23.
Samstagmorgen, der zwölfte Dezember
Simones Mund fühlt sich an, als wäre er voller winziger Glassplitter. Als sie Luft holt, hat sie furchtbare Schmerzen. Sie versucht, mit der Zunge ihren Gaumen abzutasten, aber sie ist geschwollen, steif. Sie versucht etwas zu sehen, aber ihre Lider geben nur einen Spalt frei. Sie begreift nicht, was sie sieht. Langsam tauchen gleitendes Licht, Metall und Vorhänge auf.
Erik sitzt neben ihr auf einem Stuhl und hält ihre Hand. Seine Augen, liegen tief in den Höhlen und sind müde. Simone versucht zu sprechen, aber ihr Hals ist ganz wund:
»Wo ist Benjamin?«
Erik zuckt zusammen.
»Was hast du gesagt?«, fragt er.
»Benjamin«, flüstert sie. »Wo ist Benjamin?«
Erik schließt die Augen, und sein Mund ist angespannt, er schluckt und begegnet ihrem Blick.
»Was hast du getan?«, fragt er leise. »Ich habe dich auf dem Fußboden gefunden, Sixan. Du hattest kaum noch Puls, und wenn ich dich nicht entdeckt hätte …«
Er streicht sich über den Mund und spricht zwischen den Fingern:
»Was hast du nur getan?«
Das Atmen fällt ihr schwer. Sie schluckt mehrmals. Ihr wird bewusst, dass man ihr den Magen ausgepumpt hat, aber sie weiß nicht, was sie sagen soll. Sie hat keine Zeit, ihm klarzumachen, dass sie nicht versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Es spielt keine Rolle, was er denkt. Nicht in diesem Moment. Als sie versucht, den Kopf zu schütteln, wird ihr schlecht.
»Wo ist er?«, flüstert sie. »Ist er weg?«
»Was meinst du?«
Tränen laufen ihre Wangen hinab.
»Ist er weg?«, wiederholt sie.
»Du lagst im Flur, Liebling. Benjamin war schon gegangen, als ich aufgestanden bin. Habt ihr euch gestritten?«
Sie versucht erneut, den Kopf zu schütteln, aber ihr fehlt die Kraft dazu.
»Jemand war in unserer Wohnung … und hat ihn mitgenommen«, sagt sie schwach.
»Wen?«
Sie wimmert.
»Benjamin?«, fragt Erik. »Was ist mit Benjamin?«
»Oh Gott«, murmelt sie.
»Was ist mit Benjamin?«, schreit Erik fast.
»Jemand hat ihn mitgenommen«, antwortet sie.
Erik wirkt ängstlich, schaut sich um, streicht sich zitternd über den Mund und fällt neben ihr auf die Knie.
»Erzähl mir, was passiert ist«, sagt er mit gefasster Stimme. »Simone, was ist passiert?«
»Ich habe jemanden gesehen, der Benjamin durch den Flur geschleift hat«, sagt sie fast lautlos.
»Was meinst du mit geschleift, was willst du mir sagen?«
»Ich bin in der Nacht von einem Stich im Arm aufgewacht, ich habe eine Spritze bekommen, jemand hat mir eine …«
»Wo? Wo hat man dir eine Spritze gegeben?«
»Du glaubst mir nicht?«
Sie versucht den Ärmel ihres Krankenhauskittels hochzuschlagen, und er hilft ihr und findet ein kleines rotes Mal auf ihrem Oberarm. Als er die Schwellung um den Stich mit den Fingerspitzen abtastet, weicht alle Farbe aus seinem Gesicht.
»Jemand hat Benjamin entführt«, sagt sie. »Ich konnte es nicht verhindern.«
»Wir müssen herausfinden, was man dir gegeben hat«, sagt er und drückt auf den Alarmknopf.
»Vergiss das, es ist mir egal, du musst Benjamin finden.«
»Das werde ich«, sagt er kurz.
Eine Krankenschwester kommt herein, erhält Anweisungen für eine Blutprobe und eilt hinaus. Erik wendet sich erneut Simone zu:
»Was ist passiert? Du bist sicher, dass du jemanden gesehen hast, der Benjamin durch den Flur geschleift hat?«
»Ja«, antwortet sie verzweifelt.
»Aber du hast nicht gesehen, wer es war?«
»Er schleppte Benjamin an den Beinen durch den Flur und zur Tür hinaus. Ich lag auf dem Fußboden … ich konnte mich nicht bewegen.«
Sie bricht wieder in Tränen aus und weint, müde und schluchzend, mit zitterndem Körper, an seiner Brust. Als sie sich ein wenig beruhigt hat, schiebt sie ihn sanft von sich.
