26.

Sonntagmorgen, der dreizehnte Dezember,


Luciafest


Erik erwacht auf der schmalen Pritsche in seinem Arbeitszimmer im Krankenhaus. Es ist mitten in der Nacht. Er schaut auf die Uhrzeit im Telefondisplay. Es ist fast drei. Er nimmt noch eine Tablette und liegt anschließend fröstelnd unter der Decke, bis sich in seinem Körper ein Kribbeln ausbreitet und die Dunkelheit Einzug hält.

Als er einige Stunden später erwacht, hat er starke Kopfschmerzen. Er nimmt eine Schmerztablette, stellt sich ans Fenster und lässt den Blick über die düstere Fassade mit ihren Hunderten von Fenstern schweifen. Der Himmel ist grau, und die Fenster sind noch ausnahmslos dunkel. Erik lehnt sich vor, spürt das kühle Glas an seiner Nasenspitze und stellt sich vor, dass er in diesem Moment gleichzeitig durch all diese Fenster sich selbst anstarrt.

Er legt das Handy auf den Schreibtisch und zieht sich aus. Die kleine Dusche riecht nach Plastik und Desinfektionsmitteln. Das heiße Wasser fließt über Kopf und Hals und klatscht gegen die Plexiglaswand.

Nachdem er sich abgetrocknet hat, wischt er etwas Kondenswasser vom Spiegel, befeuchtet sein Gesicht und verteilt Rasierschaum, kleistert sich aus Versehen die Nasenlöcher zu und schnaubt den Schaum fort. Die saubere Fläche des Spiegels schließt sich während seiner Rasur um ein immer kleiner werdendes Oval.

Er denkt daran, dass die Tür Simone zufolge auch schon am Abend vor Josef Eks Flucht aus dem Krankenhaus offen gestanden hat. Sie wurde wach und ging sie zumachen. In jener Nacht kann Josef Ek sie jedoch nicht geöffnet haben. Wie sollte das möglich sein? Erik versucht zu verstehen, was in der Nacht passiert ist, aber es gibt zu viele offene Fragen. Wie ist Josef in die Wohnung gekommen? Vielleicht hat er einfach angeklopft, bis Benjamin wach geworden ist und ihm aufgemacht hat. Erik stellt sich vor, wie sich die beiden Jungen gegenüberstehen und einander im matten Licht der Treppenhausbeleuchtung betrachten. Benjamin ist barfuß, seine Haare stehen in alle Richtungen ab, er steht in seinem kindlichen Schlafanzug im Flur und blinzelt den größeren Jungen mit verschlafenen Augen an. Man könnte durchaus sagen, dass sie einander ähnlich sehen, aber Josef hat seine Eltern und seine kleine Schwester ermordet, er hat kurz zuvor eine Krankenschwester mit einem Skalpell umgebracht und auf dem Nordfriedhof einen Mann schwer verletzt.

»Nein«, sagt Erik zu sich selbst. »Das glaube ich nicht, das passt einfach nicht zusammen.«

Wer sonst hätte in die Wohnung gelangen können, wem würde Benjamin die Tür öffnen, wem würden Simone oder Benjamin einen Schlüssel anvertrauen? Benjamin dachte vielleicht, Aida würde zu ihm kommen. War sie es vielleicht? Erik sagt sich, dass er alle Möglichkeiten in Betracht ziehen muss. Vielleicht hat ­Josef einen Komplizen, der ihm bei der Tür geholfen hat, vielleicht hat Josef tatsächlich vorgehabt, schon in der ersten Nacht zu kommen, aber nicht fliehen können. Deshalb hat die Tür offen gestanden, so ist es abgemacht gewesen.

Erik beendet seine Rasur, putzt sich die Zähne, nimmt das Handy vom Tisch, schaut auf die Uhr und ruft Joona an.

»Guten Morgen, Erik«, sagt eine heisere Stimme mit finnischem Akzent.

Joona muss Eriks Nummer im Display wiedererkannt haben.

»Habe ich Sie geweckt?«

»Nein.«

»Entschuldigen Sie, dass ich schon wieder anrufe, aber …«

Erik hustet.

»Ist etwas passiert?«, fragt Joona.

