte und die Treppe suggerierte, die endlos abwärtsführte, dachte ich, dass irgendetwas nicht stimmte. Als ich langsam am Fels entlang tiefer und tiefer fiel, wurde ich in körperwarmes Wasser gehüllt.

Eva Blau hob das Kinn, befeuchtete ihre Lippen, sog die Wangen ein und flüsterte:

»Ich sehe sie einen Menschen mitnehmen. Sie gehen einfach hin und nehmen einen Menschen mit.«

»Wer nimmt einen Menschen mit?«, fragte ich.

Sie begann, unregelmäßig zu atmen. Ihr Gesicht verfinsterte sich. Braunes Wasser strömte trübe an ihr vorbei.

»Ein Mann mit einem Pferdeschwanz, er hängt den kleinen Menschen an die Decke«, wimmerte sie.

Ich sah, dass sie eine Hand fest um das Tau mit dem wehenden Tang geschlossen hielt, ihre Beine bewegten sich langsam paddelnd.

Mit einem schwindelerregenden Sprung war ich außerhalb der Hypnose. Ich wusste, dass Eva Blau bluffte, sie war nicht hypnotisiert. Mir war nicht klar, woher ich das so genau wissen konnte, aber ich war mir vollkommen sicher. Sie hatte sich meinen Worten widersetzt, die Suggestion blockiert. Mein Gehirn flüsterte eiskalt: Sie lügt, sie ist nicht einmal ansatzweise hypnotisiert.

Ich sah, wie sie sich auf ihrem Stuhl vor und zurück warf.

»Der Mann zieht und zieht an dem kleinen Menschen, er zieht zu fest …«

Plötzlich begegnete Eva Blau meinem Blick und verstummte. Ein breites Grinsen verzog ihre Lippen.

»War ich gut?«, fragte sie mich.

Ich antwortete nicht. Stand nur da und sah sie aufstehen, ihren Mantel vom Haken nehmen und seelenruhig den Raum verlassen.


Ich schrieb »Verwunschenes Schloss« auf ein Blatt Papier, schlug Videokassette Nummer 14 darin ein und streifte einen Gummiring um beides. Statt die Kassette wie sonst zu archivieren, nahm ich sie mit in mein Arbeitszimmer. Ich wollte Eva Blaus Lüge und meine Reaktion analysieren, erkannte jedoch schon im Flur, was die ganze Zeit nicht gestimmt hatte: Eva war sich ihres Gesichts bewusst gewesen, sie hatte versucht, niedlich auszusehen, sie hatte nicht den trägen, unverstellten Gesichtsausdruck gezeigt, den Hypnotisierte sonst aufweisen. Wer in Hypnose versetzt wurde, konnte zwar lächeln, tat dies jedoch nicht wie sonst, sondern mit dem schlaffen Lächeln eines Schlafenden.

Als ich mein Büro erreichte, stand die junge angehende Ärztin davor und wartete auf mich. Ich war selbst überrascht, dass ich noch wusste, wie sie hieß: Maja Swartling.

Wir begrüßten einander, und noch ehe ich die Tür aufgeschlossen hatte, sagte sie schnell:

»Sie müssen entschuldigen, dass ich so anhänglich bin. Aber ein Teil meiner Abhandlung baut auf Ihrer Forschung auf, und nicht nur ich selbst, sondern mein Betreuer und ich wollen, dass das Objekt selbst einbezogen wird.«

Sie sah mich ernst an.

»Ich verstehe«, sagte ich.

»Ist es okay, wenn ich ein paar Fragen stelle?«, erkundigte sie sich. »Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen ein paar Fragen stelle?«

Sie hatte auf einmal einen Blick wie ein kleines Mädchen: hellwach, aber unsicher. Ihre Augen waren sehr dunkel und hoben sich schwarz schimmernd von ihrem ungewöhnlich hellen Teint ab. Die Haare glänzten sorgsam gebürstet in ihren geflochtenen Kränzen. Die Frisur war zwar altmodisch, stand ihr aber gut.

»Darf ich?«, fragte sie sanft. »Sie ahnen nicht, wie hartnäckig ich sein kann.«

Ich ertappte mich dabei, sie anzulächeln. Sie hatte etwas so Frisches und Fröhliches an sich, dass ich spontan die Arme ausbreitete und erklärte, ich sei bereit. Sie lachte auf und sah mich mit einem zufriedenen, langen Blick an. Ich schloss auf, und sie folgte mir in mein Arbeitszimmer, setzte sich auf den Besucherstuhl, zog Schreibblock und Stift heraus und lächelte mich an.

»Was wollen Sie mich fragen?«

Maja errötete heftig, begann zu sprechen und lächelte immer noch so breit, als könnte sie einfach nicht anders:

»Vielleicht fangen wir mit der Praxis an … Welche Möglichkeiten hat ein Patient, Sie zu täuschen und nur Dinge zu sagen, die Sie gerne hören wollen?«

»Ehrlich gesagt ist mir das heute passiert«, sagte ich lächelnd. »Eine Patientin wollte nicht hypnotisiert werden, hat aber so getan, als stünde sie unter Hypnose.«

Maja war ruhiger geworden, wirkte jetzt weniger unsicher. Nun lehnte sie sich vor, spitzte die Lippen und fragte:

»Sie hat Theater gespielt?«

»Ich habe es natürlich gemerkt.«

Sie hob fragend die Augenbrauen.

»Wie?«

»Es gibt sehr deutliche äußere Anzeichen für hypnotische Ruhe – das wichtigste ist, dass die Gesichter völlig unverstellt sind.«

»Könnten Sie das bitte näher erläutern?«

»Im Wachzustand hat selbst der entspannteste Mensch ein gefasstes Gesicht, der Mund ist geschlossen, die Gesichtsmuskeln arbeiten koordiniert, der Blick und so weiter … wenn jemand unter Hypnose steht, fehlt das alles. Der Mund geht auf, das Kinn fällt herab, der Blick ist schläfrig … es lässt sich nicht wirklich beschreiben, aber man weiß es.«

Sie schien etwas fragen zu wollen, also machte ich eine Pause. Sie schüttelte den Kopf und bat mich, weiterzusprechen.

»Ich habe ja Ihre Berichte gelesen«, sagte sie. »Ihre Hypnosegruppe besteht nicht nur aus Opfern, also Menschen, die gewaltsamen Übergriffen ausgesetzt gewesen sind, sondern auch aus Tätern, Personen, die anderen schreckliche Dinge angetan haben.«

»Im Unterbewusstsein stellt sich das in der gleichen Weise dar und …«

»Meinen Sie …«

»Moment, Maja … und im gruppentherapeutischen Zusammenhang ist dies sogar von Vorteil.«

»Interessant«, sagte sie und machte sich eine Notiz. »Ich werde darauf zurückkommen, aber im Moment würde mich interessieren, wie sich der Täter in der Hypnose sieht – Sie bringen ja den Gedanken zur Sprache, dass der Betroffene den Täter oft durch etwas anderes ersetzt, etwa ein Tier.«

»Ich habe noch nicht näher untersucht, wie der Täter sich sieht, und möchte nur ungern spekulieren.«

Sie legte den Kopf schief.

»Aber Sie haben eine Vermutung?«

»Ich habe einen Patienten, der …«

Ich verstummte und dachte an Jussi Persson, den Nordschweden, der seine Einsamkeit als schreckliche, selbstverschuldete Bürde trug.

»Was wollten Sie sagen?«

»In der Hypnose kehrt dieser Patient zu einem Hochsitz zurück, es ist, als würde das Gewehr ihn führen, er schießt Rehe und lässt sie einfach liegen. Wenn er wach ist, leugnet er die Rehe, erzählt jedoch, dass er oft auf diesen Hochsitz steigt und auf eine Bärin wartet.«

»Das sagt er, wenn er wach ist?«, fragte sie skeptisch lächelnd.

»Er hat oben im Norden, in Västerbotten, ein Haus.«

»Ach so, ich dachte, er wohnt hier«, lachte sie.

»Der Bär ist sicher real«, sagte ich. »Da oben gibt es eine Menge Bären. Jussi hat mir erzählt, dass eine große Bärin vor ein paar Jahren seinen Hund getötet hat.«

Wir schwiegen und sahen uns an.

»Es ist schon spät«, meinte ich.

»Ich habe noch jede Menge Fragen.«

Ich machte eine Geste.

»Dann werden wir uns eben noch öfter treffen müssen.«

Sie sah mich an. Mir wurde plötzlich eigentümlich warm, als ich bemerkte, dass ein dünner Hauch von Röte in ihren hellen Teint drang. Zwischen uns lag etwas Schelmisches in der Luft, eine Mischung aus Ernst und Heiterkeit.

»Darf ich Sie vielleicht zum Dank für Ihre Bemühungen zu einem Glas Wein einladen? Es gibt da ein nettes libanesisches …«

Sie verstummte abrupt, als das Telefon klingelte. Ich entschuldigte mich und ging an den Apparat.

»Erik?«

Es war Simone. Sie klang gestresst.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Ich … ich bin auf der Rückseite von unserem Haus, auf dem Fahrradweg. Es sieht aus, als wäre bei uns eingebrochen worden.«

Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ich dachte an die Rute, die vor unserer Haustür gelegen hatte, das alte Züchtigungswerkzeug mit seiner runden Holzplatte.

»Was ist passiert?«, fragte ich.

Ich hörte Simone schwer schlucken. Im Hintergrund spielten Kinder, wahrscheinlich waren sie oben auf dem Fußballplatz. Eine Trillerpfeife und Rufe ertönten.

»Was war das?«, fragte ich.

»Nichts, eine Schulklasse«, antwortete sie verbissen. »Erik«, fuhr sie schnell fort, »Benjamins Verandatür ist aufgebrochen worden, das Fenster wurde eingeschlagen.«

Aus den Augenwinkeln sah ich Maja Swartling aufstehen und pantomimisch fragen, ob sie gehen sollte.

Ich nickte ihr kurz zu und zuckte bedauernd mit den Schultern.

Sie stieß versehentlich gegen den Stuhl, der über den Boden scharrte.

»Bist du allein?«, fragte Simone.

»Ja«, sagte ich, ohne zu wissen, warum ich log.

Maja winkte und schloss lautlos die Tür hinter sich. Ihr Parfüm hatte ich noch als schlichten und frischen Hauch in der Nase.

»Gut, dass du nicht hineingegangen bist«, fuhr ich fort. »Hast du die Polizei gerufen?«

»Erik, du klingst komisch, ist was passiert?«

»Abgesehen davon, dass sich möglicherweise gerade ein Einbrecher in unserem Haus aufhält? Hast du die Polizei gerufen?«

»Ja, ich habe meinen Vater angerufen.«

»Gut.«

»Er meinte, dass er sich sofort ins Auto setzt.«

»Du musst weiter weggehen, Simone.«

»Ich stehe auf dem Fahrradweg.«

»Siehst du das Haus?«

»Ja.«

»Wenn du das Haus siehst, kann jemand, der sich im Haus aufhält, dich sehen.«

»Hör auf«, sagte sie.

»Geh bitte zum Fußballplatz hoch – ich komme nach Hause.«


Ich parkte hinter Kennets schmutzigem Opel und stieg aus. Kennet kam mit verbissener Miene auf mich zu.

»Wo zum Teufel ist Sixan?«, rief er.

»Ich habe ihr gesagt, sie soll auf dem Fußballplatz warten.«

»Gut, ich hatte schon Angst, sie …«

»Sie wäre sonst mit Sicherheit ins Haus gegangen, ich kenne sie, sie kommt auf dich.«

Er lachte und umarmte mich fest.

»Schön, dich zu sehen, mein Junge.«

Wir gingen um die Häuserzeile herum auf die Rückseite. Simone stand nur ein kleines Stück von unserem Grundstück entfernt. Vermutlich hatte sie die eingeschlagene Tür bewacht, die direkt auf unsere schattige Veranda hinausführte. Sie blickte auf, ließ das Fahrrad stehen, kam zu mir, umarmte mich fest, schaute über meine Schulter und sagte:

»Hallo, Papa.«

»Ich gehe jetzt rein«, erklärte er ernst.

»Ich komme mit«, sagte ich.

»Frauen und Kinder müssen draußen warten«, seufzte Simone.

Wir stiegen alle drei über die niedrige Fingerstrauchhecke, überquerten den Rasen und die Veranda mit dem weißen Plastiktisch und vier Plastikstühlen.

Die Treppenstufe und das Blech waren von Glasscherben übersät. Zwischen den Scherben und Glassplittern auf dem Teppichboden in Benjamins Zimmer lag ein großer Stein. Wir gingen weiter in die Wohnung hinein, und ich überlegte, dass ich nicht vergessen durfte, Kennet von der Rute zu erzählen.

Simone folgte uns und schaltete die Karlsson-vom-Dach-Lampe an der Decke an. Ihr Gesicht glühte, und die rotblonden Haare lagen in Locken auf ihren Schultern.

Kennet ging in den Flur, schaute rechts ins Schlafzimmer und dann ins Badezimmer. Die Leselampe im Wohnzimmer brannte. In der Küche lag ein umgekippter Stuhl. Wir gingen von Raum zu Raum, aber es schien nichts gestohlen worden zu sein. Jemand war im Erdgeschoss auf der Toilette gewesen, das Toilettenpapier war über den ganzen Fußboden abgerollt worden. Kennet sah mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an.

»Hat irgendwer ein Hühnchen mit dir zu rupfen?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf.

»Nicht, dass ich wüsste«, sagte ich. »Sicher, ich begegne einer Menge labiler Menschen … genau wie du.«

Er nickte.

»Sie haben nichts mitgenommen«, sagte ich.

»Ist das normal, Papa?«, erkundigte sich Simone.

Kennet schüttelte den Kopf.

»Es ist nicht normal, jedenfalls nicht, wenn man ein Fenster einschlägt. Ihr solltet erfahren, dass er oder sie hier gewesen ist.«

Simone stand im Türrahmen zu Benjamins Zimmer.

»Ich finde, es sieht aus, als hätte jemand in Benjamins Zimmer gelegen«, sagte sie leise. »Wie heißt noch dieses Märchen? Goldlöckchen, stimmt’s?«

Wir eilten in unser Schlafzimmer und sahen, dass auch jemand in unseren Betten gelegen hatte. Die Tagesdecke war heruntergezogen worden und das Bettzeug zerknittert.

»Das ist nun wirklich verdammt seltsam«, meinte Kennet.

Es wurde eine Weile still.

»Dieses Ding«, platzte Simone heraus.

»Ja, genau, eben habe ich noch daran gedacht, und dann habe ich es doch wieder vergessen«, sagte ich, ging in den Flur und holte die Rute von der Hutablage.

»Was zum Teufel ist denn das?«, fragte Kennet.

»Das Ding lag gestern vor unserer Tür«, antwortete Simone.

»Darf ich mal sehen?«, sagte Kennet.

»Ich glaube, es ist eine Art Rute«, sagte ich. »Mit den Dingern hat man früher Kinder geschlagen.«

»Gut für die Disziplin«, grinste Kennet und sah sie sich an.

»Das gefällt mir gar nicht, ich finde das wirklich unheimlich«, sagte Simone.

»Ihr seid nicht bedroht worden?«

»Nein«, antwortete sie.

»Vielleicht soll man es ja so verstehen«, sagte ich, »dass jemand der Meinung ist, wir müssten bestraft werden. Ich habe es bisher nur für einen schlechten Scherz gehalten, weil wir Benjamin so bemuttern. Ich meine, wenn man nichts von Benjamins Krankheit weiß, können wir anderen Leuten schon ziemlich neurotisch vorkommen.«

Simone ging zum Telefon und rief in der Vorschule an, um sich zu vergewissern, dass mit Benjamin alles in Ordnung war.

Am Abend brachten wir Benjamin früh zu Bett, und ich lag wie üblich neben ihm und erzählte ihm die Handlung eines afrikanischen Kinderfilms mit dem Titel Kirikou. Benjamin hatte den Film viele Male gesehen und wollte fast immer, dass ich ihm vor dem Einschlafen die Geschichte erzählte. Wenn ich ein Detail vergaß, erinnerte er mich daran, und falls er noch wach war, wenn ich zum Ende kam, musste Simone Wiegenlieder singen.

Nachdem er eingeschlafen war, gossen wir eine Kanne Tee auf und schauten einen Film auf Video. Wir saßen auf der Couch, unterhielten uns über den Einbruch und fragten uns, warum nichts gestohlen worden war und jemand lediglich Toilettenpapier herausgezogen und in unseren Betten gelegen hatte.

»Vielleicht irgendwelche Jugendlichen, die ein ruhiges Plätzchen zum Vögeln gesucht haben«, meinte Simone.

»Nein, die hätten bestimmt ein größeres Durcheinander hinterlassen.«

»Ist es nicht ein bisschen seltsam, dass die Nachbarn nichts gemerkt haben? Adolfsson entgeht doch sonst nichts.«

»Vielleicht war er es ja selbst«, schlug ich vor.

»Der in unserem Bett gevögelt hat?«

Ich lachte, zog sie an mich und merkte, wie gut sie roch, ein ziemlich schweres Parfüm ohne jede einschmeichelnde Süße. Sie presste sich an mich, und ich fühlte ihren schlanken, jungenhaften Körper an meinem. Ich ließ meine Hände unter ihr loses Hemd und über die samtene Haut gleiten. Ihre Brüste waren warm und fest. Sie stöhnte, als ich ihren Hals küsste; ein Stoß heißen Atems strömte in mein Ohr.

Wir zogen uns im Lichtschein des Fernsehers aus, halfen einander mit schnellen, suchenden Händen, nestelten an den Kleidern herum, lachten uns an und küssten uns. Sie zog mich ins Schlafzimmer und schubste mich mit neckischer Strenge ins Bett.

»Kommt jetzt die Rute zum Einsatz?«, fragte ich.

Sie nickte, kam näher, senkte den Kopf, ließ ihre Haare über meine Beine streichen und lächelte mit gesenktem Blick, während sie sich weiter hoch bewegte. Die Locken fielen auf ihre schmalen, sommersprossigen Schultern. Als sie sich rittlings auf meine Hüften setzte, waren ihre Armmuskeln angespannt. Als ich in sie eindrang, liefen ihre Wangen rot an.