»Erik«, sagt sie. »Du musst Benjamin finden.«
»Ja«, antwortet er und verlässt das Zimmer.
Die Krankenschwester klopft an die Tür und tritt ein. Simone schließt die Augen, um nicht sehen zu müssen, wie sie die vier kleinen Röhrchen mit Blut füllt.
Erik geht zu seinem Arbeitszimmer im Krankenhaus und denkt dabei an die morgendliche Fahrt im Krankenwagen, nachdem er Simone leblos und fast ohne Puls auf dem Fußboden gefunden hatte. Die schnelle Fahrt durch die helle Stadt, die Autos, die auf die Bürgersteige auswichen. Simones Magen wurde ausgepumpt, die Effektivität der Ärztin, ihre ruhige Schnelligkeit. Die Sauerstoffzufuhr und der dunkle Schirm mit dem unregelmäßigen Herzrhythmus.
Im Flur schaltet Erik sein Handy ein, bleibt stehen und hört seine Mailbox ab. Am Vortag hat ein Polizist namens Roland Svensson vier Mal versucht, ihn zu erreichen, um ihm Personenschutz anzubieten. Es gibt keine Nachricht von Benjamin oder jemandem, der etwas mit seinem Verschwinden zu tun haben könnte.
Er ruft Aida an und spürt eine eisige Panikwelle heranrollen, als sie mit heller, furchtsamer Stimme sagt, dass sie keine Ahnung habe, wo Benjamin stecken könnte.
»Ist er vielleicht zu diesem Laden in Tensta gefahren?«
»Nein«, antwortet sie.
Erik ruft David an, Benjamins alten Spielkameraden. Davids Mutter ist am Telefon. Als sie ihm sagt, dass sie Benjamin seit Tagen nicht mehr gesehen hat, unterbricht er die Verbindung mitten in ihren besorgten Erklärungen.
Er wählt die Nummer des Labors, um sich nach den Ergebnissen der Blutprobe zu erkundigen, aber man kann ihm noch nichts sagen, Simones Blut ist eben erst hereingekommen.
»Ich bleibe in der Leitung«, erklärt er.
Er hört sie arbeiten, und nach einer Weile greift Doktor Valdés nach dem Hörer und sagt heiser:
»Hallo Erik. Es scheint Rapifen oder etwas Ähnliches mit dem Wirkstoff Alfentanil gewesen zu sein.«
»Alfentanil? Das Betäubungsmittel?«
»Jemand muss es entweder in einem Krankenhaus oder bei einem Veterinär gestohlen haben. Wir benutzen es hier eher selten, weil die Suchtgefahr so verdammt hoch ist. Aber es sieht ganz so aus, als hätte deine Frau wirklich Glück gehabt.«
»Wieso?«, fragt Erik.
»Immerhin lebt sie noch.«
Erik kehrt zu Simones Zimmer zurück, um sie nach den Details der Entführung zu fragen, um alles noch einmal durchzugehen, sieht aber, dass sie eingeschlafen ist. Ihre Lippen sind vom Auspumpen des Magens ganz wund und aufgesprungen.
Das Handy klingelt in seiner Tasche, und er eilt in den Flur hinaus, ehe er sich meldet.
»Ja?«
»Hier ist Linnea vom Empfang, Sie haben Besuch.«
Erik braucht ein paar Sekunden, um zu verstehen, dass die Frau den Empfang im Krankenhaus, in der Neurologie meint, dass sie Linnea Åkesson ist, die seit vier Jahren am Empfang arbeitet.
»Doktor Bark?«, fragt sie zögernd.
»Ich habe Besuch? Wer ist es?«
»Ein Herr namens Joona Linna«, antwortet sie.
»Okay, bitten Sie ihn, in den Aufenthaltsraum zu kommen. Ich erwarte ihn dort.«
Erik drückt das Gespräch weg und bleibt anschließend im Flur stehen, während ihm rasend schnell Gedanken durch den Kopf schießen. Er denkt an die Mitteilungen auf seiner Mailbox, dass ein Polizeibeamter immer wieder angerufen hat, um ihm Polizeischutz anzubieten. Was ist passiert, hat jemand mir gedroht, fragt Erik sich, als ihm bewusst wird, wie ungewöhnlich es ist, dass ein Landeskriminalkommissar wie Joona Linna ihn persönlich aufsucht, statt anzurufen.
Erik geht zum Aufenthaltsraum, steht vor den Käseglocken mit den verschiedenen Brotbelägen und riecht den süßen Duft des aufgeschnittenen Brots. In seinem Körper regt sich Übelkeit. Als er Wasser in ein zerkratztes Glas gießt, zittern seine Hände.