»Ihr habt Josef noch nicht gefunden?«

»Wir müssen mit Simone sprechen, alles gründlich durchgehen.«

»Aber Sie glauben nicht, dass Josef Benjamin entführt hat?«

»Nein, das glaube ich nicht«, antwortet Joona. »Aber sicher bin ich mir nicht, ich würde mir gerne die Wohnung ansehen und die Nachbarn befragen, um vielleicht Zeugen zu finden.«

»Soll ich Simone bitten, Sie anzurufen?

»Nicht nötig.«

Ein Tropfen löst sich vom Mundstück der rostfreien Mischbatterie und fällt mit einem markanten Laut ins Waschbecken.

»Ich bin immer noch der Meinung, dass Sie Polizeischutz akzeptieren sollten«, sagt Joona.

»Ich bin im Karolinska-Krankenhaus und glaube nicht, dass Josef freiwillig hierher zurückkehrt.«

»Und was ist mit Simone?«

»Fragt sie, kann sein, dass sie es sich anders überlegt hat«, sagt Erik. »Auch wenn sie schon einen Beschützer hat.«

»Stimmt, davon habe ich gehört«, erwidert Joona und muss lachen. Er geht unwillkürlich zum Du über. »Weißt du, es fällt mir ehrlich gesagt schwer, mir ein Leben mit Kennet Sträng als Schwiegervater vorzustellen.«

»Mir auch«, antwortet Erik.

»Das kann ich gut verstehen«, lacht Joona und verstummt anschließend.

»Hat Josef vorgestern versucht abzuhauen?«, fragt Erik.

»Nein, das glaube ich nicht, jedenfalls deutet nichts darauf hin«, antwortet Joona. »Warum fragst du?«

»Jemand hat in der Nacht unsere Wohnungstür geöffnet, genau wie letzte Nacht.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass Josefs Ausbruch die Reaktion darauf gewesen ist, dass ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt werden sollte, und das hat er erst Freitagabend erfahren«, erwidert Joona bedächtig.

Erik schüttelt den Kopf, reibt sich mit dem Daumen über den Mund und sieht, dass die Wände des Badezimmers an graue Plastikplatten erinnern.

»Das passt alles nicht zusammen«, seufzt er.

»Hast du gesehen, dass die Tür offen stand?«, fragt Joona.

»Nein, Sixan … Simone ist aufgestanden.«

»Könnte sie aus irgendeinem Grund lügen?«

»Der Gedanke ist mir noch nicht gekommen.«

»Du musst die Frage nicht jetzt beantworten.«

Erik sieht sich im Spiegel in die Augen und erprobt ein zweites Mal seinen Gedankengang: Was ist, wenn Josef einen Komplizen hatte, der am Abend vor der Entführung Vorbereitungen traf, der vielleicht nur ausgesandt worden war, um zu testen, ob das Schlüsselduplikat passte? Der Mithelfer sollte sich nur vergewissern, dass der Schlüssel passte, betrat jedoch eigenmächtig die Wohnung. Er konnte es sich einfach nicht verkneifen, herumzuschleichen und sich die schlafende Familie anzusehen. Er genoss das Gefühl von Kontrolle, bekam Lust, Eriks Familie einen Streich zu spielen, und ließ Kühl- und Gefrierschrank offen stehen. Vielleicht erzählte er später Josef von allem, beschrieb seinen Besuch und wie die Zimmer aussahen und wer wo schlief.

Das würde erklären, warum Josef mich nicht gefunden hat, denkt Erik. Denn in der ersten Nacht schlief ich neben Simone.

»War Evelyn am Mittwoch im Untersuchungsgefängnis?«

»Ja.«

»Den ganzen Abend und die ganze Nacht?«, fragt Erik weiter.

»Ja.«

»Ist sie dort immer noch?«

»Sie ist in eine unserer sicheren Wohnungen gezogen, wird aber rund um die Uhr bewacht.«

»Hat sie zu jemandem Kontakt aufgenommen?«

»Du weißt schon, dass du die Polizei ihre Arbeit machen lassen musst?«, sagt Joona.