Für Sekundenbruchteile flimmerte die Erinnerung an ein paar Fotos in meinen Gedanken vorbei. Ich hatte die Bilder zwei Jahre vor Benjamins Geburt an einem Strand in der griechischen Ägäis gemacht. Wir waren im Bus die Küste entlanggefahren und ausgestiegen, wo es uns am besten gefiel. Als wir erkannten, dass der Strand menschenleer war, verzichteten wir auf Badekleidung. Wir aßen warme Wassermelonen in der Sonne und lagen anschließend nackt im seichten, klaren Wasser und streichelten und küssten uns. Wir liebten uns viermal an diesem Tag am Strand und wurden immer träger und wärmer. Simones Haare waren vom Salzwasser verfilzt, sie hatte diesen schweren, sonnengesättigten Blick und ein in sich gekehrtes Lächeln. Ihre kleinen, straffen Brüste, die Sommersprossen, die hellrosa Brustwarzen. Ihr flacher Bauch, der Nabel, die rötlich braunen Schamhaare.

Jetzt lehnte Simone sich vor, beugte sich über mich, und begann, ihren Orgasmus zu suchen. Sie stieß nach hinten, küsste meine Brust und meinen Hals. Sie atmete schneller, schloss die Augen, hielt meine Schultern umklammert und bat mich flüsternd weiterzumachen:

»Weiter Erik, hör nicht auf …«

Simone bewegte sich schneller, schwerer, Rücken und Po waren verschwitzt. Sie stöhnte laut, stieß weiter nach hinten, immer wieder, hielt mit zitternden Schenkeln inne, machte noch etwas weiter, hielt wimmernd inne, rang nach Luft, befeuchtete ihre Lippen und stützte sich mit der Hand auf meiner Brust ab. Sie stöhnte auf und sah mir in die Augen, als ich wieder anfing in ihr zu stoßen. Ich kämpfte nicht mehr dagegen an, sondern verspritzte meinen Samen in schweren, herrlichen Zuckungen.


Ich stellte das Fahrrad an der Neurologie ab, blieb kurz stehen und lauschte dem Lärmen der Vögel in den Bäumen, sah die Krümmung der frühlingshellen Farben, wenn das Licht durch die Laubmassen der Wäldchen fiel. Ich dachte daran, dass ich vor Kurzem neben Simone aufgewacht war und in ihre grünen Augen gesehen hatte.

Mein Zimmer sah noch genauso aus, wie ich es am Vortag verlassen hatte. Der Stuhl, auf dem Maja Swartling gesessen und mich befragt hatte, war immer noch herausgezogen, und meine Schreibtischlampe brannte. Es war erst halb neun, ich hatte also genügend Zeit, um mir meine Notizen zu der missglückten Hypnosesitzung mit Charlotte durchzulesen. Es war leicht zu erkennen, warum es so gekommen war: Ich hatte Druck gemacht und nur das Ziel im Auge gehabt. Es war ein klassischer Fehler, und ich hätte es besser wissen müssen. Eigentlich war ich viel zu erfahren, um einen solchen Fehler zu machen. Es hatte keinen Sinn, eine Patientin zu zwingen, etwas zu sehen, was sie absolut nicht sehen wollte. Charlotte war in den Raum gegangen, hatte aber nicht den Blick heben wollen. Das hätte mir reichen müssen, es war schon mutig genug gewesen.

Ich zog den Arztkittel an, desinfizierte meine Hände und dachte über die Gruppe nach. Ich war ein wenig unzufrieden mit Pierres Rolle in ihr, sie war etwas undeutlich. Er lief oft Sibel oder Lydia hinterher, konnte sich gut ausdrücken und scherzte gern, verhielt sich in den Hypnosesituationen jedoch ausgesprochen passiv. Er war Friseur, offen homosexuell und wollte Schauspieler werden. Nach außen lebte er ein völlig funktionierendes Leben – außer einem sich regelmäßig wiederholenden Detail. Über Ostern machte er jedes Jahr eine Pauschalreise mit seiner Mutter. Am Reiseziel schlossen die beiden sich in sein Hotelzimmer ein, betranken sich und schliefen miteinander. Was seine Mutter nicht wusste: Nach jeder dieser Reisen bekam Pierre schwere Depressionen mit wiederkehrenden Selbstmordversuchen.

Ich wollte meine Patienten nicht unter Druck setzen, sie sollten selbst entscheiden, ob sie etwas erzählen wollten.

Es klopfte an die Tür. Noch ehe ich reagieren konnte, wurde sie geöffnet, und Eva Blau trat ein. Sie warf mir einen seltsamen Blick zu, als versuchte sie zu lächeln, ohne einen Gesichtsmuskel zu bewegen.

»Nein, danke«, sagte sie plötzlich. »Du brauchst mich nicht zum Souper auszuführen, ich habe schon gegessen. Charlotte ist ein wunderbarer Mensch, sie kocht für mich, Portionen für die ganze Woche, die ich mir einfriere.«

»Das ist wirklich nett von ihr«, sagte ich.

»Sie erkauft sich mein Schweigen«, erklärte Eva kryptisch und stellte sich hinter den Stuhl, auf dem am Vortag Maja gesessen hatte.

»Möchtest du mir vielleicht erzählen, warum du gekommen bist, Eva?«

»Jedenfalls nicht um an deinem Schwanz zu lutschen, nur dass du es weißt.«

»Du musst nicht weiter in die Hypnosegruppe gehen«, sagte ich ruhig.

Sie schlug die Augen nieder.

»Ich wusste, dass du mich hasst«, murmelte sie.

»Nein, Eva, ich sage nur, dass niemand dich zwingt, ein Teil dieser Gruppe zu sein. Manche Menschen wollen nicht hypnotisiert werden, andere sind nicht wirklich empfänglich dafür, obwohl sie es wirklich wollen, und wieder andere …«

»Du hasst mich«, unterbrach sie mich.

»Ich sage nur, dass du nicht in dieser Gruppe bleiben kannst, wenn du nicht hypnotisiert werden willst.«

»Das habe ich nicht gewollt«, sagte sie. »Aber du darfst mir nicht deinen Schwanz in den Mund stecken.«

»Hör auf damit«, sagte ich.

»Entschuldige«, flüsterte sie und zog etwas aus der Tasche. »Sieh mal, das schenke ich dir.«

Ich nahm den Gegenstand entgegen. Es war eine Fotografie. Das Bild zeigte Benjamin bei seiner Taufe.

»Süß, nicht wahr«, sagte sie stolz.

Mein Herz pochte schnell und hart.

»Wo hast du das her?«, fragte ich.

»Das ist mein kleines Geheimnis.«

»Antworte mir, Eva, woher hast du dieses …«

Sie fiel mir in einem neckischen Ton ins Wort:

»Steck deine Nase nicht in Dinge, die dich nichts angehen.«

Ich betrachtete erneut die Aufnahme. Sie stammte aus Benjamins Fotoalbum. Ich erkannte sie sofort. Auf der Rückseite sah man sogar noch die Rückstände des Leims, mit dem wir das Foto eingeklebt hatten. Ich zwang mich, ruhig zu sprechen, obwohl der Puls in den Schläfen hämmerte.

»Ich möchte, dass du mir erzählst, wie du zu dem Bild gekommen bist.«

Sie setzte sich auf die Couch, knöpfte sachlich ihre Bluse auf und zeigte mir ihre Brüste.

»Steck deinen Schwanz rein«, sagte sie, »dann bist du hoffentlich endlich zufrieden.«

»Du bist bei mir zu Hause gewesen«, sagte ich.

»Du bist bei mir zu Hause gewesen«, antwortete sie trotzig. »Du hast mich gezwungen, die Tür zu öffnen …«

»Eva, ich habe versucht, dich zu hypnotisieren, das ist etwas anderes als ein Einbruch.«

»Ich bin nicht eingebrochen«, entgegnete sie schnell.

»Du hast unser Fenster eingeschlagen …«

»Der Stein hat das Fenster eingeschlagen.«

Ich fühlte mich ganz matt und spürte, dass ich kurz davor stand, die Fassung zu verlieren und mit Wut auf einen kranken und verwirrten Menschen zu reagieren.

»Warum hast du mir dieses Bild weggenommen?«

»Du nimmst! Du nimmst und nimmst und nimmst! Was zum Teufel würdest du sagen, wenn ich dir Sachen abnehmen würde? Was denkst du, wie würdest du dich dabei fühlen?«

Sie verbarg das Gesicht in den Händen und sagte, dass sie mich hasste, sie wiederholte es immer wieder, vielleicht hundert Mal, bis sie sich beruhigte.

»Du musst schon verstehen, dass ich wütend auf dich werde«, sagte sie schließlich gefasst, »wenn du behauptest, dass ich dir Sachen wegnehme. Ich habe dir doch ein ganz tolles Bild geschenkt.«

»Ja.«

Sie lächelte breit und leckte sich die Lippen.

»Du hast etwas von mir bekommen«, fuhr sie fort. »Jetzt möchte ich etwas von dir haben.«

»Was möchtest du haben?«, fragte ich ruhig.

»Jetzt komm schon«, sagte sie.

»Sag einfach, was …«

»Ich möchte, dass du mich hypnotisierst«, antwortete sie.

»Warum hast du eine Rute vor meine Haustür gelegt«, fragte ich. Sie starrte mich ausdruckslos an.

»Was ist eine Rute?«

»Man züchtigt Kinder mit solchen Ruten«, sagte ich verbissen.

»Ich habe nichts vor deine Tür gelegt.«

»Du hast eine alte …«

»Lügner«, schrie sie.

Sie stand auf und ging zur Tür.

»Eva, wenn du nicht begreifst, welche Grenzen du nicht übertreten darfst, wenn du nicht kapierst, dass du mich und meine Familie in Ruhe lassen musst, werde ich mit der Polizei sprechen müssen.«

»Und was ist mit meiner Familie?«, erwiderte sie.

»Du hörst mir jetzt zu!«

»Faschistenschwein«, schrie sie und verließ den Raum.


Meine Patienten saßen in einem Halbkreis vor mir. Diesmal war es leicht gewesen, sie zu hypnotisieren. Wir waren ganz sanft durch das perlende Wasser gesunken. Ich arbeitete weiter mit Charlotte. Ihr Gesicht war so traurig entspannt, die Ringe unter den Augen ganz tief, die Kinnspitze ein wenig faltig.

»Entschuldige«, flüsterte Charlotte.

»Mit wem spricht du?«, fragte ich.

Ihr ganzes Gesicht verzerrte sich kurz.

»Entschuldige«, wiederholte sie.

Ich wartete. Sie war ganz offensichtlich in einer tiefen Hypnose. Sie atmete schwer, aber lautlos.

»Du weißt, dass du bei uns sicher bist, Charlotte«, sagte ich. »Es kann dir nichts passieren, dir geht es gut, und du fühlst dich angenehm entspannt.«

Sie nickte traurig, und ich wusste, dass sie mich hörte und meinen Worten folgte, ohne die Realität der Hypnose noch von der Wirklichkeit unterscheiden zu können. In ihrem tiefen hypnotischen Zustand war es, als sähe sie sich einen Film an, in dem sie selber mitwirkte. Sie war Publikum und Handelnde zugleich, aber nicht in zwei unterschiedliche Parts aufgeteilt, sondern in einer Person vereint.

»Sei nicht wütend«, flüsterte sie. »Entschuldige, bitte, entschuldige. Ich werde dich trösten, ich verspreche es, ich werde dich trösten.«

Ich hörte die Gruppe ringsum schwer atmen und begriff, wir waren im verwunschenen Schloss, wir hatten es in Charlottes schrecklichen Raum geschafft, und ich wollte, dass sie dort blieb, ich wünschte mir, dass sie die Kraft haben würde, aufzublicken und etwas zu sehen, einen ersten Blick darauf zu werfen, wovor sie solch furchtbare Angst hatte. Ich wollte ihr helfen, hütete mich diesmal jedoch, den Prozess voranzutreiben, den Fehler der Vorwoche zu wiederholen.

»In Großvaters Turnhalle ist es kalt«, sagte Charlotte plötzlich.

»Siehst du etwas?«

»Lange Dielen, einen Eimer, ein Kabel«, hauchte sie fast lautlos.

»Tritt einen Schritt zurück«, sagte ich.

Sie schüttelte den Kopf.

»Charlotte, du trittst jetzt einen Schritt zurück und legst deine Hand auf die Türklinke.«

Ich sah ihre Lider zittern, Tränen schossen durch die Wimpern heraus. Ihre Hände lagen nackt und leer auf ihrem Schoß wie bei einer alten Frau.

»Du spürst die Klinke und weißt, dass du das Zimmer jederzeit verlassen kannst, wenn du dies möchtest«, sagte ich.

»Darf ich das?«

»Du drückst die Klinke hinunter und gehst hinaus.«

»Es ist bestimmt das Beste, wenn ich jetzt einfach gehe …«

Sie verstummte, hob das Kinn und drehte anschließend mit kindlichem, halb offenem Mund den Kopf.

»Ich bleibe doch noch ein bisschen«, sagte sie leise.

»Bist du allein?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich höre ihn«, murmelte sie, »aber ich kann ihn nicht sehen.«

Sie runzelte die Stirn, als versuchte sie irgendetwas besser zu erkennen, das gleichwohl schemenhaft blieb.

»Hier ist ein großes Tier«, sagte sie plötzlich.

»Was ist das für ein Tier?«, fragte ich.

»Papa hat einen großen Hund …«

»Ist dein Vater im Raum?«

»Ja, er ist hier, er steht in der Ecke, an der Sprossenwand, er ist traurig, ich sehe seine Augen. Ich habe Papa wehgetan, sagt er. Papa ist traurig.«

»Und der Hund?«

»Der Hund bewegt sich vor seinen Beinen und schnüffelt. Er kommt näher und entfernt sich wieder. Jetzt steht er ganz still neben Papa und hechelt. Papa sagt, der Hund soll auf mich aufpassen … Ich will das nicht, er soll das nicht tun dürfen, er ist nicht …«

Charlotte schnappte hastig nach Luft. Sie riskierte, aus der Hypnose zu erwachen, wenn sie zu schnell weitermachte.

Ein furchtbarer Schatten zog über ihr Gesicht, und ich dachte, dass es das Beste sein würde, aus der Trance, dem schwarzen Meer aufzusteigen. Wir hatten den Hund gefunden – sie war stehen geblieben und hatte ihn gesehen. Das war ein sehr großer Fortschritt. Wir würden das Rätsel noch früh genug lösen, wer dieser Hund in Wahrheit war.

Als wir durch die Wassermassen aufstiegen, sah ich Marek Charlotte zugewandt die Zähne fletschen. Lydia streckte eine Hand durch eine dunkelgrüne Wolke aus Tang und Seegras aus und versuchte Pierres Wange zu erreichen und zu streicheln, Sibel und Jussi schlossen die Augen und stiegen auf, und wir begegneten Eva Blau, die kurz unter der Oberfläche hing.

Wir waren fast wach. Die Grenze, an der sich die Wirklichkeit durch die Hypnose auflöste, war stets unscharf, und für die Strecke, die zum Territorium des bewussten Seins zurückführte, galt das Gleiche.

»Wir machen eine Pause«, sagte ich und wandte mich Charlotte zu. »Geht es dir gut?«

»Danke«, antwortete sie und schlug die Augen nieder.

Marek stand auf, bat Sibel um eine Zigarette und ging mit ihr hinaus. Pierre blieb neben Jussi sitzen. Er blickte zu Boden und strich sich hastig über die Augen, als hätte er geweint. Lydia stand auf, streckte langsam die Arme über den Kopf und gähnte. Ich überlegte, dass ich Charlotte sagen sollte, wie froh ich darüber war, dass sie sich entschlossen hatte, ein wenig in ihrem verwunschenen Schloss zu bleiben, aber ich sah sie nicht mehr im Raum.

Ich nahm mein Notizbuch, um ein paar Dinge festzuhalten, wurde jedoch von Lydia unterbrochen. Ihr Schmuck klirrte sanft, und ich roch ihr Moschusparfüm, als sie sich neben mich stellte und fragte:

»Bin ich nicht bald mal an der Reihe?«

»Beim nächsten Mal«, antwortete ich, ohne von meinen Notizen aufzublicken.

»Und warum nicht heute?«

Ich legte den Stift weg und begegnete ihrem Blick.

»Weil ich erst mit Charlotte und anschließend mit Eva weiterarbeiten wollte.«

»Ich meine, Charlotte hätte gesagt, dass sie nach Hause fahren würde.«

Ich lächelte Lydia an.

»Mal sehen«, sagte ich.

»Aber wenn sie nun nicht zurückkommt«, beharrte Lydia.

»Okay, Lydia, in Ordnung.«

Sie blieb stehen und betrachtete mich kurz, während ich wieder nach meinem Stift griff und weiterschrieb.

»Ich bezweifle, dass man Eva wirklich hypnotisieren kann«, sagte Lydia plötzlich.

Ich blickte erneut auf.

»Sie will ihrem Ätherkörper nicht begegnen«, fuhr sie fort.

»Ihrem Ätherkörper?«

Sie lächelte verlegen.

»Ich weiß, dass du andere Worte benutzt«, erklärte sie. »Aber du verstehst schon, was ich meine.«

»Lydia, ich versuche, allen Patienten zu helfen«, sagte ich trocken.

Sie legte den Kopf schief.

»Aber das wird dir nicht gelingen, stimmt’s?«

»Warum denkst du das?«, wollte ich wissen.

Sie zuckte mit den Schultern.

»Statistisch gesehen wird einer von uns sich das Leben nehmen, zwei werden in geschlossenen Anstalten landen und …«

»So kann man nicht argumentieren«, versuchte ich zu erklären.

»Ich schon«, unterbrach sie mich. »Denn ich gehöre zu denen, die es schaffen werden.«

Sie kam noch einen Schritt näher an mich heran, und als sie die Stimme senkte, trat eine verblüffende Grausamkeit in ihren Blick:

»Ich glaube, Charlotte wird sich das Leben nehmen.«

Bevor ich ihr antworten konnte, seufzte sie nur und meinte:

»Wenigstens hat sie keine Kinder.«

Lydia ging und setzte sich auf ihren Stuhl. Als ich einen Blick auf die Uhr warf, sah ich, dass mehr als fünfzehn Minuten vergangen waren. Pierre, Lydia, Jussi und Eva waren zu ihren Plätzen zurückgekehrt. Ich rief Marek herein, der im Flur auf und ab ging und mit sich selbst redete. Sibel stand rauchend vor der Tür und kicherte müde, als ich sie bat, hereinzukommen.

