18.

Freitagnachmittag, der elfte Dezember


Evelyn wird in einem Büro der Strafvollzugsabteilung vernommen. Um das triste Zimmer etwas gemütlicher zu gestalten, hat jemand eine rote Pfefferkuchendose aus Blech und elektrische Kerzenständer von Ikea in die Fenster gestellt. Evelyn und ihr Zeugenbeistand sitzen bereits, als Joona das Aufnahmegerät anstellt.

»Ich weiß, dass meine Fragen Ihnen zusetzen werden, Evelyn«, sagt er leise und sieht sie kurz an. »Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sie trotzdem beantworten würden, so gut Sie können.«

Evelyn antwortet nicht, sondern blickt auf ihre Knie hinab.

»Ich glaube nämlich nicht, dass es für Sie von Vorteil ist zu schweigen«, fährt er sanft fort.

Sie reagiert nicht, starrt nur nach unten. Ihr Beistand, ein Mann mittleren Alters mit unrasiertem Gesicht, sieht Joona ausdruckslos an.

»Soll ich anfangen, Evelyn?«

Sie schüttelt den Kopf. Er wartet. Kurze Zeit später hebt sie den Kopf und begegnet seinem Blick.

»Sie sind mit dem Gewehr in den Wald gegangen, um sich das Leben zu nehmen, habe ich Recht?«

»Ja«, flüstert sie.

»Ich bin froh, dass Sie es nicht getan haben.«

»Ich nicht.«

»Haben Sie es schon einmal versucht?«

»Ja.«

»Vor diesem Mal?«

Sie nickt.

»Aber nicht, bevor Josef mit der Torte kam?«

»Nein.«

»Was hat er gesagt?«

»Ich will nicht daran denken.«

»Woran? An das, was er gesagt hat?«

Evelyn setzt sich gerade hin, und ihr Mund wird schmaler.

»Ich erinnere mich nicht«, sagt sie fast lautlos. »Es war sicher nichts Wichtiges.«

»Sie wollten sich erschießen, Evelyn«, erinnert Joona sie.

Sie steht auf, geht zum Fenster, schaltet den Kerzenständer aus und wieder an, kehrt zu ihrem Stuhl zurück, setzt sich und verschränkt die Arme vor dem Bauch.

»Können Sie mich nicht einfach in Ruhe lassen?«

»Wollen Sie das? Ist es wirklich das, was Sie wollen?«

Sie nickt, ohne ihn anzusehen.

»Möchten Sie eine Pause machen?«, erkundigt sich ihr Beistand.

»Ich weiß nicht, was mit Josef los ist«, sagt Evelyn leise. »In seinem Kopf stimmt etwas nicht. Das ist schon immer … als er klein war, da schlug er zu, aber zu hart, zu gefährlich. Er hat alle meine Sachen kaputt gemacht, ich durfte nichts haben.«

Ihr Mund zittert.

»Als er acht war, hat er mich gefragt, ob ich seine Freundin sein möchte. Das klingt jetzt vielleicht halb so wild, aber für mich war es das, ich wollte nicht, aber er hat von mir verlangt, dass wir uns küssen … ich hatte Angst vor ihm, er machte seltsame Dinge, schlich sich nachts zu mir ins Zimmer und biss mich so fest, dass ich blutete. Ich begann zurückzuschlagen, denn damals war ich noch stärker als er.«

Sie wischt Tränen von ihren Wangen.

»Also stürzte er sich stattdessen auf Buster, meinen Hund, wenn ich nicht tat, was er sagte … Es wurde immer schlimmer, er wollte meine Brüste sehen, er wollte mit mir baden … Er hat meinen Hund getötet und ihn von einer Straßenbrücke geworfen.«

Sie steht auf und geht rastlos zum Fenster.

»Josef war vielleicht zwölf, als er …«

Ihre Stimme bricht, und sie wimmert leise vor sich hin, ehe sie weiterspricht.

»Er fragte, ob ich seinen Pimmel in den Mund nehmen wollte. Ich sagte ihm, dass er eklig ist. Daraufhin ist er zu Lisa gegangen und hat sie geschlagen, sie war erst zwei …«

Evelyn weint, beruhigt sich dann aber wieder.

»Ich musste zugucken, wenn er wichste, mehrmals am Tag … und wenn ich mich weigerte, sagte er, er würde Lisa umbringen. Ziemlich bald, vielleicht ein paar Monate später, fing er an, von mir zu verlangen, dass ich mit ihm schlafe, jeden Tag fing er davon an, er drohte mir … aber mir fiel eine gute Antwort ein, ich sagte ihm, du bist noch minderjährig, es ist verboten, ich kann nichts tun, was verboten ist.«

Sie streicht sich die Tränen von den Wangen.

»Ich dachte, dass es irgendwann einfach aufhören würde, ich zog aus, ein Jahr verging, aber dann rief er mich regelmäßig an, um mir zu sagen, dass er mit fünfzehn sexuell volljährig sein würde. Danach habe ich mich versteckt, ich … ich begreife nicht, woher er wissen konnte, dass ich im Sommerhaus war, ich …«

Sie weint mit offenem Mund, ungehemmt.

»Oh mein Gott …«

»Und dann hat er Ihnen gedroht«, sagt Joona. »Er hat damit gedroht, die ganze Familie umzubringen, wenn er nicht …«

»Das hat er nicht gesagt!«, schrie sie. »Er hat gesagt, er würde mit Papa anfangen. Das ist alles meine Schuld … ich will nur noch sterben …«

Sie lässt sich an die Wand gelehnt zu Boden sinken und kauert sich zusammen.

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