»Ich kümmere mich nur um meine Angelegenheiten«, antwortet Erik leise. »Ich würde gerne mit Evelyn sprechen.«

»Was willst du sie fragen?«

»Ob Josef Freunde hat, Leute, die ihm helfen könnten.«

»Das kann ich sie auch fragen.«

»Vielleicht weiß sie, wer ein Komplize Josefs sein könnte, vielleicht kennt sie seine Freunde und weiß, wo sie wohnen.«

Joona seufzt und sagt:

»Du weißt ebenso gut wie ich, dass ich dich nicht einfach privat ermitteln lassen kann, Erik. Selbst wenn ich persönlich es in Ordnung fände, ginge …«

»Könnte ich nicht dabei sein, wenn du mit ihr sprichst?«, fragt Erik. »Ich habe viele Jahre mit traumatisierten Menschen gearbeitet und …«

Für ein paar Sekunden herrscht Stille zwischen ihnen.

»Komm in einer Stunde zum Eingang des Landespolizeiamts«, sagt Joona schließlich.

»Ich bin in zwanzig Minuten da«, erwidert Erik.

»Na schön, dann in zwanzig Minuten«, sagt Joona und legt auf.

Mit leerem Kopf geht Erik zu seinem Schreibtisch und zieht die oberste Schublade heraus. Zwischen Stiften, Radiergummis und Büroklammern liegen verschiedene Tablettenblister. Er drückt drei unterschiedliche Tabletten heraus und schluckt sie.

Eigentlich müsste er Daniella Bescheid sagen, dass er bei der Vormittagsbesprechung nicht dabei sein kann, vergisst den Gedanken aber gleich wieder. Er verlässt sein Zimmer und eilt in die Cafeteria. Ohne sich hinzusetzen, trinkt er vor dem Aquarium stehend eine Tasse Kaffee, während seine Augen einen Schwarm Neonsalmler und ihren suchenden Zug um ein Plastikwrack verfolgen, und wickelt anschließend ein belegtes Brot in ein paar Servietten und steckt es sich in die Tasche.

Im Aufzug nach unten mustert er sich im Spiegel und begegnet den glänzenden Augen. Sein Gesicht ist traurig, fast abwesend. Er betrachtet sich und denkt an das flaue Gefühl im Magen, wenn man aus großer Höhe fällt, einen Sog, der fast sexuell und gleichzeitig stark mit Hilflosigkeit verbunden ist. Er ist fast am Ende seiner Kräfte, aber die Tabletten heben ihn auf eine helle und scharf konturierte Ebene. Ich werde noch eine Zeit lang funktionieren, denkt er. Er muss nur durchhalten, bis er seinen Sohn gefunden hat. Danach kann alles zusammenbrechen.

Während er zu seiner Verabredung mit Joona und Evelyn fährt, versucht er, in Gedanken durchzugehen, was er getan hat und wo er in der vergangenen Woche gewesen ist. Dabei wird ihm schnell klar, dass sich einige Gelegenheiten boten, Duplikate von seinen Schlüsseln anzufertigen. Letzten Donnerstag hing seine Jacke mit den Schlüsseln in der Tasche in einem Restaurant fernab von jeder Aufsicht. Sie hat auf dem Stuhl in seinem Büro im Krankenhaus gelegen, in der Kantine an einem Haken gehangen und ist an vielen anderen Stellen gewesen. Für Benjamins und Simones Schlüssel gilt mit Sicherheit das Gleiche.

Als er an dem Umbauchaos am Fridhemsplan vorbeifährt, nestelt er das Handy aus der Jackentasche und wählt Simones Nummer.

»Hallo?«, meldet sie sich mit gehetzter Stimme.

»Ich bin’s.«

»Ist was passiert?«, fragt sie.

Im Hintergrund scheint eine Maschine zu brummen, dann wird es auf einmal still.

»Ich wollte dir nur sagen, dass ihr euch Benjamins Computer ansehen solltet, nicht nur die Mails, sondern alle Abläufe, was er heruntergeladen hat, welche Websites er besucht hat, die temporären Dateien, ob er gechattet hat und …«

»Schon klar«, unterbricht sie ihn.

»Ich wollte nicht stören.«

»Mit dem Computer haben wir uns noch nicht befasst«, sagt sie.

»Das Passwort ist Dumbledore.«

»Ich weiß.«

Erik fährt am Polizeipräsidium vorbei und sieht es die Gestalt wechseln: die glatte, kupferfarbene Fassade, der Anbau aus Beton und schließlich das ursprüngliche, hohe, gelb verputzte Gebäude.

»Ich muss Schluss machen«, erklärt sie.