Lydia begegnete träge meinem Blick, als ich feststellen musste, dass Charlotte nicht zurückgekommen war.

»Also schön«, sagte ich und legte meine Hände zusammen. »Dann wollen wir mal.«

Ich sah ihre Gesichter vor mir. Sie waren bereit. Die Sitzungen liefen in der Regel nach der Pause besser, als sehnten sich alle in die Tiefe zurück, als lüden uns das Licht und die Geräusche in der Tiefe wieder flüsternd zu sich ein.

Die Induktion wirkte sofort – Lydia war in nur zehn Minuten tief hypnotisiert.

Wir sanken, und ich spürte laues Wasser über meinen Kopf strömen. Der große graue Fels war von Korallen überwuchert. In den Strömungen wehend bewegten sich die Tentakel ihrer Polypenkörper. Ich sah jedes Detail, jede selbstleuchtende, vibrierende Farbe.

Sie leckte sich die trockenen Lippen und legte den Kopf in den Nacken. Ihre Augen waren sanft geschlossen, aber um den Mund lag ein gereizter Zug und auf ihre Stirn trat eine Falte.

»Ich nehme das Messer.«

Ihre Stimme war trocken und heiser.

»Was ist das für ein Messer?«, fragte ich.

»Das gezahnte Messer auf der Spüle«, sagte sie in einem fragenden Ton und schwieg anschließend eine Weile mit halb offenem Mund.

»Ein Brotmesser?«

»Ja«, sagte sie lächelnd.

»Sprich weiter.«

»Ich schneide die Eispackung in zwei Teile. Nehme die eine Hälfte und einen Löffel mit zu der Couch vor dem Fernseher. Oprah Winfrey wendet sich an Doktor Phil. Er sitzt im Publikum und zeigt allen seinen Zeigefinger. Er hat einen roten Faden um seinen Finger gebunden und will gerade erzählen warum, als Kasper schreit. Ich weiß, dass er überhaupt nichts will, er versucht nur, mir zu trotzen. Er schreit, weil er weiß, dass mich das traurig macht, weil ich in meinem Haus kein schlechtes Benehmen dulde.«

»Was schreit er?«

»Er weiß, dass ich hören will, was Doktor Phil sagt, er weißt, dass ich mich auf Oprah freue … Deshalb schreit er.«

»Was schreit er in diesem Moment?«

»Es sind zwei geschlossene Türen zwischen uns«, sagte sie. »Aber ich höre, dass er mir schlimme Worte zuruft. Er schreit Fotze, Fotze, Fotze …«

Lydias Wangen waren gerötet, und auf ihrer Stirn perlte Schweiß.

»Was tust du?«, fragte ich.

Sie leckte sich wieder die Lippen, ihre Atemzüge gingen schwer.

»Ich stelle den Fernseher lauter«, sagte sie gedämpft. »Der Ton hämmert, der Applaus rauscht, aber die Sendung gefällt mir nicht mehr, sie ist nicht mehr gut. Das Programm macht mir keinen Spaß mehr. Er hat mir diesen Moment verdorben. Es ist, wie es ist, aber ich sollte es ihm erklären.«

Sie lächelte mit zusammengepressten Lippen, ihr Gesicht war fast weiß, und in metallischen Rillen schimmerte Wasser auf ihrer Stirn.

»Tust du das?«, fragte ich.

»Was?«

»Was tust du, Lydia?«

»Ich … ich gehe durch die Waschküche und in den Partykeller hinunter. Aus Kaspers Zimmer kommen Piepser und seltsam surrende Geräusche, es … ich begreife nicht, was er sich dabei gedacht hat, ich will doch nur wieder hochgehen und fernsehen, aber ich gehe weiter zu der Tür, öffne sie und gehe hinein in …«

Sie verstummte. Durch ihre halb geschlossenen Lippen wurde Wasser gepresst.

»Du gehst hinein«, wiederholte ich. »Wohin gehst du, Lydia?«

Ihre Lippen bewegten sich schwach. Luftblasen funkelten und stiegen auf.

»Was siehst du?«, fragte ich behutsam.

»Als ich hereinkomme, stellt Kasper sich schlafend«, sagt sie langsam. »Er hat das Foto von Großmutter kaputtgemacht. Als er sich das Bild leihen durfte, hatte er versprochen, vorsichtig damit umzugehen, es ist das einzige Foto, das ich von ihr habe. Jetzt hat er es kaputtgemacht und liegt einfach da und stellt sich schlafend. Ich denke, dass ich am Sonntag ein ernstes Wort mit Kasper reden werde, das ist der Tag, an dem wir besprechen, wie wir miteinander umgegangen sind, ich frage mich, welchen Rat Doktor Phil mir wohl gegeben hätte. Ich merke, dass ich immer noch den Löffel in der Hand halte, und als ich in ihn hineinschaue, sehe ich nicht mich, sondern einen Teddybären, der sich im Metall spiegelt, er muss an der Decke hängen …«

Lydia verzog auf einmal schmerzlich den Mund. Sie versuchte zu lachen, aber es drangen nur seltsame Laute heraus. Sie versuchte es noch einmal, aber es klang einfach nicht wie ein Lachen.

»Was tust du?«, fragte ich.

»Ich gucke«, antwortete sie und blickte nach oben.

Plötzlich rutschte Lydia vom Stuhl und schlug mit dem Hinterkopf auf die Sitzfläche. Ich eilte zu ihr. Sie saß auf dem Fußboden und war noch hypnotisiert, aber ihre Trance war nicht mehr tief. Sie starrte mich mit ängstlichen Augen verwirrt an, und ich sprach beruhigend auf sie ein.


Ich weiß nicht, warum ich das Gefühl hatte, Charlotte anrufen zu müssen, irgendetwas beunruhigte mich. Vielleicht lag es daran, dass ich sie in der Hypnose überredet hatte, länger in ihrem verwunschenen Schloss zu bleiben, als sie sich eigentlich traute, oder dass ich ihren Stolz herausgefordert und sie dazu bewegt hatte, den Blick zu heben und zum ersten Mal den großen Hund zu betrachten, der um die Beine ihres Vaters strich. Dass sie die Sitzung ohne ein Wort der Erklärung und ohne den üblichen Dank verlassen hatte, erfüllte mich mit Sorge.

Ich bereute es schon, als ich ihre Handynummer wählte, wartete aber trotzdem, bis das Gespräch mit ihrer Mailbox verbunden wurde, ehe ich auflegte.

Nach einem verspäteten Mittagessen fuhr ich mit dem Fahrrad zum Karolinska-Krankenhaus zurück. Der Wind war kühl, aber die Straßen und Häuserfassaden waren in Frühlingslicht getaucht.

Ich schüttelte meine Sorge um Charlotte ab und sagte mir, dass sie nach einem so aufwühlenden Erlebnis erst einmal Ruhe brauchte. Die Laubmassen des Nordfriedhofs wurden von Wind und Licht wogend hin und her geworfen.

Heute würde Kennet Benjamin aus dem Kindergarten abholen, er hatte seinem Enkel versprochen, ihn auf dem Heimweg im Streifenwagen mitfahren zu lassen. Da ich Spätdienst hatte und Simone mit ein paar Freundinnen in die Oper gehen wollte, sollte Benjamin bei Kennet übernachten.

Ich hatte der jungen angehenden Ärztin versprochen, mich noch einmal befragen zu lassen. Nun merkte ich, dass ich mich darauf freute, mit ihr zu sprechen. Ich war rundum zufrieden, denn meine Theorien waren durch Charlotte im Prinzip bestätigt worden.

Ich verließ das Behandlungszimmer und ging den Flur hinab zu meinem Büro. Abgesehen von ein paar älteren Frauen, die auf den Fahrdienst warteten, lag das Krankenhausfoyer verwaist. Das Wetter war schön: Licht mit wehendem Staub und blendender Sonne. Ich überlegte, nach der Arbeit laufen zu gehen.

Als ich zu meinem Büro kam, stand Maja Swartling bereits wartend vor der Tür. Ihre vollen Lippen mit dem roten Lippenstift öffneten sich zu einem breiten Lächeln, und die Spange in ihren pechschwarzen Haaren glänzte, als sie sich verneigte und mit dem für sie typischen Schalk fragte:

»Ich hoffe, der werte Herr Doktor hat es sich vor Interview Nummer zwei nicht anders überlegt.«

»Natürlich nicht«, sagte ich und spürte ein Kribbeln, als ich neben ihr stand und die Tür aufschloss. Unsere Augen begegneten sich, und ich nahm einen unerwarteten Ernst in ihrem Blick wahr, als sie an mir vorbeiging und das Zimmer betrat.

Plötzlich war ich mir meines eigenen Körpers bewusst, meiner Füße, meines Munds. Sie errötete, als sie ihre Mappe, Stift und Notizblock herausholte.

»Was ist seit unserer letzten Begegnung passiert?«, fragte sie.

Ich bot ihr eine Tasse Kaffee an und erzählte ihr von der gelungenen Sitzung.

»Ich glaube, wir haben Charlottes Täter gefunden«, sagte ich, »der ihr so wehgetan hat, dass sie immer wieder versucht, sich das Leben zu nehmen.«

»Wer ist es?«

»Ein Hund«, sagte ich ernst.

Maja lachte nicht, denn sie wusste, dass meine gewagteste These auf der uralten Struktur der Fabel basierte: Menschen in Tiergestalt sind eine der ältesten Möglichkeiten, von etwas zu erzählen, was sonst unerlaubt oder zu beängstigend oder verführerisch wäre.

Für meine Patienten war es ein Weg zu verarbeiten, dass jemand, der sie eigentlich schützen und lieben sollte, ihnen in der schlimmsten vorstellbaren Weise wehgetan hatte.

Es fiel mir leicht, erschreckend leicht, mit Maja Swartling zu sprechen. Sie kannte sich gut aus, war aber keine Expertin, sie stellte intelligente Fragen und war eine sehr gute Zuhörerin.

»Und Marek Semiovic? Wie läuft es bei ihm?«, fragte sie und lutschte an ihrem Stift.

»Sie kennen ja seine Herkunft, er kam mitten im Bosnienkrieg als Flüchtling nach Schweden, behandelt wurden damals jedoch im Grunde nur seine körperlichen Verletzungen.«

»Ja.«

»Er ist für meine Forschung von großem Interesse, auch wenn ich noch nicht ganz verstehe, was in ihm vorgeht, denn in großer hypnotischer Tiefe landet er immer im selben Ziummer, in derselben Erinnerung. Man zwingt ihn, Menschen zu foltern, Menschen, denen er begegnet ist, Jungen, mit denen er gespielt hat, aber dann passiert etwas.«

»In der Hypnose?«

»Ja, er weigert sich weiterzugehen.«

Maja notierte sich etwas, blätterte um und schaute auf.

Ich beschloss, ihr nicht zu erzählen, dass Lydia unter Hypnose vom Stuhl gerutscht war, sondern erläuterte stattdessen meine Idee, dass der freie Wille in der Hypnose nur dadurch eingeschränkt wird, dass man sich nicht selbst belügen kann.

Die Zeit verging, und es wurde Abend. Der Flur vor meinem Zimmer lag still und verwaist.

Maja packte ihre Sachen in die Aktentasche, schlang ihren Schal um den Hals und stand auf.

»Die Zeit ist wirklich wie im Flug vergangen«, sagte sie entschuldigend.

»Es war nett heute«, erwiderte ich und gab ihr die Hand.

Sie zögerte kurz, fragte dann aber:

»Dürfte ich Sie heute eventuell zu einem Gläschen einladen?«

Ich dachte nach. Simone und ihre Freundinnen wollten sich Tosca ansehen, und sie würde erst spät nach Hause kommen. Benjamin übernachtete bei seinem Großvater, und ich selbst hatte vorgehabt, den ganzen Abend zu arbeiten.

»Das ließe sich durchaus einrichten«, sagte ich mit dem Gefühl, eine unsichtbare Grenze zu überschreiten.

»Ich kenne da ein kleines Lokal in der Roslagsgatan«, sagte Maja. »Es heißt Peterson-Berger und ist relativ einfach, aber sehr gemütlich.«

»Schön«, meinte ich nur, nahm meine Jacke, löschte das Licht und schloss hinter uns ab.

Wir radelten Richtung Norrtull. Auf den Straßen waren nur wenige Autos unterwegs. Es war erst halb acht. Der Frühling vibrierte in den hellen Vogelstimmen aus den Bäumen.

Als wir gemeinsam das Restaurant betraten und den lächelnden Blicken der Wirtin begegneten, kamen mir Zweifel. Was machte ich hier? Was sollte ich sagen, wenn Simone anrief und wissen wollte, was ich tat? Eine Welle des Unbehagens schwappte vorbei und verschwand. Maja war eine Kollegin, wir wollten unser Gespräch fortsetzen, und Simone war an diesem Abend ohnehin mit ihren Freundinnen unterwegs. Wahrscheinlich saßen sie gerade im Restaurant der Volksoper und tranken ein Glas


Wein.

Maja schien sich von dem Abend viel zu erwarten. Mir war nicht ganz klar, was sie hier überhaupt mit mir machte. Sie war wunderschön, jung und kontaktfreudig. Ich war sicher fünfzehn Jahre älter als sie und verheiratet.

»Ich liebe die Hähnchenspieße mit Kreuzkümmel, die sie hier haben«, sagte sie und ging voran zu einem Tisch im hinteren Teil des Lokals.

Wir nahmen Platz, und kurz darauf kam eine Frau mit einer Wasserkaraffe zu uns. Maja stützte ihr Gesicht in die hohle Hand, betrachtete das Glas und sagte ruhig:

»Wenn es uns hier nicht mehr gefällt, können wir zu mir gehen.«

»Maja, flirtest du mit mir?«

Sie lachte, und ihre Grübchen wurden tiefer.

»Mein Vater hat immer gesagt, dass mir das angeboren ist. Ich bin unverbesserlich, ich flirte immer«, erwiderte sie.

Ich musste mir eingestehen, dass ich nichts über sie wusste, während sie sich offensichtlich mit allem beschäftigt hatte, was ich tat.

»Ist dein Vater auch Arzt?«, fragte ich.

Sie nickte.

»Professor Jan E. Swartling.«

»Der Gehirnchirurg?«, fragte ich beeindruckt.

»Oder wie man jemanden nennen soll, der in den Köpfen anderer Menschen herumstochert«, sagte sie schneidend.

Zum ersten Mal war das Lächeln aus ihrem Gesicht verschwunden.

Wir aßen, und ich fühlte mich von der Situation zunehmend gestresst, trank zu schnell und bestellte noch mehr Wein. Die Blicke des Personals, das uns ganz selbstverständlich für ein Paar hielt, machten mich nervös, unruhig. Ich war angetrunken und schaute nicht einmal auf die Rechnung, bevor ich unterschrieb, zerknüllte die Quittung und verpasste den Papierkorb an der Garderobe. Auf der Straße, im weiten und lauen Frühlingsabend, war ich ganz darauf eingestellt, nach Hause zu fahren. Maja zeigte jedoch auf einen Hauseingang und fragte mich, ob ich nicht Lust hätte mitzukommen, nur um zu sehen, wie sie wohnte, und eine Tasse Tee zu trinken.

»Maja«, sagte ich, »du bist unverbesserlich, dein Vater hat vollkommen Recht.«

Sie kicherte und hakte sich bei mir unter.

Im Aufzug standen wir eng zusammen. Ich musste einfach ihren vollen, lächelnden Mund ansehen, die perlweißen Zähne, die hohe Stirn und ihre schwarzen, glänzenden Haare.

Sie merkte es und strich mir behutsam über die Wange. Ich lehnte mich vor und wollte sie küssen, wurde aber davon abgehalten, dass der Aufzug mit einem Ruck stoppte.

»Komm«, flüsterte sie und schloss die Tür auf.

Ihre Wohnung war sehr klein, aber ausgesprochen gemütlich. Die Wände waren in einem sanften, mittelmeerblauen Farbton gestrichen, und vor dem einzigen Fenster hingen weiße Leinenvorhänge. Die Kochnische war sauber, hatte einen weißen Plattenfußboden und war mit einem kleinen, modernen Gasherd bestückt. Maja ging hin, und ich hörte sie eine Flasche Wein öffnen.

»Ich dachte, wir wollten Tee trinken«, sagte ich, als sie mit der Flasche und den beiden Weingläsern in den Händen zu mir kam.

»Das hier ist besser fürs Herz«, meinte sie.

»Na dann«, erwiderte ich, nahm ein Glas an und verschüttete Wein auf meine Hand. Sie trocknete die Hand mit einem Küchenhandtuch ab, setzte sich auf das schmale Bett und lehnte sich zurück.

»Nette Wohnung«, sagte ich.

»Es ist komisch, dich hier zu haben«, sagte sie lächelnd. »Ich habe dich schon so lange bewundert und …«

Plötzlich schoss sie in die Höhe.

»Ich muss ein Foto von dir machen«, rief sie kichernd. »Der große Arzt bei mir zu Hause!«

Sie holte ihre Kamera und konzentrierte sich.

»Du musst ernst gucken«, meinte sie und musterte mich im Sucher.

Sie fotografierte mich kichernd, forderte mich auf zu posieren, scherzte und sagte, ich sei so heiß, ich sähe so super aus, und bat mich, den Mund zu spitzen.

»Unglaublich sexy«, lachte sie leichthin.

»Wird das ein Titelbild für die Vogue?«

»Aber nur, wenn sie nicht lieber mich haben wollen«, sagte sie und gab mir die Kamera.

Ich stand auf, merkte, dass ich torkelte, und betrachtete sie im Sucher. Sie hatte sich rücklings auf das Bett geworfen.

»Du gewinnst«, sagte ich und schoss ein Foto.