Joona kommt zu mir, denkt er, um mir zu sagen, dass sie Benjamins Leiche gefunden haben. Deshalb kommt er persönlich. Er wird mich bitten, mich hinzusetzen, und mir anschließend mitteilen, dass Benjamin tot ist. Erik will so etwas nicht denken, aber der Gedanke ist trotzdem da, er glaubt nicht an ihn, er weigert sich, an ihn zu glauben, aber er kehrt immer wieder zurück und immer schneller zeigen ihm seine Gedanken grauenvolle Bilder von Benjamins Körper in einem Straßengraben neben der Autobahn, in schwarzen Müllsäcken in einem Waldstück, angeschwemmt an einem sumpfigen Ufer.
»Kaffee?«
»Was?«
»Soll ich eingießen?«
Eine junge Frau mit glänzenden blonden Haaren steht an der Kaffeemaschine und hält die volle Kanne vor ihm hoch. Der frisch aufgebrühte Kaffee dampft. Sie sieht ihn fragend an. Er erkennt, dass er eine leere Tasse in der Hand hält, schüttelt nur den Kopf und sieht gleichzeitig Joona Linna hereinkommen.
»Wir setzen uns am besten«, sagt Joona.
Sein Blick ist verlegen und weicht Eriks aus.
»Okay«, erwidert Erik tonlos nach einem kurzen Moment des Zögerns. Sie setzen sich an den hintersten Tisch mit Papiertischdecke und Salzstreuer. Joona kratzt sich an der Augenbraue und flüstert etwas.
»Bitte?«, sagt Erik.
Joona räuspert sich leise und erklärt:
»Wir haben versucht, Sie zu erreichen.«
»Ich bin gestern nicht ans Telefon gegangen«, sagt Erik schwach.
»Erik, es tut mir sehr leid, Sie davon in Kenntnis setzen zu müssen …«
Joona hält kurz inne, wirft ihm einen granitgrauen Blick zu und sagt:
»Josef Ek ist aus dem Krankenhaus ausgebrochen.«
»Wie bitte?«
»Sie haben ein Anrecht auf Polizeischutz.«
Eriks Mund beginnt zu zittern, und seine Augen füllen sich mit Tränen.
»Das wollten Sie mir mitteilen? Dass Josef abgehauen ist?«
»Ja.«
Erik ist so erleichert, dass er sich am liebsten auf den Boden legen und einfach schlafen würde. Er wischt sich schnell die Tränen aus den Augen.
»Wann ist er ausgebrochen?«
»Gestern Abend … er hat eine Krankenschwester umgebracht und einen Mann sehr schwer verletzt«, sagt Joona bedrückt.
Erik nickt mehrmals, und seine Gedanken verknüpfen sich blitzschnell in neuer, beängstigender Weise.
»Er ist in der Nacht zu uns gekommen und hat Benjamin entführt«, sagt er.
»Was sagen Sie da?«
»Er hat sich Benjamin geholt.«
»Haben Sie ihn gesehen?«
»Ich nicht, aber Simone …«
»Was ist passiert?«
»Simone wurde ein starkes Betäubungsmittel injiziert«, sagt Erik langsam. »Ich habe den Befund gerade bekommen, es handelt sich um ein Präparat, das Alfentanil heißt und bei großen chirurgischen Eingriffen verwendet wird.«
»Aber ihr geht es gut?«
»Sie wird es schaffen.«
Joona nickt und notiert sich den Namen des Medikaments.
»Sagt Simone, dass Josef Benjamin entführt hat?«
»Sie hat kein Gesicht gesehen.«
»Ich verstehe.«
»Werden Sie Josef finden?«, fragt Erik.
»Das tun wir, verlassen Sie sich darauf. Wir haben eine landesweite Fahndung ausgelöst«, antwortet Joona. »Er ist schwer verletzt. Er kommt nicht weit.«
»Aber eine Spur haben Sie nicht?«
Joona wirft ihm einen harten Blick zu.
»Ich glaube, dass wir ihn bald haben werden.«
»Gut.«
»Wo waren Sie, als er zu Ihnen kam?«
»Ich habe im Gästezimmer geschlafen«, erläutert Erik. »Ich hatte eine Schlaftablette genommen und habe nichts gehört.«
»Als er zu Ihnen kam, konnte er also nur Simone im Schlafzimmer sehen?«
»Wahrscheinlich.«
»Aber das passt irgendwie nicht zusammen«, sagt Joona.