»Simone«, sagt Erik. »Hast du mir die Wahrheit gesagt?«

»Was meinst du?«

»Darüber, was passiert ist, als die Tür in der ersten Nacht offen gestanden hat, und dass du jemanden gesehen hast, der Benjamin durch den Flur geschlei…«

»Was glaubst du denn?«, schreit sie ihn an und trennt die Verbindung.

Erik hat keine Geduld, nach einem freien Parkplatz zu suchen, ein Strafzettel spielt keine Rolle, er wird in einem völlig anderen Leben bezahlt werden müssen. Ohne sich weiter Gedanken zu machen, fährt er direkt vor dem Polizeipräsidium an den rechten Straßenrand. Die Reifen knirschen, und er hält vor der großen Treppe, die zum Rathaus hinaufführt. Das Abblendlicht beleuchtet eine schöne alte Holztür, die seit vielen Jahren nicht mehr benutzt wird. In geschnitzten, altertümlichen Buchstaben ist sie mit dem Wort »Detektivabteilung« beschriftet.

Er steigt aus, eilt um das Haus herum und auf der Kungsholmsgatan zum Eingang des Landeskriminalamts hinauf. Er sieht einen Vater mit drei Kindern, die über ihren Schneeanzügen Lucia­kleider tragen. Die weißen Gewänder spannen über den dicken Kleidern. Die Kinder tragen Lichterkronen über ihren Mützen, und eins hält eine Kerze in seiner Handschuhhand. Erik muss unvermittelt daran denken, wie sehr Benjamin es liebte, getragen zu werden. Als er klein war, klammerte er sich mit Armen und Beinen fest und sagte: »Trag mich, du bist tos und tark, Papa.«

Der Eingang zum Landeskriminalamt ist ein hoher leuchtender Glaswürfel. Vor den stahlumrahmten Schwingtüren steht eine Metallsäule mit einer Vorrichtung für Zugangskarte und Zahlencode. Erik ist außer Atem, als er auf der schwarzen Gummimatte in der Eingangsschleuse vor einer weiteren Tür mit Zifferntastatur und Kartenleser steht. Direkt vor ihm im hell erleuchteten Foyer gibt es zwei große Drehtüren in der Glaswand mit weiteren gesicherten Schlössern. Erik geht über den weißen Marmorboden zum links gelegenen Empfang. Ein Mann sitzt hinter der offenen Holzschranke und telefoniert.

Erik erläutert sein Anliegen, und der Mann am Empfang nickt kurz, tippt auf seinem Computer und greift anschließend zum Telefon.

»Hier ist der Empfang«, sagt er gedämpft. »Erik Maria Bark möchte Sie sprechen.«

Der Mann lauscht einen Moment und wendet sich an Erik.

»Er kommt herunter«, erklärt er freundlich.

»Danke.«

Erik setzt sich auf eine flache Bank ohne Rückenlehne mit einer schwarzen, knirschenden Ledersitzfläche. Er mustert ein grünes Glaskunstwerk, dann schweift sein Blick zu den stehenden Drehtüren. Hinter der großen Glaswand erblickt man einen weiteren gläsernen Korridor, der fast zwanzig Meter durch einen offenen Innenhof zum nächsten Gebäudekomplex führt. Plötzlich sieht Erik Joona Linna rechts an einer Sitzgruppe vorbeigehen, auf einen Knopf in der Wand drücken und durch eine der Drehtüren treten. Er wirft eine Bananenschale in einen Aluminiummülleimer, winkt dem Mann am Empfang zu und kommt zu Erik.

Während sie zu Evelyn Eks sicherer Wohnung in der Hantverksgatan spazieren, versucht Joona zusammenzufassen, was bei ihren Vernehmungen herausgekommen ist: Sie hat bestätigt, dass sie mit dem Gewehr in den Wald gegangen ist, um sich das Leben zu nehmen. Josef hat sie jahrelang zu sexuellen Diensten genötigt. Beugte Evelyn sich seinem Willen nicht, misshandelte er seine kleine Schwester Lisa. Als er anfing, Geschlechtsverkehr zu verlangen, gelang es Evelyn, sich einen Aufschub zu verschaffen, indem sie ihm sagte, dies sei vor seinem fünfzehnten Geburtstag verboten. Als Josefs Geburtstag näher rückte, versteckte Evelyn sich im Sommerhaus ihrer Tante auf Värmdö. Josef suchte nach ihr, ging zu ihrem Ex-Freund Sorab Ramadani und schaffte es irgendwie, aus ihm herauszuquetschen, wo Evelyn sich versteckt hielt. An seinem Geburtstag besuchte Josef dann seine Schwester im Haus der Tante, und als sie sich weigerte, mit ihm zu schlafen, erklärte er, sie wisse, was passieren werde, das sei alles ihre Schuld.