»Mein Bruder hat mich immer Pummelchen genannt«, sagte sie. »Findest du mich dick?«

»Du bist unglaublich schön«, flüsterte ich und sah, wie sie sich aufsetzte und den Pullover über den Kopf zog. Ihre vollen Brüste wurden von einem hellgrünen Seiden-BH umhüllt.

»Fotografier mich jetzt«, flüsterte sie und knöpfte ihren BH auf.

Sie errötete heftig und lächelte. Ich stellte das Objektiv ein, sah in ihre dunklen, leuchtenden Augen, betrachtete den lächelnden Mund und die jungen, reichen Brüste mit ihren hellrosa Brustwarzen.

Ich fotografierte sie, während sie posierte und mich winkend aufforderte, näher zu kommen.

»Ich werde eine Nahaufnahme machen«, murmelte ich, ging auf die Knie und spürte das Verlangen in mir pochen.

Sie hob eine schwere Brust mit der Hand an. Die Kamera blitzte. Sie flüsterte mir zu, ich solle näher kommen. Ich hatte eine kräftige, schmerzende Erektion. Ich senkte die Kamera, lehnte mich vor und nahm ihre Brust in den Mund. Sie presste ihren Busen gegen mein Gesicht, und ich leckte und saugte an der harten Brustwarze.

»Oh Gott«, flüsterte sie, »oh Gott, ist das schön.«

Ihre Haut war heiß, verschwitzt. Sie knöpfte ihre Jeans auf, zog sie herab und trat sie fort. Ich richtete mich auf und dachte, dass ich nicht mit ihr schlafen durfte, dass ich das nicht tun konnte, griff jedoch nach der Kamera und fotografierte sie von Neuem. Sie trug nur einen dünnen, hellgrünen Slip.

»Komm jetzt«, flüsterte sie.

Ich betrachtete sie erneut im Sucher, und sie lächelte breit und spreizte die Beine. Zu beiden Seiten des Slips sah man den Ansatz ihrer dunklen Schamhaare.

»Wir dürfen das«, sagte sie.

»Ich kann nicht«, antwortete ich.

»Ich denke schon, dass du kannst«, widersprach sie lächelnd.

»Maja, du bist gefährlich, du bist sehr gefährlich«, sagte ich und legte die Kamera weg.

»Ich weiß, dass ich ungezogen bin.«

»Und ich bin ein verheirateter Mann.«

»Findest du mich nicht schön?«

»Du bist wunderschön, Maja.«

»Schöner als deine Frau?«

»Hör auf.«

»Aber ich mache dich geil, stimmt’s?«, flüsterte sie, kicherte und wurde dann ernst.

Ich nickte, wich zurück und sah sie zufrieden lächeln.

»Ich darf dich doch weiter befragen?«

»Aber natürlich«, sagte ich und bewegte mich Richtung Tür.

Ich sah, dass sie mir eine Kusshand zuwarf, erwiderte sie, verließ die Wohnung, eilte zur Straße hinunter und stieg auf mein Fahrrad.

In jener Nacht hatte ich einen Traum, in dem ich ein steinernes Relief betrachtete, das drei Nymphen darstellte. Ich wurde davon wach, dass ich laut etwas sagte, so laut, dass ich im stillen, dunklen Schlafzimmer das Echo meiner eigenen Stimme hörte. Simone war nach Hause gekommen, als ich schon schlief, und bewegte sich neben mir im Schlaf. Ich war vom Traum in Schweiß gebadet und hatte noch Alkohol im Blut. Ein Fahrzeug der Straßenreinigung bewegte sich blinkend und lärmend an unserem Fenster vorbei. Es war still im Haus. Ich nahm eine Tablette und versuchte, meine Gedanken abzustellen, begriff jedoch, was am Vorabend passiert war. Ich hatte eine praktisch nackte Maja Swartling fotografiert. Ich hatte Bilder von ihren Brüsten, ihren Beinen, ihrem frühlingsgrünen Slip gemacht. Aber wir hatten nicht miteinander geschlafen, wiederholte ich innerlich. Ich hatte das nicht geplant und nicht gewollt, ich hatte eine Grenze überschritten, aber Simone nicht betrogen. Jetzt war ich hellwach. Glasklar und hellwach. Was war nur mit mir los? Wie im Himmel hatte ich mich nur dazu überreden lassen können, Maja nackt zu fotografieren? Sie war schön und verführerisch. Sie hatte mir geschmeichelt. Reichte das etwa schon aus? Ich begriff überrascht, dass ich einen wirklich schwachen Punkt bei mir gefunden hatte: Ich war eitel. Ich war meilenweit davon entfernt, mich in sie verliebt zu haben. Meine Eitelkeit war es, die sich in ihrer Nähe so wohlfühlte.

Ich wälzte mich im Bett herum, zog mir die Decke übers Gesicht und schlief kurze Zeit später wieder tief und fest.


Charlotte war nicht zu unserer wöchentlichen Sitzung erschienen. Das war schlecht, ich hatte eigentlich schon an diesem Tag auf dem Erfolg der letzten Sitzung aufbauen wollen. Marek befand sich in tiefer hypnotischer Ruhe. Er saß zusammengesackt, sein Sweater spannte hauteng auf den kräftigen, durchtrainierten Oberarmen und den überentwickelten Rückenmuskeln. Sein Kopf war kahl geschoren und von Narben übersät. Seine Kiefer kauten langsam, und er hob den Kopf und sah mich mit seinem leeren Blick an.

»Ich bekomme einen Lachanfall«, sagte er laut. »Die Stromstöße lassen den Typen aus Mostar herumhüpfen wie eine Comicfigur.«

Marek wirkte fröhlich und wackelte mit dem Kopf.

»Der Typ liegt auf dem blutigen, dunklen Betonboden und atmet schnell, ganz schnell. Dann kauert er sich zusammen und fängt an zu weinen. Scheiße, ich schreie, dass er aufstehen soll, dass ich ihn umbringe, wenn er nicht aufsteht, dass ich ihm das ganze verdammte Bajonettmesser in seinen Arsch ramme.«

Marek verstummte für einen Moment. Dann sprach er im gleichen ausdruckslosen Plauderton weiter:

»Er richtet sich auf, kann kaum stehen, seine Beine zittern, und sein Schwanz ist eingeschrumpft, er zittert, bittet um Verzeihung und sagt, dass er nichts falsch gemacht hat. Ich gehe zu ihm, sehe mir seine blutigen Zähne an und versetze ihm einen kräftigen Stromstoß am Hals. Er stampft auf dem Fußboden auf, fliegt mit weit aufgerissenen Augen herum, schlägt mit dem Kopf mehrfach gegen die Wand, und seine Beine zappeln. Ich lache schallend. Er rutscht am Geländer entlang zur Seite, aus seinem Mund fließt Blut, und er sackt auf den Decken in der Ecke zusammen. Ich lächele ihn an, beuge mich über ihn und schocke ihn noch einmal, aber sein Körper bäumt sich bloß noch auf wie ein totes Schwein. Ich rufe in Richtung Tür, dass der Spaß vorbei ist, aber sie kommen mit seinem großen Bruder herein, ich kenne ihn, wir waren ein Jahr lang Kollegen bei Aluminij, der Fabrik, die drüben bei …«

Marek verstummte mit zitterndem Kinn.

»Was passiert jetzt?«, fragte ich leise.

Er schwieg kurz, ehe er weitersprach:

»Der Boden ist von grünem Gras überwuchert, ich kann den Typen aus Mostar nicht mehr sehen, da ist nur noch ein kleiner Grashügel.«

»Ist das nicht seltsam?«, fragte ich.

»Ich weiß nicht, vielleicht, aber ich sehe das Zimmer nicht mehr. Ich bin im Freien, gehe über eine Sommerwiese, das Gras unter meinen Füßen ist feucht und kalt.«

»Möchtest du zu dem großen Haus zurückkehren?«

»Nein.«

Vorsichtig hob ich die Gruppe aus der Hypnose und sorgte dafür, dass es allen gut ging, ehe wir mit dem Gespräch begannen. Marek wischte sich Tränen von den Wangen und streckte sich. Er hatte große Schweißflecke unter den Armen.

»Sie haben mich gezwungen, das war ihr Ding … Sie haben mich gezwungen, meine alten Kameraden zu foltern«, sagte


er.

»Das wissen wir«, sagte ich.

Er sah uns scheu, suchend an.

»Ich habe gelacht, weil ich Angst hatte. So bin ich nicht, ich bin nicht gefährlich«, flüsterte er.

»Keiner verurteilt dich, Marek.«

Er streckte sich erneut und begegnete meinem Blick mit überheblicher Miene.

»Ich habe furchtbare Dinge getan«, sagte er, kratzte sich am Hals und rutschte unruhig hin und her.

»Du wurdest dazu gezwungen.«

Marek breitete die Hände aus.

»Aber irgendwie bin ich auch so durchgeknallt«, sagte er, »dass ich mich zurücksehne.«

»Das tust du?«

»Verdammter Mist«, schluchzte er. »Ich quatsche doch nur rum, ich weiß es nicht, ich weiß nichts.«

»Ich glaube, dass du dich an jedes Detail erinnerst«, schaltete sich Lydia mit einem sanften Lächeln in das Gespräch ein. »Warum willst uns nichts erzählen?«

»Halt’s Maul«, schrie Marek, ging zu ihr und hob die Hand.

»Setz dich«, rief ich.

»Marek, du schreist mich gefälligst nicht an«, erklärte Lydia ruhig.

Er begegnete ihrem Blick und blieb stehen.

»Entschuldige«, sagte er unsicher lächelnd, strich sich zweimal mit der Hand über den Scheitel und setzte sich wieder.

In der Pause stand ich mit einer Kaffeetasse in der Hand am offenen Fenster und schaute hinaus. Es war ein trüber Tag, Regenwolken hingen schwer am Himmel. Der Wind war kalt und trug schwachen Laubgeruch herein. Meine Patienten setzten sich wieder.

Eva Blau war ganz in Blau gekleidet, hatte blauen Lippenstift aufgetragen und ihre Augen mit blauem Mascara geschminkt. Sie wirkte wie üblich unruhig, legte sich ihre Strickjacke um die Schultern, zog sie aus und wiederholte das Ganze immer und immer wieder.

Lydia unterhielt sich mit Pierre, der ihr zuhörte, während sich seine Augen und sein Mund in schmerzhaften, sich wiederholenden Tics zusammenzogen.

Marek hatte mir den Rücken zugekehrt. Seine Bodybuildermuskeln zuckten, als er in seinem Rucksack nach etwas suchte.

Ich stand auf und winkte Sibel herein, die ihre Zigarette augenblicklich an ihrem Schuh löschte und wieder in die Schachtel zurücksteckte.

»Wir machen weiter«, sagte ich und dachte, dass ich es noch einmal mit Eva Blau versuchen würde.


Eva Blaus Gesicht war angespannt, und um ihren Mund, die blau geschminkten Lippen, spielte ein spöttisches Lächeln. Ich nahm mich vor ihrer manipulativen Gefügigkeit in Acht. Sie wollte nicht das Gefühl haben, zu etwas gezwungen zu werden, aber ich hatte eine Idee, wie ich in ihrem Fall die Freiwilligkeit der Hypnose betonen können würde. Sie benötigte offensichtlich Hilfe, um sich zu entspannen und zu sinken.

Als ich die Gruppe aufforderte, das Kinn auf die Brust sinken zu lassen, reagierte Eva mit einem breiten Lächeln. Ich zählte rückwärts, fiel und spürte, wie mich das Wasser umschloss, blieb aber stets aufmerksam. Eva schielte zu Pierre hinüber und versuchte, im gleichen Rhythmus zu atmen wie er.

»Ihr sinkt langsam«, sagte ich, »sinkt tiefer in die Ruhe, die Entspannung und die angenehme Schwere.«

Ich trat hinter meine Patienten, betrachtete ihre blassen Nacken und runden Rücken, blieb bei Eva stehen und legte eine Hand auf ihre Schulter. Ohne die Augen zu öffnen, hob sie vorsichtig den Kopf und spitzte den Mund ein wenig.

»Jetzt spreche ich nur mit Eva«, sagte ich. »Eva, ich möchte, dass du wach, aber immer entspannt bleibst. Du wirst meiner Stimme lauschen, wenn ich zur Gruppe spreche, aber du wirst nicht hypnotisiert, du wirst die gleiche Ruhe, das gleiche angenehme Versinken fühlen, dabei aber die ganze Zeit wach bleiben.«

Ich spürte, wie sich ihre Schultern entspannten.

»Jetzt wende ich mich wieder an alle. Hört mir zu. Ich werde jetzt zählen«, fuhr ich fort, »und bei jeder Ziffer sinken wir tiefer, immer tiefer in die Entspannung, aber du, Eva, du folgst uns nur in Gedanken, du bist die ganze Zeit bei Bewusstsein und wach.«

Während ich zu meinem Platz zurückkehrte, zählte ich Zahlenreihen herunter, und als ich mich vor den anderen hinsetzte, sah ich, dass Evas Gesicht erschlafft war. Sie war verändert. Ich konnte kaum glauben, dass dies derselbe Mensch sein sollte. Ihre Unterlippe hing herab, und die feuchte, rosa Innenseite bildete einen Kontrast zu ihrem blauen Lippenstift, und sie atmete sehr schwer. Ich wandte mich nach innen, ließ los und sank durch Wasser in einem dunklen Aufzugschacht. Wir befanden uns in einem Wrack oder einem überfluteten Haus. Kaltes Wasser strömte mir von unten entgegen. Luftblasen und kleine Tangfetzen trieben vorbei.

»Weiter hinab, tiefer, ruhiger«, ermahnte ich behutsam.

Nach etwa zwanzig Minuten standen wir alle tief unter Wasser auf einem vollkommen ebenen Stahlboden. Einzelne Schnecken hatten auf dem Metall Halt gefunden. Hier und da sah man kleinere Ansammlungen von Algen. Eine weiße Krabbe kroch über die platte Fläche. Die Gruppe stand in einem Halbkreis um mich herum. Evas Gesicht war blass und fragend. Graues Wasserlicht wogte, sich spiegelnd und fließend, auf ihren Wangen. Ihr Gesicht sah in dieser tiefen Entspannung nackt und beinahe nonnenhaft aus. An der Öffnung ihres schlaffen Munds bildete sich eine Speichelblase.

»Eva, ich möchte, dass du ruhig sprichst und bei dem verharrst, was du siehst.«

»Aha«, murmelte sie.

»Sagst du uns«, versuchte ich es, »wo du dich befindest?«

Auf einmal sah sie ganz merkwürdig aus. Als würde sie sich über etwas wundern.

»Ich bin weggegangen, ich gehe auf dem weichen Weg mit den Kiefernnadeln und langen Zapfen«, flüsterte sie. »Vielleicht gehe ich ja zum Kanuverein und gucke durch das Fenster auf der Rückseite hinein.«

»Tust du das jetzt?«

Eva nickte und blies die Backen auf wie ein schmollendes Kind.

»Und was siehst du?«

»Nichts«, sagte sie schnell und abweisend.

»Nichts?«

»Nur eine Kleinigkeit … die ich vor der Post mit Schulkreide auf die Straße schreibe.«

»Was schreibst du?«

»Nur etwas Unwichtiges.«

»Du siehst nichts durch das Fenster?«

»Nein … nur einen Jungen, ich schaue mir einen Jungen an«, lallte sie. »Total süß, total niedlich. Er liegt in einem schmalen Bett, einer Bettcouch. Ein Mann in einem weißen Frotteebade­mantel legt sich auf ihn. Das sieht gut aus. Es gefällt mir, die beiden zu sehen, ich mag Jungen, will mich um sie kümmern und ihnen Küsschen geben.«

Hinterher zuckte Evas Mund, und ihre Augen schossen zwischen allen in der Gruppe hin und her.

»Ich war nicht hypnotisiert«, sagte sie.

»Du warst entspannt, das reicht völlig«, erwiderte ich.

»Nein, das reicht überhaupt nicht, denn ich habe nicht darüber nachgedacht, was ich sage, ich habe nur irgendwelche Dinge erzählt, das hat nichts zu bedeuten, das waren nur Fantasien.«

»Diesen Kanuclub gibt es also nicht?«

»Nein«, antwortete sie kategorisch.

»Den weichen Weg?«

»Das habe ich alles nur erfunden«, sagte sie mit einem Schulterzucken.

Es war ihr deutlich anzumerken, wie peinlich es ihr war, dass man sie hypnotisiert und sie daraufhin etwas beschrieben hatte, was sie wirklich erlebt hatte. Eva Blau war ein Mensch, der sonst nie etwas über sich erzählte, was mit der Wirklichkeit zusammenhing.

Marek spuckte stumm in seinen Handteller, als er bemerkte, dass Pierre ihn ansah. Pierre lief daraufhin rot an und sah schnell weg.

»Ich habe Jungen noch nie schlecht behandelt«, fuhr Eva mit lauterer Stimme fort. »Ich bin lieb, ich bin ein netter Mensch, Kinder mögen mich. Ich würde gerne auf Kinder aufpassen. Lydia, ich bin gestern an deinem Haus gewesen, habe mich aber nicht getraut zu klingeln.«

»Mach das nicht nochmal«, sagte Lydia leise.

»Was?«

»Komm nicht zu meinem Haus«, sagte sie.

»Du kannst dich auf mich verlassen«, fuhr Eva fort. »Charlotte und ich sind schon beste Freundinnen. Sie kocht für mich, und ich pflücke Blumen, die sie auf den Tisch stellen kann.«

Es zuckte in Evas Lippen, als sie sich erneut Lydia zuwandte:

»Ich habe für Kasper, deinen Jungen, etwas zum Spielen gekauft, es ist nur eine Kleinigkeit, ein lustiger Ventilator, der aussieht wie ein Hubschrauber, mit dessen Propeller man sich Luft zufächeln kann.«

»Eva«, sagte Lydia drohend.

»Er ist völlig ungefährlich, man kann sich daran nicht wehtun, Ehrenwort.«

»Du kommst nicht zu mir nach Hause«, erklärte Lydia. »Hast du mich verstanden?«

»Heute nicht, das geht nicht, ich wollte zu Marek, ich glaube nämlich, dass er Gesellschaft braucht.«

»Eva, du hast gehört, was ich gesagt habe«, beharrte Lydia.