»Das Gästezimmer ist leicht zu übersehen, es sieht eher aus wie eine Kleiderkammer, und wenn die Tür zur Toilette offen steht, verdeckt sie den Eingang.«
»Das meine ich nicht«, sagt Joona. »Ich meine, dass dies einfach nicht zu Josef passt … er gibt den Leuten keine Spritzen, sein Verhalten ist viel aggressiver.«
»Vielleicht wirkt es nur auf uns aggressiv«, widerspricht Erik.
»Wie meinen Sie das?«
»Vielleicht weiß er die ganze Zeit haargenau, was er tut, immerhin haben Sie in seinem Elternhaus kein Blut seines Vaters an ihm gefunden.«
»Nein, aber …«
»Das deutet doch darauf hin, dass er systematisch, mit kühlem Kopf vorgeht. Was ist, wenn er beschlossen hat, sich an mir zu rächen, indem er Benjamin entführt.«
Es wird still. Aus den Augenwinkeln sieht Erik die blonde Frau an der Kaffeemaschine stehen, an ihrer Tasse nippen und auf die Krankenhausgebäude hinausblicken.
Joona sieht auf den Tisch hinab, begegnet dann Eriks Blick und sagt mit seinem sanften, mitfühlenden finnischen Akzent vollkommen aufrichtig:
»Es tut mir wirklich leid, Erik.«
Nachdem er sich vor der Cafeteria von Joona getrennt hat, geht Erik zu seinem Büro, das auch sein Übernachtungszimmer im Krankenhaus ist. Er kann nicht glauben, dass Benjamin entführt worden ist. Es ist einfach zu irrsinnig, zu absurd, dass ein Fremder bei ihnen eingebrochen sein und seinen Sohn durch Flur und Treppenhaus auf die Straße und irgendwohin verschleppt haben soll.
Das passt alles nicht zusammen.
Es kann nicht Josef Ek gewesen sein, der seinen Sohn entführt hat. Das geht nicht. Er weigert sich, das zu denken.
Es ist unmöglich.
In dem Gefühl, dass alles um ihn herum im Chaos versinkt, setzt er sich an seinen verschrammten Schreibtisch und ruft immer wieder dieselben Leute an, als könnte er an den Nuancen in ihren Stimmen ablesen, ob sie ein wichtiges Detail übersehen haben, ob sie lügen oder ihm Informationen vorenthalten. Als er Aida zum dritten Mal hintereinander anruft, kommt er sich selbst hysterisch vor. Beim ersten Mal fragt er, ob Benjamin am Wochenende etwas Bestimmtes vorhatte. Das zweite Mal ruft er an, um sie zu fragen, ob sie Telefonnummern zu anderen Freunden von ihm hat, er weiß nicht mehr, mit wem Benjamin in der Schule Kontakt hat. Beim dritten Telefonat fragt er sie, ob sie und Benjamin sich gestritten haben, und gibt ihr anschließend alle Telefonnummern, unter denen er zu erreichen ist, auch die im Krankenhaus und Simones Handynummer.
Er ruft noch einmal David an, der ihm bestätigt, dass er Benjamin seit dem Schulschluss am Vortag nicht mehr gesehen hat. Daraufhin ruft er bei der Polizei an. Er fragt, was geschieht, ob sie irgendwelche Fortschritte machen. Er ruft zum zehnten Mal Benjamins ausgeschaltetes Handy an und telefoniert mit Joona und fordert mit erhobener Stimme, dass die Polizei ihre Suche verstärken, dass Joona Linna mehr Leute anfordern soll, und bittet ihn, alles zu tun, was in seiner Macht steht.
Erik kehrt zu dem Zimmer zurück, in dem Simone liegt, bleibt jedoch vor der Tür stehen. Die Wände drehen sich vor seinen Augen, um ihn verdichtet sich etwas. Sein Gehirn kämpft darum, zu verstehen. In seinem Inneren hört er ein ununterbrochenes Stakkato: »Ich werde Benjamin finden, ich werde Benjamin finden.«
Durch die Fensterscheibe in der Tür betrachtet Erik seine Frau. Sie ist wach, aber ihr Gesicht ist müde und verwirrt, ihre Lippen sind blass, und die Ringe unter den Augen sind dunkler geworden. Ihre rotblonden Haare sind vom Schweiß ganz verfilzt. Gedankenverloren dreht sie an ihrem Ring, dreht und presst den Ring gegen das Fingerglied. Erik fährt sich mit der Hand durchs Haar, und als er sich über das Kinn streicht, spürt er, wie hart die Bartstoppeln geworden sind. Simone sieht ihn durch die Fensterscheibe an, verzieht aber keine Miene.