»So, wie es aussieht, hat Josef zumindest den Mord an seinem Vater geplant«, sagt Joona. »Die Gründe für die Wahl des Datums kennen wir nicht, aber vielleicht war die Gelegenheit einfach günstig, weil sein Vater sich allein an einem Ort außerhalb des Elternhauses aufhielt. Letzten Montag packte Josef Ek jedenfalls Kleider zum Umziehen, zwei Paar Schuhschützer, Handtücher, das Jagdmesser seines Vaters, Streichhölzer und eine Flasche mit Benzin in eine Sporttasche und fuhr mit dem Fahrrad zum Sportplatz. Als er seinen Vater getötet und verstümmelt hatte, nahm er die Schlüssel aus dessen Tasche, ging in die Damenumkleide, duschte und zog sich um, schloss hinter sich ab, verbrannte die Tasche mit den blutigen Kleidern auf einem Spielplatz, wo wir die Reste gefunden haben, und radelte anschließend zum Haus zurück.«

»Und was ist im Haus passiert? Hat es sich ungefähr so abgespielt, wie er es unter Hypnose beschrieben hat?«, erkundigt sich Erik.

»Nicht nur ungefähr, es scheint sogar haargenau so passiert zu sein«, erklärt Joona und räuspert sich. »Aber warum er plötzlich seine kleine Schwester und seine Mutter angegriffen hat, wissen wir nicht.«

Er wirft Erik einen bedrückten Blick zu.

»Vielleicht hatte er einfach das Gefühl, noch nicht fertig zu sein, Evelyn noch härter bestrafen zu müssen.«

Kurz vor der Kirche bleibt Joona vor einem Hauseingang stehen, greift nach seinem Handy, wählt eine Nummer und teilt mit, dass sie da sind. Er tippt den Türcode ein, öffnet und lässt Erik in den schlichten Treppenaufgang mit gepunkteten Wänden eintreten.

Als sie mit dem Aufzug in die dritte Etage fahren, warten dort vor der Wohnung zwei Polizisten. Joona gibt ihnen die Hand und öffnet anschließend eine gut gesicherte Tür, die keinen Briefeinwurf hat. Ehe er die Tür ganz öffnet, klopft er an.

»Dürfen wir hereinkommen?«, fragt Joona durch den Türspalt.

»Sie haben ihn nicht gefunden – oder?«

Evelyns Gesicht liegt im Gegenlicht, und ihre Züge sind kaum zu erkennen. Erik und Joona sehen nur eine dunkle, von sonnendurchflutetem Haar umgebene Scheibe.

»Nein«, antwortet Joona.

Evelyn kommt zur Tür, lässt sie herein, schließt schnell wieder ab und kontrolliert nochmals das Schloss. Als sie sich zu ihnen umdreht, sieht Erik, dass sie heftig atmet.

»Das ist eine sichere Wohnung, Sie stehen unter Polizeischutz«, sagt Joona. »Niemand darf Informationen über Sie herausgeben oder anfordern, das hat die Staatsanwaltschaft beschlossen. Sie sind in Sicherheit, Evelyn.«

»Solange ich hier bleibe, vielleicht schon«, erwidert sie. »Aber irgendwann muss ich diese Wohnung verlassen, und wenn Josef eines kann, dann ist es warten.«

Sie geht zum Fenster, sieht hinaus und setzt sich auf die Couch.

»Wo könnte Josef sich verstecken?«, fragt Joona.

»Sie glauben, dass ich etwas weiß.«

»Tun Sie das?«, fragt Erik.

»Wollen Sie mich hypnotisieren?«

»Nein«, sagt er überrascht lächelnd.

Sie hat sich nicht geschminkt, und als sie ihn mustert, sehen ihre Augen verletzlich und wehrlos aus.

»Wenn Sie wollen, dürfen Sie das gerne tun«, sagt sie und senkt schnell den Blick.