»Heute Abend komme ich ohnehin nicht dazu«, erwiderte Eva Blau lächelnd.

Lydias Gesicht wurde weiß und angespannt. Sie stand abrupt auf und verließ den Raum. Eva blieb sitzen und sah ihr nach.


Simone war noch nicht gekommen, als man mich zu dem Tisch führte, auf dem ein Zettel mit unserem Namen in einem Glas platziert war. Ich setzte mich und überlegte, ob ich vorab schon einmal einen Drink nehmen sollte. Es war zehn nach sieben. Ich hatte einen Tisch im Restaurant KB reserviert. Ich hatte Geburtstag und war gut gelaunt. Wir kamen in letzter Zeit nur noch selten dazu, zusammen auszugehen, weil sie mit ihrem Galerieprojekt und ich mit meiner Forschung beschäftigt war. Wenn wir einen Abend gemeinsam verbrachten, entschieden wir uns oft dafür, mit Benjamin auf der Couch zu sitzen und mit ihm einen Film zu sehen oder ein Videospiel zu spielen.

Mein Blick schweifte über die Bilderkakophonie an der Wand: schlanke, geheimnisvoll lächelnde Männer und üppige Frauen. Das Wandgemälde war eines Abends nach einer Versammlung des Künstlerverbands in der oberen Etage entstanden. Grünewald, Chatam, Högfeldt, Werkmäster und die anderen großen Modernisten hatten zusammengearbeitet. Simone wusste vermutlich genau, wie es entstanden war, und ich schmunzelte bei dem Gedanken, dass sie mir eine Vorlesung darüber halten würde, wie diese gefeierten Männer ihre Kolleginnen systematisch an den Rand gedrängt hatten.

Es war zwanzig nach sieben, als ich ein Martiniglas mit Wodka, einigen Spritzern Noilly Prat und einer langen Spirale aus Limettenschale bekam. Ich beschloss, noch etwas zu warten, bis ich Simone anrief, und versuchte, mich nicht zu ärgern.

Ich nippte an meinem Drink und machte mir allmählich Sorgen. Widerwillig zog ich mein Handy heraus, wählte Simones Nummer und wartete.

»Simone Bark.«

Sie klang zerstreut, es hallte in der Leitung.

»Sixan, ich bin’s. Wo bist du?«

»Erik? Ich bin in der Galerie. Wir streichen und …«

Es wurde still. Dann hörte ich Simone aufstöhnen.

»Oh nein. Nein. Du musst mir verzeihen, Erik. Ich habe es völlig vergessen. Es ist den ganzen Tag wahnsinnig viel los gewesen, der Klempner und der Elektriker und …«

»Dann bist du noch in der Galerie?«

Ich konnte die Enttäuschung in meiner Stimme nicht verbergen.

»Ja, ich bin über und über mit Gips und Farbe beschmiert …«

»Aber wir wollten doch essen gehen«, sagte ich matt.

»Ich weiß, Erik. Entschuldige. Ich hab es vergessen …«

»Jedenfalls haben wir einen schönen Tisch bekommen«, ergänzte ich sarkastisch.

»Es hat keinen Sinn, dass du auf mich wartest«, seufzte sie, und obwohl ich hörte, wie traurig sie war, konnte ich meine Wut nicht unterdrücken.

»Erik«, flüsterte sie ins Telefon. »Verzeih mir.«

»Ist schon okay«, sagte ich und beendete das Gespräch.

Es hatte keinen Sinn, woanders hinzugehen. Ich war hungrig und befand mich in einem Restaurant. Rasch winkte ich den Kellner zu mir und bestellte als Vorspeise einen Teller mit eingelegten Heringen und ein Bier, als Hauptspeise knusprig gebratene Entenbrust mit gewürfeltem Speck an einer Orangensauce und ein Glas Bordeaux und zum Abschluss einen Gruyère Alpage mit Honig.

»Sie können das andere Gedeck abräumen«, sagte ich dem Kellner, der mir einen mitleidigen Blick zuwarf, als er mir von dem tschechischen Bier einschenkte und Hering und Knäckebrot auf den Tisch stellte.

Ich hätte mir gewünscht, wenigstens meinen Notizblock dabeizuhaben, um beim Essen etwas Nützliches tun zu können.

Plötzlich klingelte mein Handy in der Jacketttasche, und die freudige Vorstellung, dass Simone sich womöglich einen Scherz mit mir erlaubt hatte und im nächsten Moment in der Tür stehen würde, tauchte auf und verschwand augenblicklich wieder wie ein Dunsthauch.

»Erik Maria Bark«, sagte ich und hörte, wie monoton meine Stimme klang.

»Hallo, hier ist Maja Swartling.«

»Maja, hallo«, sagte ich kurz angebunden.

»Ich wollte dich fragen … Oh, es ist ganz schön laut bei dir, passt es gerade nicht?«

»Ich sitze im KB«, antwortete ich. »Ich habe Geburtstag«, ergänzte ich, ohne zu wissen warum.

»Oh, na dann herzlichen Glückwunsch, es scheinen ja einige Leute an deinem Tisch zu sein.«

»Ich bin allein«, erwiderte ich einsilbig.

»Erik … es tut mir leid, dass ich versucht habe, dich zu verführen. Ich schäme mich zu Tode«, beteuerte sie leise.

Ich hörte, dass sie sich am anderen Ende der Leitung räusperte und neutral zu klingen versuchte, als sie weitersprach:

»Ich wollte dich fragen, ob du die Abschrift meines ersten Gesprächs mit dir lesen möchtest. Sie ist fertig, und ich möchte sie bei meinem Betreuer einreichen, aber wenn du sie vorher durchsehen willst, dann …«

»Leg sie mir doch bitte in mein Fach«, sagte ich.

Wir verabschiedeten uns, und ich leerte mein Bierglas, das der Kellner mitnahm, um praktisch sofort mit der Entenbrust und dem Rotwein zurückzukehren.

Ich aß, erfüllt von einer traurigen Leere, und war mir der Mechanik des Kauens und Schluckens und des gedämpften Kratzens meines Bestecks auf dem Teller übertrieben bewusst. Ich trank mein drittes Glas Wein und ließ die Bilder an der Wand zu den Menschen in meiner Therapiegruppe werden. Die korpulente Dame, die genüsslich ihre dunklen Haare im Nacken bündelte, sodass sich ihre üppigen Brüste hoben, war Sibel. Der schlaksige, furchtsame Mann im Anzug war Pierre. Jussi stand hinter einer seltsamen grauen Form versteckt, und Charlotte saß elegant gekleidet und aufrecht an einem runden Tisch mit Marek, der einen kindischen Anzug trug.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort gesessen und die Wandgemälde angestarrt hatte, als ich hinter mir eine atemlose Stimme hörte:

»Gott sei Dank, du bist noch da!«

Es war Maja Swartling.

Sie lächelte breit, umarmte mich, und ich erwiderte ihre Umarmung steif.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Erik.«

Der Geruch ihrer dichten schwarzen Haare stieg mir in die Nase, und irgendwo in ihrem Nacken verbarg sich ein schwacher Duft von Jasmin.

Sie zeigte auf den Stuhl mir gegenüber.

»Darf ich?«

Ich dachte, dass ich sie abweisen und ihr klarmachen sollte, dass ich mir geschworen hatte, mich nicht mehr mir ihr zu treffen. Sie hätte eigentlich wissen müssen, dass es verkehrt war, zu mir zu kommen. Aber ich zögerte, denn ich musste mir trotz allem eingestehen, dass es mich freute, etwas Gesellschaft zu bekommen.

Sie stand neben dem Stuhl und wartete auf eine Antwort.

»Es fällt mir schwer, nein zu sagen, wenn du etwas von mir willst«, antwortete ich und hörte, wie zweideutig das klang. »Ich meine nur …«

Sie setzte sich, winkte den Kellner heran und bestellte ein Glas Wein. Dann sah sie mich pfiffig an und legte eine Schachtel vor meinen Teller.

»Es ist nur eine Kleinigkeit«, bemerkte sie und wurde wieder rot.

»Ein Geschenk?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Nur etwas rein Symbolisches … immerhin weiß ich erst seit zwanzig Minuten, dass du Geburtstag hast.«

Ich öffnete die Schachtel und entdeckte zu meinem Erstaunen einen Gegenstand, der wie ein Minifernglas aussah.

»Das ist eine anatomische Lupe«, erzählte Maja. »Mein Urgroßvater hat sie erfunden. Ehrlich gesagt glaube ich, dass er den Nobelpreis bekommen hat – allerdings nicht für die Lupe. Das war noch zu der Zeit, als nur Schweden und Norweger den Preis verliehen bekamen«, ergänzte sie entschuldigend.

»Eine anatomische Lupe«, wiederholte ich fragend.

»Wie auch immer, sie ist ziemlich niedlich und sehr antik. Es ist ein dummes Geschenk, ich weiß …«

»Jetzt hör aber auf, sie ist …«

Ich sah ihr in die Augen und sah, wie schön sie war.

»Das ist wirklich unglaublich lieb von dir, Maja. Tausend Dank.«

Ich legte die Lupe vorsichtig in die Schachtel zurück und steckte sie in die Tasche.

»Mein Glas ist schon leer«, sagte sie verblüfft. »Sollen wir eine Flasche bestellen?«

Es war schon spät, als wir beschlossen, noch ins Riche in der Nähe des Königlichen Dramatischen Theaters zu gehen. Wir wären beinahe hingefallen, als wir unsere Jacken an der Garderobe aufhängen wollten, weil Maja sich auf mich stützte und ich den Abstand zur Wand falsch einschätzte. Als wir das Gleichgewicht wiedergefunden hatten und dem düsteren, todernsten Gesicht des Garderobiers begegneten, bekam Maja einen solchen Lachanfall, dass ich sie in eine Ecke des Lokals führen musste.

Es war eng und heiß. Wir tranken Gin Tonic, standen dicht beieinander, versuchten uns zu unterhalten und küssten uns plötzlich leidenschaftlich. Ich spürte ihren Hinterkopf gegen die Wand schlagen, als ich mich an sie presste. Die Musik hämmerte, sie sagte etwas in mein Ohr, wiederholte, dass wir zu ihr fahren sollten.

Wir liefen hinaus und setzten uns in ein Taxi.

»Wir wollen bloß in die Roslagsgatan«, sagte sie lallend. »Roslagsgatan 17.«

Der Fahrer nickte und nahm in der Birger Jarls gatan die Taxispur. Es war fast zwei, und es dämmerte schon. Die vorüberflimmernden Häuser waren blassgrau wie Schatten. Maja lehnte sich an mich, und ich dachte, sie wollte ein wenig dösen, als ich spürte, dass ihre Hand meinen Schritt streichelte. Ich bekam augenblicklich eine Erektion, und sie flüsterte »ups« und lachte leise an meinem Hals.

Ich weiß nicht mehr genau, wie wir in ihre Wohnung hinaufkamen. Ich erinnere mich nur, dass ich im Aufzug stand und ihr Gesicht ableckte, Salz und Lippenstift und Puder schmeckte und ganz kurz mein betrunkenes Gesicht im fleckigen Aufzugspiegel sah.

Maja stand im Flur, ließ ihre Jacke zu Boden fallen und streifte ihre Schuhe ab. Sie zog mich zum Bett, half mir beim Ausziehen, schlüpfte aus ihrem Kleid und dem weißen Slip.

»Komm«, flüsterte sie. »Ich will dich in mir spüren.«

Ich legte mich schwer zwischen ihre Schenkel, spürte, dass sie sehr feucht war, und sank einfach in die Wärme ein, die mich fest umschloss. Sie stöhnte in mein Ohr, umarmte mich und bewegte sanft ihre Hüften.

Wir schliefen wenig einfühlsam und betrunken miteinander. Ich wurde mir selbst immer fremder, immer einsamer und stummer. Ich näherte mich dem Orgasmus und dachte, dass ich aus ihr herausgehen sollte, gab stattdessen jedoch einfach einem krampfhaften und raschen Erguss nach. Sie atmete schnell. Ich blieb keuchend liegen, erschlaffte und glitt aus ihr heraus. Mein Herz pochte immer noch heftig. Ich sah, wie sich Majas Lippen zu einem seltsamen Lächeln öffneten, das mich unangenehm berührte.

Mir war schlecht, und ich verstand nicht mehr, was passiert war, was ich getan hatte.

Ich setzte mich neben ihr im Bett auf.

»Was ist?«, fragte sie und streichelte meinen Rücken.

Ich schüttelte ihre Hand ab.

»Hör auf«, sagte ich kurz.

Mein Herz hämmerte angsterfüllt.

»Erik? Ich dachte …«

Sie klang traurig. Ich spürte, dass ich sie nicht ansehen konnte, ich war wütend auf sie. Das Ganze war natürlich mein Fehler. Dennoch wäre es nie dazu gekommen, wenn sie es nicht so darauf angelegt hätte.

»Wir sind nur müde und betrunken«, flüsterte sie.

»Ich muss gehen«, sagte ich mit erstickter Stimme, nahm meine Kleider und taumelte in die Toilette, die sehr klein und voller Cremes, Bürsten und Handtücher war. An zwei Haken hingen ein flauschiger Morgenmantel und ein rosa Rasierapparat an einer dicken weichen Kordel. Ich wagte es nicht, mich im Spiegel zu betrachten, als ich mich an ihrem Waschbecken mit einer hellblauen rosenförmigen Seife wusch und mich anschließend zitternd anzog, wobei ich mit den Ellbogen immer wieder gegen die Wand stieß.

Als ich herauskam, stand sie wartend im Zimmer. Sie hatte sich in das Laken gehüllt und sah sehr jung und besorgt aus.

»Bist du sauer auf mich?«, fragte sie, und ich sah ihre Lippen zittern, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.

»Ich bin sauer auf mich selbst, Maja. Ich hätte nie, niemals …«

»Aber ich wollte es, Erik. Ich bin verliebt in dich, merkst du das nicht?«

Sie versuchte mich anzulächeln, aber ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Du darfst mich jetzt nicht wie den letzen Dreck behandeln«, flüsterte sie und streckte die Hand aus, um mich zu berühren.

Ich entzog mich ihrer Berührung und erklärte herablassender, als ich eigentlich wollte, es sei ein Fehler gewesen.

Sie nickte und senkte den Blick. Ihre Stirn war gerunzelt und traurig. Ich verabschiedete mich nicht, verließ lediglich die Wohnung und schlug die Tür hinter mir zu.

Ich ging den ganzen Weg zum Karolinska-Krankenhaus zu Fuß. Vielleicht würde ich Simone einreden können, dass ich allein sein wollte und in meinem Arbeitszimmer übernachtet hatte.


Am Morgen nahm ich ein Taxi nach Hause. In meinem Körper rumorte angesichts des Alkohols, den ich getrunken hatte und des Ekels über all die dummen Dinge, die ich gesagt hatte, dumpfe Übelkeit. Es durfte einfach nicht wahr sein, dass ich Simone betrogen hatte. Es konnte nicht wahr sein. Maja war schön und witzig, interessierte mich im Grunde aber überhaupt nicht. Wie in aller Welt hatte sie mich so umgarnen können, dass ich mit ihr ins Bett gegangen war?

Ich wusste nicht, wie ich es Simone sagen sollte, aber das musste ich, ich hatte einen Fehler gemacht, so waren die Menschen, aber man konnte einander verzeihen, wenn man redete und erklärte.

Ich dachte, dass ich Simone niemals fallen lassen würde. Ich wäre sicher verletzt, wenn sie mich betröge, aber ich würde ihr verzeihen und sie wegen so etwas nie und nimmer verlassen.

Als ich hereinkam, stand Simone in der Küche und goss Kaffee in eine Tasse. Sie trug ihren fadenscheinigen blassrosa Seidenmorgenmantel. Wir hatten ihn in China gekauft, als Benjamin nur ein Jahr alt war und die beiden mich auf eine Konferenz begleitet hatten.

»Möchtest du einen?«, fragte sie.

»Ja, bitte.«

»Erik, es tut mir wahnsinnig leid, dass ich deinen Geburtstag vergessen habe.«

»Ich habe im Krankenhaus geschlafen«, entgegnete ich und glaubte, dass ihr der verlogene Klang in meiner Stimme nicht verborgen bleiben konnte.

Ihre rotblonden Haare fielen in ihr Gesicht, die blassen Sommersprossen schimmerten matt. Wortlos ging sie ins Schlafzimmer und kehrte mit einem Paket zurück. Ich riss das Papier mit scherzhaftem Eifer herunter.

Es war eine CD-Box von Charlie Parker, die sämtliche Aufnahmen seines einzigen Besuchs in Schweden enthielt: zwei Aufnahmen im Stockholmer Konzerthaus, zwei in Göteborg, ein Konzert im Amiralen in Malmö und eine anschließende Jamsession in der Universität, ein Auftritt im Volkspark von Gävle und schließlich die Session im Jazzclub Nalen in Stockholm.

»Danke«, sagte ich.

»Wie sieht dein Tag aus?«, fragte sie.

»Ich muss zurück zur Arbeit«, antwortete ich.

»Ich dachte, wir könnten heute Abend vielleicht was richtig Leckeres essen.«

»Gern«, sagte ich.

»Es darf nur nicht zu spät werden. Die Maler kommen morgen früh schon um sieben. Warum auch immer. Weshalb müssen die eigentlich immer so früh kommen?«

Ich erkannte, dass sie eine Antwort erwartete, eine Reaktion oder Zustimmung.

»Am Ende muss man doch immer auf sie warten«, murmelte ich.

»Stimmt«, sagte sie lächelnd und trank einen Schluck Kaffee. »Was sollen wir denn kochen? Vielleicht dieses Rezept mit Tournedos in Portwein und Korinthensauce, erinnerst du dich?«

»Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht«, erklärte ich und kämpfte darum, nicht verzweifelt zu klingen.

»Sei mir nicht böse.«

»Das bin ich nicht, Simone.«

Ich versuchte, sie anzulächeln.

Als ich später im Flur die Schuhe angezogen hatte und schon zur Tür gehen wollte, kam Simone aus dem Badezimmer. Sie hielt etwas in der Hand.

»Erik«, sagte sie.