Erik tritt ein und lässt sich schwer auf den Stuhl neben ihr fallen. Sie blickt zu ihm auf und schlägt anschließend die Augen nieder. Er sieht, dass ihre Lippen sich zu einer gequälten Miene verziehen. Große Tränen treten in ihre Augen.
»Benjamin hat versucht, nach mir zu greifen, er hat sich nach meiner Hand gestreckt«, flüstert sie. »Aber ich lag einfach nur da, ich konnte mich nicht bewegen.«
Erik Stimme ist schwach, als er sagt:
»Ich habe gerade erfahren, dass Josef Ek ausgebrochen ist, er ist seit gestern Abend auf der Flucht.«
»Mir ist kalt«, flüstert sie.
Als er versucht, die hellblaue Krankenhausdecke höher zu ziehen, schlägt sie seine Hand fort.
»Das ist alles deine Schuld«, sagt sie. »Du warst ja so verdammt scharf darauf zu hypnotisieren, dass du …«
»Hör auf, Simone, das ist jetzt nun wirklich nicht meine Schuld, ich habe versucht, einen Menschen zu retten, das ist mein Beruf …«
»Und was ist mit deinem Sohn? Zählt der etwa nicht?«, schreit sie ihn an.
Als Erik versucht, sie zu berühren, stößt sie ihn von sich.
»Ich rufe meinen Vater an«, sagt sie mit zittriger Stimme. »Er wird mir helfen, Benjamin zu finden.«
»Ich bin strikt dagegen, dass du ihn anrufst«, sagt Erik.
»Ich wusste, dass du das sagen würdest, aber deine Gefühle sind mir ehrlich gesagt scheißegal, ich will nur Benjamin zurückhaben.«
»Ich werde ihn finden, Sixan.«
»Warum glaube ich dir nicht?«
»Die Polizei tut, was sie kann, und dein Vater ist …«
»Die Polizei? Die Polizei hat diesen Irren doch abhauen lassen«, sagt sie aufgebracht. »War es nicht so? Sie werden gar nichts tun, um Benjamin zu finden.«
»Josef ist ein Serienkiller, die Polizei will ihn finden, und das wird ihr auch gelingen, aber ich bin nicht blöd, ich weiß, dass Benjamin für sie nicht so wichtig ist, er interessiert sie nicht, nicht wirklich, nicht wie uns, nicht wie …«
»Das sage ich doch«, unterbricht sie ihn gereizt.
»Joona Linna hat mir erklärt, dass …«
»Das ist doch alles seine Schuld, er hat doch gewollt, dass du den Jungen hypnotisierst.«
Erik schüttelt den Kopf und schluckt hart.
»Das war meine eigene Entscheidung.«
»Mein Vater würde alle Hebel in Bewegung setzen«, sagt sie leise.
»Ich möchte, dass du und ich jedes noch so kleine Detail gemeinsam durchgehen, wir müssen nachdenken, wir brauchen Ruhe, um …«
»Was zum Teufel können wir denn tun?«, schreit sie.
Es wird still. Erik hört, dass jemand im Nebenzimmer den Fernseher einschaltet.
Simone liegt mit abgewandtem Gesicht im Bett.
»Wir müssen nachdenken«, sagt Erik behutsam. »Ich bin mir überhaupt nicht sicher, dass es wirklich Josef Ek war, der …«
»Du bist doch einfach nur bescheuert«, unterbricht sie ihn.
Simone versucht, aus dem Bett aufzustehen, schafft es aber nicht.
»Darf ich bitte nur noch eins sagen?«
»Ich werde mir eine Pistole besorgen, und dann werde ich ihn finden«, sagt sie.
»Die Wohnungstür stand zwei Nächte in Folge offen, aber …«
»Das habe ich ja gleich gesagt«, unterbricht sie ihn. »Ich habe dir doch gesagt, dass jemand in der Wohnung war, aber du hast mir natürlich nicht geglaubt, das tust du ja nie, wenn du mir geglaubt hättest, dann würde …«
»Jetzt hör mir zu«, unterbricht Erik sie. »In der ersten Nacht lag Josef Ek in seinem Bett im Krankenhaus, also kann er nicht in unserer Wohnung gewesen sein und den Kühlschrank geöffnet haben.«
Sie hört ihm nicht zu, versucht nur aufzustehen. Sie stöhnt wütend und schafft es, zu dem kleinen Schrank zu gehen, in dem Erik ein paar Kleider für sie verstaut hat. Erik hilft ihr nicht, sieht bloß zu, als sie sich zitternd anzieht, und hört sie leise vor sich hin fluchen.