Die Wohnung besteht aus einem Schlafzimmer mit einem breiten Bett, zwei Sesseln und einem Fernseher, einem Badezimmer mit einer Duschkabine und einer Küche mit Essecke. Die Fenster sind aus Panzerglas und sämtliche Wände in einem ruhigen gelben Farbton gestrichen.

Erik schaut sich um und folgt ihr in die Küche.

»Ganz nett hier«, sagt er.

Evelyn zuckt mit den Schultern. Sie trägt einen roten Jumper und eine verwaschene Jeans. Ihre Haare sind nachlässig hochgesteckt.

»Man bringt mir heute ein paar private Sachen«, erklärt sie.

»Das ist gut«, sagt Erik. »Man fühlt sich in der Regel gleich besser, wenn …«

»Besser? Was wissen Sie denn darüber, was ich brauche, um mich besser zu fühlen?«

»Es ist mein Job gewesen, mit …«

»Entschuldigen Sie, aber das ist mir wirklich scheißegal«, unterbricht sie ihn. »Ich habe gesagt, dass ich mit keinem Psycho­logen oder Therapeuten sprechen will.«

»Ich bin auch nicht in dieser Eigenschaft hier.«

»Sondern?«

»Um zu versuchen, Josef zu finden.«

Sie dreht sich zu ihm um und sagt kurz:

»Er ist nicht hier.«

Ohne zu wissen warum, beschließt Erik, nichts über Benjamin zu sagen.

»Hören Sie, Evelyn«, sagt er leise. »Ich brauche Ihre Hilfe, um mir einen Überblick über Josefs Bekanntenkreis zu verschaffen.«

Ihr Blick ist glasig, fast fiebrig.

»Okay«, erwidert sie und verzieht ein wenig den Mund.

»Hat er eine Freundin?«

Ihre Augen verfinstern sich, und ihr Mund wird angespannt.

»Sie meinen, außer mir?«

»Ja.«

Nach einer Weile schüttelt sie den Kopf.

»Mit welchen Leuten trifft er sich?«

»Er trifft sich mit niemandem«, sagt sie.

»Klassenkameraden?«

Sie zuckt mit den Schultern.

»Soweit ich weiß, hat er niemals Freunde gehabt.«

»Wenn er Hilfe braucht – an wen würde er sich dann wenden?«, fragt Erik.

»Keine Ahnung … manchmal redet er mit den Alkis hinter dem Alkoholladen.«

»Wissen Sie, wer die sind, wie die heißen?«

»Einer von ihnen hat eine Tätowierung auf der Hand.«

»Wie sieht die aus?«

»Ich erinnere mich nicht … ein Fisch, glaube ich.«

Sie steht auf und geht erneut zum Fenster. Erik beobachtet sie. Das Tageslicht fällt auf ihr junges Gesicht und lässt es deutlich hervortreten. Er kann die blaue Schlagader an ihrem schlanken Hals schlagen sehen.

»Glauben Sie, er könnte bei einem von denen wohnen?«

Sie zuckt vage mit den Schultern.

»Ja …«

»Glauben Sie das?«

»Nein.«

»Was glauben Sie dann?«

»Ich glaube, dass er mich finden wird, bevor Sie ihn finden.«

Erik sieht sie an, während sie sich mit der Stirn gegen die Fensterscheibe lehnt, und fragt sich, ob er versuchen soll, sie stärker unter Druck zu setzen. Etwas in ihrer tonlosen Stimme, an ihrem Mangel an Zuversicht sagt ihm, dass sie Dinge über ihren jüngeren Bruder weiß, die sonst niemand wissen kann.

»Evelyn? Was will Josef?«

»Ich kann darüber nicht sprechen.«

»Will er mich umbringen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Was glauben Sie?«

Sie holt tief Luft, und ihre Stimme ist heiser und müde:

»Wenn er der Meinung ist, dass Sie zwischen ihm und mir gestanden haben, wenn er eifersüchtig ist, dann wird er es tun.«

»Was tun?«

»Sie töten.«

»Sie meinen, er wird es versuchen?«

Evelyn leckt sich die Lippen, dreht sich zu ihm um und senkt den Blick. Erik will seine Frage wiederholen, bekommt aber keinen Ton heraus. Plötzlich klopft es an die Tür. Evelyn sieht Joona und Erik an, wirkt ängstlich und zieht sich rückwärts in die Küche zurück.