»Ja?«

»Was ist das?«

Sie hielt Majas anatomische Lupe in der Hand.

»Ach so, das Ding. Es ist ein Geschenk«, sagte ich und hörte den schiefen Klang in meiner Stimme.

»Es sieht toll aus. Sehr alt. Von wem hast du es bekommen?«

Ich wandte mich ab, um ihrem Blick nicht begegnen zu müssen.

»Von einem Patienten«, antwortete ich und versuchte, zerstreut zu klingen, während ich so tat, als suchte ich nach meinen Schlüsseln.

Sie lachte verblüfft.

»Ich dachte, Ärzte dürften von ihren Patienten nichts annehmen. Verstößt das nicht gegen die ethischen Regeln?«

»Vielleicht sollte ich es ja zurückgeben«, erwiderte ich und öffnete die Haustür.

Simones Blick brannte in meinem Rücken. Ich hätte mit ihr reden müssen, hatte aber zu viel Angst, sie zu verlieren. Ich traute mich nicht und wusste nicht, wie ich anfangen sollte.

In ein paar Minuten sollte unsere Sitzung beginnen. Im Flur roch es intensiv nach Putzmitteln. Feuchte Ränder schlängelten sich in langen Bahnen, wo der Polierwagen gefahren war. Charlotte holte mich ein, ich hörte ihre Schritte, lange bevor sie mich ansprach.

»Erik«, sagte sie zögernd.

Ich blieb stehen und drehte mich um.

»Schön, dich mal wieder zu sehen.«

»Entschuldige bitte, dass ich einfach so verschwunden bin«, meinte sie.

»Ich habe mich gefragt, wie dir die Hypnose bekommen ist.«

»Ich weiß nicht«, lächelte sie. »Ich weiß nur, dass ich mich diese Woche so froh und sicher gefühlt habe wie seit vielen Jahren nicht mehr.«

»Das hatte ich gehofft.«

Mein Handy klingelte, und ich entschuldigte mich und sah Charlotte um die Ecke verschwinden. Es war Maja. Ich ging nicht dran, drückte ihren Anruf stattdessen einfach weg und sah, dass sie bereits mehrere Male angerufen hatte. Ich konnte mich nicht dazu durchringen, ihre Nachrichten in meiner Mailbox abzuhören, und löschte alle.

Als ich den Therapieraum betreten wollte, wurde ich von Marek daran gehindert. Er versperrte mir den Weg und sah mich mit einem leeren, fremden Lächeln an.

»Wir amüsieren uns gerade ein bisschen«, sagte er.

»Was soll das?«, fragte ich.

»Es ist ein kleines privates Fest.«

Ich hörte durch die Tür jemanden schreien.

»Lass mich rein, Marek«, sagte ich.

Er grinste.

»Aber Herr Doktor, das geht jetzt nicht …«

Ich drängte mich an ihm vorbei, und die Tür schlug auf. Marek verlor das Gleichgewicht, hielt sich an der Klinke fest, landete aber trotzdem auf dem Boden und blieb, ein Bein ausgestreckt, sitzen.

»Das war doch nur ein Scherz«, sagte er. »Das war doch verdammt nochmal nur ein Scherz.«

Die anderen Patienten starrten uns wie gelähmt an. Pierre und Charlotte wirkten besorgt, Lydia warf einen Blick auf uns und wandte mir anschließend den Rücken zu. Eine eigentümliche Stimmung ging von der Gruppe aus. Vor Lydia standen Sibel und Jussi. Sibels Mund stand offen, und es sah aus, als hätte sie Tränen in den Augen.

Marek stand auf und bürstete seine Hose mit der Hand ab.

Ich stellte fest, dass Eva Blau noch nicht gekommen war, ging zum Stativ und begann, die Kamera für die Sitzung vorzubereiten. Ich stellte eine Totale ein, zoomte heran und testete mit Hilfe eines Kopfhörers das Mikrofon. Durch die Kameralinse sah ich Lydia Charlotte anlächeln und hörte sie gleichzeitig fröhlich ausrufen:

»Ja, genau! So ist das immer bei Kindern! Mein Kasper redet über nichts anderes, es dreht sich alles nur um Spiderman.«

»Ich habe auch schon gemerkt, dass im Moment alle ganz verrückt nach ihm sind«, sagte Charlotte lächelnd.

»Kasper hat keinen Vater, sodass Spiderman für ihn vielleicht so etwas wie ein männliches Vorbild ist«, meinte Lydia und lachte so laut, dass der Ton im Kopfhörer verzerrte. »Aber es geht uns gut«, fuhr sie fort. »Wir lachen viel, auch wenn wir in letzter Zeit öfters Krach hatten, weil Kasper auf alles eifersüchtig zu sein scheint, was ich tue. Er will meine Sachen kaputtmachen und hat etwas dagegen, dass ich telefoniere, er hat mein Lieblingsbuch in die Toilette geworfen, er schreit mich an … Ich glaube, dass etwas passiert ist, aber er will mir nicht erzählen, was.«

Charlotte schaute besorgt, Jussi brummte etwas, und Marek gestikulierte ungeduldig zu Pierre hinüber.

Nachdem ich die Kamera eingestellt hatte, ging ich zu meinem Stuhl und setzte mich. Kurz darauf hatten alle ihre Plätze eingenommen.

»Wir machen weiter wie letztes Mal«, sagte ich und lächelte.

»Ich bin dran«, meldete sich Jussi ruhig und begann, von seinem verwunschenen Schloss zu erzählen: seinem Elternhaus oben in Dorotea, im südlichen Lappland. Mit großem Landbesitz in der Nähe von Sutme gelegen, wo die Samen noch bis in die siebziger Jahre hinein in traditionellen Hütten lebten. »Ich wohne ganz in der Nähe eines tiefen Waldsees«, erzählte er. »Das letzte Stück fährt man auf alten Holzfällerwegen. Im Sommer kommen junge Leute und gehen im See schwimmen. Sie finden das mit dem Neck spannend.«

»Dem Neck?«, fragte ich.

»Seit mehr als dreihundert Jahren haben die Leute einen Wassergeist am Waldsee sitzen und Geige spielen sehen.«

»Du nicht?«

»Nein«, lächelte er breit.

»Aber was treibst du denn das ganze Jahr über mitten im Wald?«, erkundigte sich Pierre grinsend.

»Ich kaufe alte Autos und Busse, repariere sie und verkaufe sie weiter, auf meinem Grundstück sieht es aus wie auf einem Schrottplatz.«

»Ist das Haus groß?«, fragte Lydia.

»Nein, aber grün … Mein Alter hat den Kasten mal in einem Sommer neu gestrichen. In einer komischen hellgrünen Farbe. Ich weiß nicht, was er sich dabei gedacht hat, vielleicht hatte er die Farbe ja von jemandem bekommen.«

Er verstummte, und Lydia lächelte ihn an.

An diesem Tag war es schwierig, die Gruppe in die Entspannung zu führen. Vielleicht war ich durch die Sache mit Maja abgelenkt, vielleicht machte ich mir aber auch Sorgen, weil ich viel zu heftig auf Mareks Provokation reagiert hatte. Jedenfalls kam es mir fast so vor, als wäre in der Gruppe etwas vorgefallen, wovon ich nichts wusste. Es bedurfte mehrerer Anläufe, bis ich spürte, dass wir alle in die gähnende Tiefe fielen.

Jussis Unterlippe schob sich vor, die Wangen hingen herab.

»Ich möchte, dass du denkst, du bist auf dem Hochsitz«, sagte ich.

Jussi flüsterte etwas über den Rückstoß an der Schulter, den anhaltenden Schmerz.

»Du bist jetzt auf dem Hochsitz?«, fragte ich.

»Das hohe Gras auf der Wiese ist gefroren«, sagte er leise.

»Schau dich um. Bist du allein?«

»Nein.«

»Wer ist noch da?«

»Am schwarzen Waldrand bewegt sich ein Reh. Es ruft. Sucht nach den Jungtieren.«

»Aber auf dem Hochsitz bist du allein?«

»Ich bin immer allein mit meiner Flinte.«

»Du hast vom Rückschlag gesprochen – hast du schon geschossen?«, fragte ich.

»Geschossen?«

Er machte eine Geste mit dem Kopf, als wollte er eine Richtung anzeigen.

»Ein Tier rührt sich nicht«, sagte er leise, »seit ein paar Stunden schon nicht mehr, aber das andere zappelt noch, immer müder, im blutigen Gras.«

»Was tust du?«

»Ich warte, und es dämmert schon, als ich wieder eine Bewegung am Waldrand sehe. Ich ziele auf einen Huf, überlege es mir dann aber anders und nehme stattdessen ein Ohr ins Visier, die kleine, schwarze Schnauze, das Knie, und jetzt habe ich wieder den Rückstoß gespürt, und ich glaube, ich habe ihm das Bein abgeschossen.«

»Was tust du jetzt?«

Jussi atmete schwer und mit langen Pausen zwischen den Atemzügen.

»Ich kann noch nicht nach Hause gehen«, sagte er schließlich. »Also gehe ich zum Wagen, lege die Flinte auf den Rücksitz und nehme den Spaten mit.«

»Was hast du mit dem Spaten vor?«

Jussi machte eine lange Pause, als dächte er über meine Frage nach. Schließlich antwortete er leise:

»Ich vergrabe die Tiere.«

»Was tust du dann?«, fragte ich.

»Wenn ich fertig bin, ist es dunkel geworden. Ich gehe zum Wagen und trinke Kaffee aus der Thermoskanne.«

»Was machst du, wenn du nach Hause kommst?«

»Ich hänge meine Sachen in der Waschküche auf.«

»Was passiert dann?«

»Ich sitze auf der Bank vor dem Fernseher, und die Flinte liegt auf dem Fußboden. Sie ist geladen, liegt aber ein paar Schritte von mir entfernt vor dem Schaukelstuhl.

»Was tust du, Jussi? Ist außer dir keiner zu Hause?«

»Gunilla ist letztes Jahr weggezogen. Der Alte ist vor fünfzehn Jahren gestorben. Ich bin allein mit meinem Schaukelstuhl und der Flinte.«

»Du sitzt auf der Bank vor dem Fernseher«, sagte ich.

»Ja.«

»Passiert jetzt etwas?«

»Jetzt ist sie auf mich gerichtet.«

»Was?«, hakte ich nach.

»Die Flinte.«

»Die auf dem Fußboden liegt?«

Er nickte und wartete. Ein strenger Zug legte sich um seinen Mund.

»Der Schaukelstuhl knarrt«, sagte er. »Er knarrt, lässt mich aber diesmal in Ruhe.«

Plötzlich war Jussis schweres Gesicht wieder weich, aber sein Blick war weiterhin sehr glasig, abwesend und nach innen gekehrt.

Es wurde Zeit für eine Pause. Ich hob sie aus der Hypnose und wechselte ein paar Worte mit jedem von ihnen. Jussi murmelte etwas über eine Spinne und verstummte anschließend. Ich ging auf die Toilette. Sibel verschwand zum Raucherzimmer, und Jussi stellte sich wie üblich ans Fenster. Als ich zurückkam, hatte Lydia Safrankekse herausgeholt, die sie allen anbot.

»Das sind Bioplätzchen«, sagte sie und forderte Marek mit einer Geste auf, sich noch einmal zu bedienen.

Charlotte lächelte und knabberte den Rand an.

»Hast du die selbst gebacken?«, erkundigte sich Jussi mit einem unerwarteten Lächeln, das seinem schweren, markanten Gesicht einen schönen Glanz verlieh.

»Ich wäre fast nicht dazu gekommen«, antwortete Lydia und schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich bin auf dem Spielplatz in einen Streit geraten.«

Sibel kicherte laut und aß ihren Keks in zwei großen Bissen.

»Es ging um Kasper. Als ich heute Morgen wie üblich zum Spielplatz ging, kam eine andere Mutter zu mir und erzählte, Kasper hätte ihre Tochter mit einem Spaten auf den Rücken geschlagen.«

»Shit«, flüsterte Marek.

»Als ich das gehört habe, wurde mir ganz kalt«, meinte Lydia.

»Wie verhält man sich in einer solchen Situation?«, fragte Charlotte höflich.

Marek nahm sich noch einen Keks und lauschte Lydia mit einem Gesichtsausdruck, der mich überlegen ließ, ob er verliebt in sie war.

»Ich weiß auch nicht, ich habe der Mutter gesagt, dass ich die Sache sehr ernst nehme, tja, ich war wirklich ziemlich aufgewühlt. Aber dann meinte sie, das sei doch alles halb so wild, sie glaube ohnehin nicht, dass es Absicht gewesen sei.«

»Natürlich nicht«, sagte Charlotte. »Die Kinder spielen eben immer so wüst.«

»Aber ich habe ihr versprochen, mit Kasper darüber zu reden und der Sache nachzugehen«, fuhr Lydia fort.

»Gut«, nickte Jussi.

»Sie meinte, Kasper scheine wirklich ein ganz süßer Junge zu sein«, erzählte Lydia lächelnd.

Ich setzte mich, blätterte in meinem Notizbuch und wollte möglichst schnell mit der Hypnose weitermachen. Lydia war wieder an der Reihe.

Sie begegnete meinem Blick und lächelte zurückhaltend. Alle waren still, erwartungsvoll, und ich begann meine Arbeit. Unsere Atemzüge vibrierten im Raum. Eine dunkle, immer dichtere Stille begleitete unsere Herzschläge. Wir sanken mit jedem Ausatmen. Nach der Induktion führten meine Worte sie abwärts, und nach einer Weile wandte ich mich Lydia zu:

»Du gehst tiefer und sinkst vorsichtig, du bist sehr entspannt, deine Arme sind schwer, deine Beine sind schwer, und deine Lider sind schwer. Du atmest langsam und lauschst meinen Worten, ohne Gegenfragen zu stellen. Meine Worte umhüllen dich, du fühlst dich sicher und bist folgsam: Lydia, du befindest dich in diesem Moment ganz nah an dem, woran du nicht denken willst, worüber du niemals sprichst, wovon du dich abwendest, von dem, was immer neben dem warmen Licht im Verborgenen liegt.«

»Ja«, antwortete sie seufzend.

»Du bist jetzt dort«, sagte ich.

»Ich bin ganz nah.«

»Wo bist du in diesem Moment, wo befindest du dich?«

»Zu Hause.«

»Wie alt bist du?«

»Siebenunddreißig.«

Ich betrachtete sie. Spiegelungen und Reflexe zogen über ihre hohe glatte Stirn, den kleinen aparten Mund und ihre beinahe kränklich blasse Haut. Ich wusste, dass sie zwei Wochen zuvor siebenunddreißig geworden war. Sie war also nicht weit in die Vergangenheit eingetaucht wie die anderen, sondern nur ein paar Tage.

»Was geschieht? Was ist nicht in Ordnung?«, fragte ich.

»Das Telefon …«

»Was ist mit dem Telefon?«

»Es klingelt, es klingelt noch einmal, ich hebe den Hörer ab und lege gleich wieder auf.«

»Du kannst ganz ruhig sein, Lydia.«

Sie wirkte müde, vielleicht auch bekümmert.

»Ich warte einen Moment, öffne die Lamellen der Jalousie und blicke auf die Straße hinaus. Es ist keiner da, es ist nichts zu hören. Ich setze mich an den Küchentisch und esse einen Toast mit Butter, habe aber keinen Appetit. Ich geh wieder in den Partykeller hinunter, wo es wie immer kühl ist, sitze auf der alten Ledercouch und schließe die Augen. Ich muss mich sammeln, muss Kraft schöpfen.«

Sie verstummte. Seegras fiel und geriet zwischen uns.

»Warum musst du Kraft schöpfen?«, fragte ich.

»Um auf… um aufstehen zu können und an der roten Reislampe und dem Tablett mit Duftkerzen und geschliffenen Steinen vorbeigehen zu können. Die Bodendielen geben unter dem Kunststoffboden nach und knarren …«

»Ist dort jemand?«, fragte ich Lydia leise, bereute es aber sofort.

»Ich nehme den Stock, drücke die Luftblase im Fußboden herunter, um die Tür öffnen zu können, atme ruhig, gehe hinein und mache das Licht an«, sagte sie. »Kasper blinzelt ins Licht, bleibt aber liegen. Er hat in den Eimer gepinkelt. Es riecht durchdringend. Er hat den hellblauen Schlafanzug an. Er atmet schnell. Ich stupse ihn durch das Gitter mit dem Stock an. Er wimmert, rückt ein bisschen weg und setzt sich im Käfig auf. Ich frage ihn, ob er es sich anders überlegt hat, und er nickt eifrig. Ich schiebe ihm den Teller mit Essen hinein. Die Kabeljaustücke sind verschrumpelt und dunkel. Er kriecht hin und isst, und ich freue mich und will gerade sagen, wie toll ich es finde, dass wir uns so gut verstehen, als er sich auf die Matratze übergibt.«

Lydias Gesicht verzog sich zu einer gequälten Grimasse.

»Dabei hatte ich geglaubt, dass …«

Ihre Lippen waren angespannt, die Wundwinkel gingen nach unten.

»Ich dachte, das hätten wir hinter uns, aber …«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich kapiere nur nicht …«

Sie leckte sich die Lippen.

»Verstehst du, wie ich mich dabei fühle? Tust du das? Er sagt Entschuldigung. Ich wiederhole, dass morgen Sonntag ist, schlage mir selbst ins Gesicht und schreie ihn an, dass er mich ansehen soll.«

Charlotte betrachtete Lydia im Wasser mit ängstlichen Augen.

»Lydia«, sagte ich, »du wirst jetzt den Keller verlassen, ohne Angst zu haben oder wütend zu sein, du wirst ruhig und gefasst sein. Ich werde dich langsam aus dieser tiefen Entspannung heben, zur Oberfläche führen, zur Klarheit, und wir werden darüber sprechen, was du gerade erzählt hast, nur du und ich, ehe ich die anderen aus der Hypnose hebe.«

Sie knurrte leise, müde.

»Lydia, hörst zu mir zu?«

Sie nickte.