Es klopft erneut. Joona geht zur Tür, schaut durch den Spion und öffnet. Zwei Polizisten treten in den Flur. Der eine trägt einen Umzugskarton.

»Ich glaube, wir haben alles, was auf der Liste stand«, sagt er. »Wo sollen wir die Sachen hinstellen?«

»Irgendwohin«, sagt Evelyn schwach und kommt aus der Küche.

»Bitte hier einmal unterschreiben.«

Er reicht ihr einen Lieferschein, und sie zeichnet ihn ab. Als die Beamten gehen, schließt Joona hinter ihnen ab. Evelyn eilt zur Tür, überprüft, dass er sie richtig abgeschlossen hat, und dreht sich wieder zu ihnen um.

»Ich habe um ein paar Sachen aus unserem Haus gebeten, die …«

»Ja, das haben Sie gesagt.«

Evelyn geht in die Hocke, zieht das braune Packband vom Karton und klappt ihn auf. Sie holt ein silberfarbenes Sparschwein in Form eines Kaninchens und ein gerahmtes Bild heraus, das einen Schutzengel darstellt, hält dann aber mitten in einer Bewegung inne.

»Mein Fotoalbum«, sagt sie, und Erik sieht, dass ihr Mund zittert.

»Evelyn?«

»Darum habe ich nicht gebeten, von dem Fotoalbum habe ich nichts gesagt …«

Sie schlägt die erste Seite mit einer großen Porträtaufnahme von ihr in der Schule auf. Sie ist ungefähr vierzehn, trägt eine Klammer und lächelt scheu. Ihr Teint glänzt, und sie hat kurze Haare.

Evelyn blättert um, und ein zusammengefaltetes Blatt fällt aus dem Album und landet auf dem Fußboden. Sie hebt es auf und dreht es um. Als sie es liest, läuft ihr Gesicht rot an.

»Er ist zu Hause«, flüstert sie und reicht ihnen den Brief.

Erik streicht das Blatt glatt, und er und Joona lesen gemeinsam:

Ich besitze dich, du gehörst nur mir, ich


bringe die anderen um, das ist alles deine Schuld, ich bringe den verfickten Hypnotiseur um, und du wirst mit dabei helfen, das wirst du, du wirst mir zeigen, wo er wohnt, du wirst mir zeigen, wo ihr immer fickt und eure Feste feiert, und dann bringe ich ihn um, und du wirst zugucken, wenn ich es tue, und dann wäschst du dir deine Fotze mit viel Seife, und dann werde ich dich hundert Mal ficken, denn dann sind wir quitt und wir beide fangen ganz allein noch


einmal von vorn an.

Evelyn lässt die Jalousien herunter und umarmt sich selbst. Erik legt den Brief auf den Tisch und steht auf. Josef ist in seinem Elternhaus, schießt es ihm durch den Kopf. So muss es sein. Wenn er das Fotoalbum mit dem Brief in den Karton legen konnte, muss er dort sein.

»Josef ist in sein Elternhaus zurückgekehrt«, sagt Erik.

»Wo soll er auch sonst wohnen?«, erwidert Evelyn leise.

Joona steht schon mit dem Handy in der Küche und spricht mit dem diensthabenden Beamten in der Einsatzzentrale.

»Evelyn, hast du eine Idee, wie Josef es schaffen konnte, sich vor der Polizei zu verstecken?«, fragt Erik. »In eurem Haus wird seit fast einer Woche der Tatort untersucht.«

»Der Keller«, antwortet Evelyn und blickt auf.

»Was ist mit dem Keller?«

»Es gibt da so einen seltsamen Raum.«

»Er ist im Keller«, ruft Erik in die Küche.

Im Telefon hört Joona das langsame Klappern einer Tastatur.

»Der Verdächtige hält sich vermutlich im Keller auf«, sagt Joona.

»Warte mal kurz«, sagt der diensthabende Beamte am Telefon. »Ich muss …«

»Es ist dringend«, unterbricht Joona ihn.

Nach einer Pause spricht der Diensthabende ganz ruhig weiter:

»Für dieselbe Adresse ist vor zwei Minuten Alarm ausgelöst worden.«

»Was sagst du da? Für den Gärdesvägen 8 in Tumba?«, fragt Joona.

»Ja«, antwortet sein Kollege. »Die Nachbarn haben angerufen und gesagt, es wäre jemand im Haus.«

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