»Ich werde rückwärts zählen, und wenn ich zur Eins komme, öffnest du die Augen und bist ganz wach und bei vollem Bewusstsein, zehn, neun, acht, sieben, du steigst sanft zur Oberfläche, dein Körper ist vollkommen entspannt und fühlt sich wohl, sieben, sechs, fünf, vier, du wirst bald die Augen öffnen, aber du bleibst auf deinem Stuhl sitzen, drei, zwei, eins … jetzt öffnest du die Augen und bist hellwach …«

Unsere Blicke begegneten sich. Lydias Gesicht hatte etwas Eingetrocknetes bekommen. Damit hatte ich beim besten Willen nicht gerechnet. Bei dem Gedanken an das, was sie erzählt hatte, lief es mir immer noch eiskalt den Rücken herunter. Kein Zweifel, in diesem Fall galt meine ärztliche Schweigepflicht nicht mehr, weil ein Dritter in Gefahr war.

»Lydia«, sagte ich. »Ist dir bewusst, dass ich das Jugendamt einschalten muss?«

»Und warum?«

»Was du erzählt hast, zwingt mich dazu.«

»Inwiefern?«

»Begreifst du das nicht?«

Lydia zog ihre Lippen zurück.

»Ich habe nichts gesagt.«

»Du hast beschrieben, wie du …«

»Halt die Schnauze«, fuhr sie mir ins Wort. »Du kennst mich nicht, du hast nichts mit mir zu schaffen, du hast nicht das Recht, dich in Dinge einzumischen, die ich in meinen eigenen vier Wänden tue.«

»Ich habe den Verdacht, dass du dein Kind …«

»Du hältst jetzt gefälligst dein Maul«, schrie sie und verließ den Raum.


Ich hatte hundert Meter von Lydias großem Holzhaus am Tennisvägen im Vorort Rotebro entfernt neben einer hohen Fichtenhecke geparkt. Meine Anzeige war zwar skeptisch aufgenommen worden, hatte jedoch selbstverständlich zu Ermittlungen geführt.

Ein roter Toyota fuhr an mir vorbei und hielt vor dem Haus. Ich stieg aus dem Wagen, ging zu der kleinen untersetzten Frau und grüßte sie.

Aus dem Briefeinwurf ragten nasse Werbeprospekte eines Bau- und eines Elektromarkts heraus. Das niedrige Gartentor stand offen. Wir gingen den Weg zum Haus hinauf. Mir fiel auf, dass es in dem vernachlässigten Garten keine Spielsachen gab. Keinen Sandkasten, keine Schaukel in dem alten Apfelbaum, kein Fahrrad mit Stützrädern in der Auffahrt. Ich glaubte, hinter der gelben, undurchsichtigen Fensterscheibe eine Bewegung wahrzunehmen. Die Sozialarbeiterin klingelte. Wir warteten, aber es passierte nichts. Sie gähnte und sah auf die Uhr, klingelte erneut und legte anschließend die Hand auf die Klinke. Die Tür war nicht abgeschlossen. Sie öffnete, und wir blickten in einen kleinen Flur.

»Hallo?«, rief die Sozialarbeiterin. »Lydia?«

Wir gingen hinein, zogen die Schuhe aus und gelangten durch eine Tür in einen Flur mit rosa Tapeten und Bildern von meditierenden Menschen an den Wänden, deren Köpfe von einer hellen Lichtaura umgeben waren. Neben einem kleinen Tisch lag ein rosa Telefon auf dem Fußboden.

»Lydia?«

Ich öffnete eine Tür und sah eine schmale Treppe, die in den Keller führte.

»Es ist hier unten«, sagte ich.

Die Sozialarbeiterin folgte mir die Treppe hinunter in einen Partykeller mit einer alten Ledercouch und einem Tisch, dessen Platte aus braunen Kacheln bestand. Auf einem Tablett standen zwischen geschliffenen Steinen und Glasstücken einige Duftkerzen. Eine dunkelrote Reislampe mit chinesischen Zeichen hing von der Decke herab.

Mit pochendem Herzen versuchte ich, die Tür zu dem zweiten Raum zu öffnen, aber sie blieb an einer großen Blase im Boden hängen. Ich drückte die Blase mit dem Fuß herab und ging hinein, sah aber keinen Käfig. Mitten im Raum stand stattdessen ein Fahrrad mit ausgebautem Vorderrad aufgebockt. Neben einer blauen Plastikkiste lag Flickzeug. Gummistücke, Kleber, Ratsche. Ein glänzender Haken war unter den Rand des Mantels gekeilt und gegen die Speichen gespannt worden. Plötzlich knarrte es in der Decke, und wir begriffen, dass jemand durch das Zimmer über uns ging. Wortlos eilten wir die Treppe hinauf. Die Tür zur Küche stand einen Spaltbreit offen. Auf dem gelben Linoleumboden lagen Brotscheiben und Krümel.

»Hallo?«, rief die Sozialarbeiterin.

Ich ging hinein und sah, dass die Kühlschranktür offen stand. Im bleichen Licht der Lampe stand Lydia mit gesenktem Blick. Es dauerte einige Sekunden, bis ich das Messer in ihrer Hand entdeckte. Es war ein langes, gezahntes Brotmesser. Ihr Arm hing schlaff herab. Die Klinge schimmerte zitternd neben ihrem Oberschenkel.

»Du darfst hier nicht sein«, flüsterte sie und sah mich plötzlich an.

»Okay«, sagte ich und zog mich rückwärts zur Tür zurück.

»Wollen wir uns nicht setzen und uns ein bisschen unterhalten?«, fragte die Sozialarbeiterin neutral.

Ich öffnete die Tür zum Flur und sah Lydia langsam näher kommen.

»Erik«, sagte sie.

Als ich die Tür zuziehen wollte, lief Lydia auf mich zu. Ich rannte durch den Flur zur Haustür, aber sie war abgeschlossen. Lydias schnelle Schritte kamen näher. Ein wimmernder Ton drang aus ihrer Richtung zu mir. Ich riss eine andere Tür auf und stolperte in ein Wohnzimmer. Lydia folgte mir. Ich stieß gegen einen Sessel und lief zur Balkontür, aber die Klinke ließ sich nicht herunterdrücken. Lydia lief mit dem Messer auf mich zu, und ich suchte Schutz hinter dem Esstisch, sie folgte mir, und ich lief um ihn herum und wich zurück.

»Das ist deine Schuld«, sagte sie.

Die Sozialarbeiterin kam ins Zimmer gelaufen. Sie war völlig außer Atem.

»Lydia«, sagte sie streng. »Du hörst jetzt sofort mit diesem Unsinn auf.«

»Das ist alles seine Schuld«, erklärte Lydia.

»Wie meinst du das?«, fragte ich. »Was ist meine Schuld?«

»Das«, antwortete Lydia und zog das Messer über ihren Hals.

Als das Blut auf ihre Schürze und die nackten Füße spritzte, sah sie mir in die Augen. Ihr Mund zitterte. Das Messer fiel zu Boden. Eine Hand suchte tastend nach Halt. Sie sank zu Boden und blieb auf einer Hüfte sitzen wie eine Meerjungfrau.


Annika Lorentzon lächelte befangen. Rainer Milch streckte sich über den Tisch und schenkte sich ein Glas Mineralwasser mit zischender Kohlensäure ein. Sein Manschettenknopf funkelte königsblau und golden.

»Dir dürfte klar sein, warum wir möglichst schnell mit dir sprechen wollten«, sagte Peder Mälarstedt und zog seine Krawatte gerade.

Ich betrachtete die Akte, die sie mir übergeben hatten und in der stand, dass Lydia mich angezeigt hatte. Sie behauptete, ich hätte sie dadurch zu ihrem Selbstmordversuch getrieben, dass ich sie bedrängt hätte, Dinge zu gestehen, die völlig aus der Luft gegriffen waren. Sie klagte mich an, sie als Versuchskaninchen missbraucht und während der Tiefenhypnose falsche Erinnerungen in ihr Gehirn eingespeist zu haben. Darüber hinaus hätte ich sie von Anfang an vor den Augen der anderen rücksichtslos und zynisch schikaniert, bis sie völlig fertig war.

Ich blickte von den Papieren auf.

»Soll das ein Witz sein?«

Annika Lorentzon sah fort. Holsteins Mund stand offen, und sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos, als er sagte:

»Sie ist deine Patientin, und das sind schwerwiegende Anschuldigungen.«

»Aber das sind doch ganz offensichtlich Lügen«, erwiderte ich aufgebracht. »Es ist völlig unmöglich, während einer Hypnose Erinnerungen in ein Gehirn einzuspeisen, ich kann Menschen zu Erinnerungen hinführen, aber mich nicht für sie erinnern … Es ist wie eine Tür, ich führe sie zu Türen, aber ich kann diese Türen nicht öffnen.«

Rainer Milch sah mich ernst an.

»Der bloße Verdacht könnte deine ganze Forschung zunichtemachen, Erik, du verstehst doch sicher, wie ernst die Sache ist.«

Ich schüttelte gereizt den Kopf.

»Sie hat mir etwas über ihren Sohn erzählt, und ich fand es so gravierend, dass ich mich gezwungen sah, das Jugendamt einzuschalten. Aber dass sie so reagieren würde, war …«

Ronny Johansson unterbrach mich abrupt:

»Aber sie hat doch gar keine Kinder, das steht hier schwarz auf weiß.«

Er klopfte mit dem Mittelfinger auf die Akte. Ich schnaubte laut, woraufhin Annika Lorentzon mir einen seltsamen Blick zuwarf.

»Erik, es gereicht deiner Sache sicher nicht zum Vorteil, wenn du dich in der momentanen Lage arrogant verhältst«, sagte sie leise.

»Aber wenn jemand einen Haufen Lügen über mich verbreitet?«, sagte ich wütend grinsend.

Sie lehnte sich über den Tisch.

»Erik«, sagte sie langsam. »Sie hat niemals Kinder gehabt.«

»Sie hat keine Kinder?«

»Nein.«

Es wurde still im Raum.

Ich sah die Blasen im Mineralwasser an die Oberfläche steigen.

»Ich begreife das nicht, sie wohnt noch in ihrem Elternhaus«, versuchte ich, es ihnen möglichst ruhig zu erklären. »Alle Details stimmten, ich kann einfach nicht glauben, dass …«

»Du magst es zwar nicht glauben«, unterbrach Milch mich. »Aber du hast dich geirrt.«

»Wenn sie unter Hypnose stehen, können sie nicht lügen.«

»War sie vielleicht gar nicht hypnotisiert?«

»Doch, das war sie, das merke ich, das Gesicht verändert sich.«

»Das spielt im Übrigen auch keine Rolle mehr, der Schaden ist da.

»Wenn sie keine Kinder hat, ich weiß nicht«, fuhr ich fort. »Vielleicht hat sie dann über sich gesprochen, ich habe so etwas zwar noch nie erlebt, aber vielleicht hat sie auf die Art eine eigene Kindheitserinnerung verarbeitet.«

Annika unterbrach mich:

»Das mag ja alles sein, aber Tatsache bleibt, dass deine Pa­tientin einen schwerwiegenden Selbstmordversuch unternommen hat, für den sie dich verantwortlich macht. Wir schlagen vor, dass du dich beurlauben lässt, solange wir die Vorwürfe unter­suchen.«

Sie lächelte mich blass an.

»Das wird schon wieder, Erik, da bin ich mir sicher«, sagte sie sanft. »Aber im Moment musst du dich heraushalten, bis wir alles überprüft haben. Wir können es uns nicht leisten, dass die Presse sich auf die Sache stürzt.«

Ich dachte an meine anderen Patienten, an Charlotte, Marek, Jussi, Sibel, Pierre und Eva. Sie waren Menschen, die ich nicht von heute auf morgen fallen lassen konnte, sie würden sich verraten, hintergangen fühlen.

»Ich kann nicht«, sagte ich leise. »Ich habe nichts falsch gemacht.«

Annika tätschelte meine Hand.

»Das wird schon wieder. Lydia Evers ist ganz offensichtlich labil und verwirrt, aber das Wichtigste ist jetzt, dass wir uns an die Vorschriften halten. Du lässt dich von deiner Arbeit als Hypnosetherapeut beurlauben, während wir eine interne Untersuchung der Vorfälle durchführen. Ich weiß, dass du ein guter Arzt bist, Erik, und bin mir wirklich sicher, dass du schon bald wieder mit deiner Gruppe arbeiten können wirst, vielleicht sogar schon …«, sie zuckte mit den Schultern, »vielleicht schon in einem halben Jahr.«

»In einem halben Jahr?«

Empört richtete ich mich auf.

»Ich habe Patienten, sie verlassen sich auf mich. Ich kann sie nicht einfach im Stich lassen.«

Annikas sanftes Lächeln verschwand, als hätte man eine Kerze ausgepustet. Ihr Gesicht wurde streng, und ihre Stimme klang gereizt:

»Deine Patientin verlangt, dass deine Tätigkeit mit sofortiger Wirkung verboten wird. Darüber hinaus hat sie dich angezeigt. Das können wir nicht einfach auf die leichte Schulter nehmen, wir haben in deine Arbeit investiert, und falls sich herausstellen sollte, dass deine Forschung nicht unseren Maßstäben genügt, werden wir Maßnahmen ergreifen müssen.«

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, und hatte große Lust, über das Ganze einfach zu lachen.

»Das ist absurd«, war das Einzige, was ich herausbrachte.

Dann drehte ich mich um und wollte gehen.

»Erik«, rief Annika mir hinterher. »Begreifst du denn nicht, dass du eine gute Chance hast?«

Ich hielt inne.

»Aber ihr könnt diesen Bockmist über eingespeiste Erinnerungen doch nicht etwa glauben?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Das ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass wir uns an die Vorschriften halten. Du lässt dich von deiner Tätigkeit als Hypnotiseur beurlauben, sieh es als ein Vergleichsangebot. Du kannst deine Forschung weiterführen und in Ruhe arbeiten, solange du nicht mit Hypnose therapierst, während wir unsere Ermittlungen durchführen …«

»Was willst du mir eigentlich sagen? Ich kann doch nichts gestehen, was nicht der Wahrheit entspricht.«

»Das verlange ich auch nicht.«

»So klingt es aber. Wenn ich mich beurlauben lasse, sieht es doch so aus, als würde ich meine Schuld eingestehen.«

»Sag, dass du dich beurlauben lassen möchtest«, befahl sie streng.

»Das ist verdammt nochmal idiotisch«, sagte ich lachend und verließ den Raum.


Es war später Nachmittag. Nach einem kurzen Schauer glänzte die Sonne in den Wasserpfützen, es roch nach Wald, nasser Erde und morschen Wurzeln, als ich um den See lief und über Lydias Handlungsweise nachdachte. Ich war nach wie vor überzeugt, dass sie während der Hypnose die Wahrheit gesagt hatte – wusste aber nicht mehr, in welchem Sinne. Welche Wahrheit hatte sie eigentlich ausgesprochen? Wahrscheinlich hatte sie eine reale, konkrete Erinnerung ausgesprochen, diese jedoch an einen falschen Zeitpunkt verlegt. In der Hypnose ist es noch offensichtlicher, dass die Vergangenheit nicht vergangen ist, wiederholte ich innerlich.

Ich füllte meine Lunge mit kühler, frischer Vorsommerluft und spurtete das letzte Stück durch den Wald nach Hause. Als ich auf unsere Straße kam, sah ich vor unserer Auffahrt ein großes schwarzes Auto parken. Zwei Männer warteten rastlos vor dem Wagen. Der eine spiegelte sich im glänzenden Autolack, während er mit fahrigen Bewegungen eine Zigarette rauchte. Der andere fotografierte unser Haus. Sie hatten mich noch nicht gesehen. Ich wurde langsamer und überlegte, ob ich kehrtmachen sollte, als sie mich im selben Moment entdeckten. Der Mann mit der Zigarette trat schnell die Kippe mit dem Fuß aus, der andere richtete blitzschnell die Kamera auf mich. Als sie auf mich zukamen, war ich immer noch außer Atem.

»Erik Maria Bark?«, fragte der Mann, der zuvor geraucht hatte.

»Was wollen Sie?«

»Wir sind von der Zeitung Expressen

»Expressen

»Yes, wir würden Ihnen gerne ein paar Fragen zu einer Ihrer Patientinnen stellen …«

Ich schüttelte den Kopf.

»Über meine Patienten spreche ich nicht mit Außenstehenden.«

»Nicht?«

Der Blick des Mannes glitt über mein erhitztes Gesicht, meinen schwarzen Laufsweater, die weite Hose und die Zipfelmütze. Ich hörte den Fotografen hinter ihm hüsteln. Ein Vogel schoss über uns hinweg, sein Körper segelte in einem perfekten Bogen, der sich im Autodach spiegelte. Ich sah, dass sich über dem Wald der Himmel verfinsterte. Vielleicht würde es am Abend mehr Regen geben.

»In der morgigen Ausgabe wird ein Interview mit Ihrer Patientin stehen. Sie sagt ziemlich üble Dinge über Sie«, bemerkte der Journalist kurz.

Ich begegnete seinem Blick. Er hatte ein recht sympathisches Gesicht. Ein Mann mittleren Alters, leicht übergewichtig.

»Sie haben die Chance, darauf zu reagieren«, ergänzte er leise.

Die Fenster im Haus waren dunkel. Simone war bestimmt in der Stadt, in den Räumen ihrer Galerie. Benjamin war noch in der Vorschule.

Ich lächelte den Mann an, und er sagte aufrichtig:

»Sonst wird ihre Version unwidersprochen in den Druck gehen.«

»Es würde mir nicht einmal im Traum einfallen, mich öffentlich über eine Patientin zu äußern«, erklärte ich langsam, ging an den beiden Männern vorbei zur Auffahrt, schloss die Haustür auf, ging hinein, blieb im Flur stehen und hörte sie davonfahren.

Am nächsten Morgen klingelte das Telefon bereits gegen halb sieben. Es war Annika Lorentzon.

»Erik, Erik«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Hast du die Zeitung gelesen?«

Simone setzte sich neben mir im Bett auf und warf mir einen besorgten Blick zu. Ich machte eine abwehrende Geste und ging in den Flur.

»Wenn es um ihre Anschuldigungen geht, wird ja wohl jedem klar sein, dass sie lügt und …«

»Nein«, unterbrach sie mich gellend. »Das ist nicht jedem klar. Viele sehen sie als einen wehrlosen, schwachen und verletzlichen Menschen, als eine Frau, die in die Klauen eines ausgesprochen manipulativen und unseriösen Arztes geraten ist. Der Mann, dem sie wie keinem anderen vertraut hat, dem sie sich anvertraut hat, dieser Mann hat sie verraten und ausgenutzt. So steht es in der Zeitung.«

Ich hörte sie im Hörer heftig atmen. Als sie weitersprach, klang sie heiser und müde.

»Dir muss doch klar sein, dass die Sache unserer gesamten Einrichtung schadet.«

»Ich schreibe eine Gegendarstellung«, erklärte ich kurz.

»Das reicht nicht, Erik. Ich fürchte, das wird nicht reichen.«

Sie machte eine kurze Pause und sagte dann mit tonloser Stimme:

»Sie will uns verklagen.«

»Damit kommt sie nicht durch«, schnaubte ich.

»Erik, du kapierst immer noch nicht, wie ernst das ist, oder?«

»Was sagt sie denn?«

»Ich schlage vor, du kaufst dir die Zeitung. Anschließend solltest du dich in Ruhe hinsetzen und dir überlegen, wie du darauf reagieren möchtest. Der Vorstand erwartet dich heute um 16 Uhr.«

Als ich mein Gesicht auf der Titelseite sah, hatte ich das Gefühl, meine Herzschläge würden sich verlangsamen. Es war eine Nahaufnahme von mir in Zipfelmütze und Sweater, mein Gesicht war rot angelaufen, und ich sah fast schon apathisch aus. Ich stieg auf wackligen Beinen vom Fahrrad, kaufte die Zeitung und kehrte heim. Der Mittelteil des Blatts wurde von einem gepixelten Foto Lydias geziert, die zusammengekauert mit einem Teddybär im Arm saß. Der gesamte Artikel kreiste darum, dass ich, Erik Maria Bark, sie hypnotisiert und als Versuchskaninchen benutzt und mit der Behauptung verfolgt hatte, sie habe ein Kind misshandelt. Dem Reporter zufolge hatte sie geweint und erklärt, Schmerzensgeld interessiere sie nicht, da Geld niemals wiedergutmachen könne, was ich ihr angetan habe. Sie sei völlig verzweifelt gewesen und habe Dinge gestanden, die ich ihr in den Mund gelegt hatte, als sie unter Hypnose stand. Der unrühmliche Höhepunkt meiner Verfolgungen sei erreicht worden, als ich in ihr Haus gestürmt sei und sie aufgefordert hätte, Selbstmord zu begehen. Sie habe einfach nur sterben wollen, behauptete sie, sie sei sich vorgekommen wie ein Mitglied einer Sekte, deren Anführer ich war. Sie habe keinen eigenen Willen mehr gehabt. Erst im Krankenhaus habe sie es gewagt, meine Methoden in Frage zu stellen. Nun verlangte sie, dass mir nie wieder die Chance gegeben werden dürfe, andere Menschen so zu behandeln.

Auf der nächsten Seite folgte ein Bild von Marek. Er gab Lydia Recht und erklärte, meine Vorgehensweise sei lebensgefährlich. Ich sei besessen davon, kranke Dinge zu erfinden, die meine Patienten dann unter Hynose gestehen müssten.

Weiter unten auf derselben Seite hatte sich der Experte Göran Sörensen geäußert. Ich hatte von dem Mann noch nie gehört. Jedenfalls verwarf er meine gesamte Forschungsarbeit, setzte Hypnose auf eine Stufe mit spiritistischen Sitzungen und deutete an, dass ich meine Patienten vermutlich unter Drogen setzte, damit sie mir zu Willen waren.

In meinem Kopf wurde es still. Ich hörte die Uhr an der Küchenwand ticken, hörte das Rauschen des einen oder anderen Autos, das auf der Straße vorbeifuhr. Die Tür ging auf, und Simone kam herein. Als sie die Zeitung las, wurde sie leichenblass.

»Was geht hier vor?«, flüsterte sie.

»Ich weiß es nicht«, sagte ich und spürte, dass mein Mund ganz ausgedörrt war. Ich saß da und starrte ins Leere. Und wenn meine Theorien nun wirklich falsch waren? Was war, wenn die Hypnose bei schwer traumatisierten Menschen keine Wirkung zeigte? War es wirklich möglich, dass mein Wille, Muster zu finden, ihre Erinnerungen beeinflusst hatte? Ich glaubte nicht, dass Lydia unter Hypnose ein Kind sehen konnte, das es nicht gab. Ich war der festen Überzeugung gewesen, dass sie eine wahre Erinnerung beschrieben hatte, aber jetzt war ich verwirrt.

Es war merkwürdig, die kurze Wegstrecke vom Eingang bis zu dem Aufzug zurückzulegen, der mich zu Annika Lorentzons Büro bringen würde. Keiner der Angestellten wollte mir in die Augen sehen. Wenn ich an Leuten vorbeikam, die ich kannte und regelmäßig sah, wirkten sie gestresst und bedrückt, wandten sich ab und eilten davon.

Sogar der Geruch im Aufzug war fremd. Es roch nach welken Blumen, und ich musste an Beerdigungen, Regen, Abschied denken.

Als ich aus dem Aufzug kam, huschte Maja Swartling an mir vorbei. Sie beachtete mich nicht. Im Türrahmen zu Annika Lorentzons Büro stand Rainer Milch und erwartete mich. Er machte Platz, und ich ging hinein und begrüßte alle.

»Erik, Erik, setz dich«, sagte Rainer.

»Danke, ich stehe lieber«, erwiderte ich kurz, überlegte es mir dann jedoch anders. Ich fragte mich immer noch, was um Himmels willen Maja beim Vorstand zu suchen hatte. War sie vielleicht vorstellig geworden, um mich in Schutz zu nehmen? Immerhin war sie eine der wenigen, die über wirklich fundierte Kenntnisse meiner Forschung verfügten.

Annika Lorentzon stand am anderen Ende des Raums am Fenster. Ich dachte, dass es ausgesprochen unhöflich und merkwürdig von ihr war, mich nicht zu begrüßen. Stattdessen stand sie dort, hatte die Arme um sich geschlungen und starrte verbissen aus dem Fenster.

»Wir haben dir eine große Chance gegeben«, sagte Peder Mälarstedt.

Rainer Milch nickte.

»Aber du hast dich geweigert, sie zu ergreifen«, sagte er. »Du hast es abgelehnt, für die Zeit der Untersuchung freiwillig aus der Schusslinie zu gehen.«

»Ich kann meine Meinung immer noch ändern«, sagte ich leise. »Ich kann …«

»Dazu ist es jetzt zu spät«, unterbrach er mich. »Damit hätten wir uns vorgestern verteidigen können, heute wäre es einfach nur lächerlich.«

Annika Lorentzon öffnete den Mund.

»Ich …«, sagte sie schwach, ohne sich zu mir umzudrehen. »Ich werde heute in den Abendnachrichten interviewt und muss erklären, warum wir dir freie Hand gegeben haben.«

»Aber ich habe doch nichts falsch gemacht«, sagte ich. »Dass eine Patientin unbegründete Anschuldigungen erhebt, kann doch nicht die Ergebnisse jahrelanger Forschung in Frage stellen, unzählige Behandlungen, die wirklich immer über jeden Zweifel erhaben gewesen sind …«

»Es geht nicht nur um eine Patientin«, unterbrach mich Rainer Milch. »Es geht um mehrere. Außerdem haben wir inzwischen gehört, wie sich ein Experte über deine Forschung äußert und …«

Er schüttelte den Kopf und verstummte.

»Meinst du diesen Göran Svensson oder wie der hieß?«, fragte ich gereizt. »Von dem habe ich noch nie gehört, und er hat ganz offensichtlich keine Ahnung.«

»Wir haben eine Kontaktperson, die sich jahrelang mit deiner Arbeit auseinandergesetzt hat«, erläuterte Rainer Milch und kratzte sich am Hals. »Sie sagt, du willst sehr viel, aber fast alle deiner Thesen sind Luftschlösser. Du hast keine Beweise, und um Recht zu bekommen, ignorierst du, was für das Wohl der Patienten am besten wäre.«

Ich war sprachlos.

»Wie heißt euer Experte? Oder ist es etwa eine Expertin?«, fragte ich schließlich.

Sie antworteten nicht.

»Heißt sie möglicherweise Maja Swartling?«

Annika Lorentzons Gesicht lief rot an.

»Erik«, sagte sie und drehte sich endlich zu mir um. »Du bist mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert. Ich will dich in meinem Krankenhaus nicht mehr sehen.«

»Aber was ist mit meinen Patienten, ich muss mich darum kümmern, dass …«

»Sie werden von anderen Kliniken übernommen«, unterbrach sie mich.

»Aber es wird ihnen schlechter gehen, wenn sie …«

»Das ist dann leider Gottes deine Schuld«, sagte sie mit erhobener Stimme.

Es wurde still im Raum. Frank Paulsson kehrte mir den Rücken zu, Ronny Johansson, Peder Mälarstedt, Rainer Milch und Svein Holstein saßen mit ausdruckslosen Gesichtern vor mir.

»Na, dann«, sagte ich tonlos.

Vor wenigen Wochen hatte ich im gleichen Raum gestanden, und man hatte mir neue Forschungsgelder bewilligt. Jetzt war alles auf einen Schlag aus und vorbei.

Als ich das Gebäude verließ, kamen Menschen auf mich zu. Eine sehr große blonde Frau hielt mir ein Mikrofon vors Gesicht.

»Hallo«, sagte sie voller Elan. »Ich möchte Sie um einen Kommentar dazu bitten, dass eine andere Patientin von Ihnen, eine Frau namens Eva Blau, vorige Woche in die Psychiatrie eingewiesen wurde.«

»Wovon reden Sie?«

Ich wandte mich ab, aber der Mann mit der Fernsehkamera folgte mir. Der schwarze Glanz seines Objektivs suchte mich. Ich betrachtete die blonde Frau, sah das Namensschild auf ihrer Brust, Stefanie von Sydow, ihre weiße Strickmütze und die Hand, mit der sie die Kamera zu sich winkte.

»Glauben Sie immer noch, dass die Hypnose eine gute Therapieform ist?«, fragte sie.

»Ja«, antwortete ich.

»Dann werden Sie also weitermachen?«


Das weiße Licht, das durch die Krankenhausfenster am Ende des Korridors hereinfiel, spiegelte sich im feucht gewischten Fußboden der geschlossenen psychiatrischen Abteilung des Söderkrankenhauses. Ich ging an einer Reihe verschlossener Türen mit Gummileisten und abgeschabter Farbe vorbei, blieb bei Zimmernummer B39 stehen und sah, dass meine Schuhe trockene Spuren in der feuchten Schicht auf dem Boden hinterlassen hatten.

Aus einem entfernten Zimmer hörte man feste Schläge und leises Weinen, gefolgt von Stille. Ich blieb einen Moment stehen und versuchte mich zu sammeln, ehe ich an die Tür klopfte, den Schlüssel herauszog, ins Schloss steckte und eintrat.

Ich zog einen Duft von Putzmittel in die Ausdünstungen von Schweiß und Erbrochenem in dem dunklen Zimmer hinein. Eva Blau lag auf dem Bett und kehrte mir den Rücken zu. Ich ging zum Fenster und versuchte, Licht einzulassen, indem ich das Rollo ein wenig hochließ, aber die Feder klemmte. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, dass Eva sich langsam umdrehte. Ich zog an dem Rollo, aber es rutschte mir aus der Hand und schoss mit einem lauten Knall in die Höhe.

»Entschuldige«, sagte ich, »ich wollte nur ein bisschen Licht …«

In dem plötzlichen grellen Licht saß Eva Blau mit verbittert heruntergezogenen Mundwinkeln vor mir und sah mich mit trüben Augen an. Mein Herz schlug schneller. Evas Nasenspitze war abgeschnitten worden. Sie saß mit gebeugtem Rücken da, hatte einen blutigen Verband um die Hand und starrte mich an.

»Eva, als ich es erfahren habe, bin ich sofort gekommen«, sagte ich.

Sie schlug vorsichtig mit geballter Faust gegen ihren Bauch. Die runde Wunde, die von der abgeschnittenen Nase geblieben war, leuchtete rot in ihrem gequälten Gesicht.

»Ich habe versucht, euch zu helfen«, sagte ich. »Aber mir wird allmählich klar, dass ich mich fast immer geirrt habe. Ich habe gedacht, ich wäre etwas Wichtigem auf der Spur gewesen, dass ich verstehen würde, wie die Hypnose funktioniert, aber das stimmte nicht. Ich habe nichts begriffen und es tut mir leid, dass ich euch nicht helfen konnte, keinem von euch.«

Sie strich sich mit dem Handrücken über die Nase und begann, aus der Wunde über ihrem Mund zu bluten.

»Eva, warum hast du dir das nur angetan?«, fragte ich.

»Das warst du, du, das ist deine Schuld«, schrie sie plötzlich. »Alles ist deine Schuld, du hast mein Leben zerstört und mir alles genommen, was ich habe!«

»Ich verstehe ja, dass du wütend auf mich bist, weil …«

»Halt’s Maul«, unterbrach sie mich. »Du verstehst gar nichts. Mein Leben ist zerstört, und ich werde deins zerstören. Ich kann auf meine Chance warten, ich kann ewig warten, aber ich werde mich an dir rächen.«

Dann schrie sie, mit weit aufgerissenem Mund, heiser und von Sinnen. Die Tür ging auf, und Doktor Andersen trat ein.

»Sie sollten doch draußen warten«, sagte er aufgebracht.

»Die Krankenschwester hat mir den Schlüssel gegeben, und da dachte ich …«

Er zerrte mich in den Flur hinaus, zog die Tür zu und schloss ab.

»Die Patientin ist paranoid und …«

»Nein, das glaube ich eigentlich nicht«, unterbrach ich ihn lächelnd.

»Das ist meine Einschätzung, zu meiner Patientin«, sagte er.

»Ja, Entschuldigung.«

»Hundert Mal am Tag verlangt sie, dass wir ihre Tür abschließen und den Schlüssel im Schlüsselschrank einschließen sollen.«

»Ja gut, aber …«

»Außerdem hat sie gesagt, dass sie gegen niemanden aussagen wird, dass wir sie mit Stromschlägen und Vergewaltigungen quälen können, sie werde uns trotzdem nichts erzählen. Was haben Sie eigentlich mit Ihren Patienten angestellt? Sie hat Angst, schreckliche Angst. Es ist unglaublich, dass sie einfach zu ihr hineingegangen …«

»Sie ist wütend auf mich, aber sie hat keine Angst vor mir«, unterbrach ich ihn mit erhobener Stimme.

»Ich habe sie schreien gehört«, sagte er.

Nach meiner Begegnung mit Eva Blau fuhr ich zum Fernsehsender und bat darum, Stefanie von Sydow sprechen zu dürfen, die Journalistin von der Nachrichtenredaktion, die versucht hatte, einen Kommentar von mir zu bekommen. Die Frau am Empfang rief eine Redaktionsassistentin an und reichte den Hörer an mich weiter. Ich erklärte, ich sei jetzt zu einem Interview bereit, wenn sie noch Interesse hätten. Kurz darauf kam die Assistentin herunter. Es war eine junge Frau mit kurzen Haaren und intelligenten Augen.

»Stefanie kann in zehn Minuten mit Ihnen sprechen«, sagte sie.

»Schön.«

»Ich bringe Sie in die Maske.«


Als ich nach dem kurzen Interview heimkam, lag das ganze Haus im Dunkeln. Ich rief, aber niemand antwortete mir. Simone saß in der oberen Etage vor dem ausgeschalteten Fernseher.

»Ist was passiert?«, fragte ich. »Wo ist Benjamin?«

»Er ist bei David«, antwortete sie tonlos.

»Muss er nicht bald mal nach Hause kommen – was hast du denn ausgemacht?«

»Nichts.«

»Aber was ist denn nur los? Rede mit mir, Simone.«

»Warum sollte ich mit dir reden? Ich weiß nicht mehr, wer du bist«, entgegnete sie.

Ich wurde immer unruhiger, ging zu ihr und versuchte, ihr die Haare aus dem Gesicht zu streichen.

»Rühr mich nicht an«, fauchte sie und zog den Kopf zurück.

»Du willst nicht mit mir reden?«

»Ob ich will? Das liegt nicht in meiner Hand«, sagte sie. »Du hättest reden müssen, du hättest verhindern müssen, dass ich die Fotos selbst finde, du hättest verhindern müssen, dass ich mich wie ein Idiot fühle.«

»Von welchen Fotos redest du?«

Sie öffnete einen hellblauen Briefumschlag und schüttelte einige Bilder heraus: Ich sah mich in Maja Swartlings Wohnung posieren und danach einige Aufnahmenn von ihr, die sie nur mit einem hellgrünen Slip bekleidet zeigten. Die dunklen Haare lagen in Strähnen auf ihren breiten weißen Brüsten. Sie sah glücklich aus, hatte gerötete Wangen. Einige Bilder waren verwackelte Nahaufnahmen einer Brust. Auf einem Foto lag sie mit weit gespreizten Beinen auf dem Bett.

»Sixan, ich werde versuchen …«

»Ich ertrage keine weiteren Lügen«, unterbrach sie mich. »Jedenfalls nicht jetzt.«

Sie machte den Fernseher an, schaltete zu den Nachrichten um und landete mitten in der Berichterstattung über den Hypnoseskandal. Annika Lorentzon vom Karolinska-Universitätskrankenhaus wollte den Fall unter Hinweis auf die laufende Untersuchung nicht näher kommentieren, aber als die gut informierte Journalistin das große Forschungsbudget ansprach, das der Vorstand Erik Maria Bark erst kürzlich bewilligt hatte, geriet sie unter Druck.

»Das war ein Fehler«, sagte sie leise.

»Was war ein Fehler?«

»Erik Maria Bark ist bis auf Weiteres vom Dienst suspendiert worden.«

»Nur bis auf Weiteres?«

»Er wird im Karolinska-Krankenhaus nicht mehr mit Hypnose arbeiten dürfen«, erklärte Annika Lorentzon.

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