2.
Dienstagmorgen, der achte Dezember
Kriminalkommissar Joona Linna bestellt im Il caffè in der Bergsgatan ein großes Ciabatta mit Parmesan, Bresaola und getrockneten Tomaten. Es ist früh am Morgen, und das kleine Café hat gerade erst geöffnet: Die junge Frau, die seine Bestellung entgegennimmt, ist bisher nicht einmal dazu gekommen, die Brote aus den Tüten auszupacken.
Nachdem er gestern Abend zu später Stunde die Tatorte in Tumba inspiziert, das überlebende Opfer im Karolinska-Krankenhaus in Solna besucht und mitten in der Nacht mit den beiden Ärzten Daniella Richards und Erik Maria Bark gesprochen hat, ist er zu seiner Wohnung im Stadtteil Fredhäll gefahren und hat drei Stunden geschlafen.
Jetzt wartet Joona auf sein Frühstück, betrachtet durch das beschlagene Fenster das Rathaus und denkt an den Tunnel, jenen unterirdischen Gang, der unter dem Park zwischen dem gewaltigen Gebäudekomplex der Polizei und dem Rathaus verläuft. Er bekommt seine EC-Karte zurück, leiht sich einen riesigen Stift von der gläsernen Theke, unterschreibt die Quittung und verlässt das Café.
Schneeregen fällt sehr schnell vom Himmel, als er mit seinem warmen Brotpaket in der einen Hand und der Sporttasche mit dem Hallenbandyschläger in der anderen die Bergsgatan hinaufeilt.
Heute spielen wir gegen die Fahndung – und werden verdammt alt aussehen, denkt Joona. Wir werden eine herbe Niederlage einstecken müssen, genau wie sie es uns angedroht haben.
Die Hallenbandymannschaft der Landeskriminalpolizei verliert gegen die Schutzpolizei, die Verkehrspolizei, die Wasserschutzpolizei, die nationale Eingreiftruppe, das Einsatzkommando und den Staatsschutz. Aber diese Spiele bieten den Beamten einen guten Vorwand, sich hinterher in einer Kneipe zu treffen und den Ärger herunterzuspülen.
Die Jungs aus dem Labor sind die Einzigen, die wir besiegt haben, denkt Joona.
Als Joona an der Längsseite des Polizeipräsidiums und am Haupteingang vorbeigeht, ahnt er noch nicht, dass er an diesem Dienstag weder Bandy spielen noch in die Kneipe gehen wird. Er sieht, dass jemand ein Hakenkreuz auf den Wegweiser zum Verhandlungssaal des Amtsgerichts gemalt hat. Mit großen Schritten geht er zum Untersuchungsgefängnis Kronoberg hinauf und sieht, wie sich das große Tor lautlos hinter einem Wagen schließt. Auf der großen Fensterscheibe des Wachhäuschens schmelzen Schneeflocken. Joona geht am Polizeischwimmbad vorbei und überquert den Rasen, um zur Kopfseite des riesigen Gebäudekomplexes zu gelangen. Die Fassade ähnelt dunklem Kupfer. Poliert, aber unter Wasser, denkt er. In dem langgezogenen Fahrradständer neben dem Saal für Haftprüfungsverhandlungen stehen keine Räder, an den beiden Fahnenstangen hängen die Flaggen nass herab. Joona eilt im Laufschritt zwischen zwei Metallkästen hindurch und unter das hohe Milchglasdach, stampft den Schnee von den Schuhen und betritt anschließend das Foyer des Landespolizeiamts.
Für die Polizei ist in Schweden eigentlich das Justizministerium verantwortlich, aber das Ministerium ist nicht befugt festzulegen, wie die Gesetze in der Praxis angewendet werden sollen. Zentrale Verwaltungsbehörde ist das Landespolizeiamt, zu dem auch die Landeskriminalpolizei, der Staatsschutz, die Polizeihochschule und das Staatliche Kriminaltechnische Labor SKL in Linköping gehören.
Die Landeskriminalpolizei ist Schwedens einzige zentrale operative Polizei. Ihre Aufgabe besteht darin, schwere Kriminalität auf nationaler und internationaler Ebene zu bekämpfen. Hier ist Joona Linna seit neun Jahren als Kriminalkommissar tätig.
Joona geht seinen Flur hinab, zieht am Schwarzen Brett die Mütze aus, überfliegt die Zettel über Yoga, einen zum Verkauf angebotenen Wohnwagen, Informationen der Gewerkschaft und geänderte Trainingszeiten des Schützenvereins.
Der Fußboden, der zuletzt am vorigen Freitag gewischt wurde, ist bereits sehr schmutzig. Die Tür zu Benny Rubin steht einen Spaltbreit offen. Der sechzigjährige Mann mit dem grauen Schnäuzer und dem faltigen, sonnenverbrannten Teint hat einige Jahre zur Olof-Palme-Ermittlungsgruppe gehört, arbeitet mittlerweile jedoch an der Umorganisation der Einsatzzentrale und dem Übergang zum neuen Funksystem Rachel. Er sitzt mit einer Zigarette hinter dem Ohr vor seinem Computer und tippt beängstigend langsam.
»Ich habe Augen im Hinterkopf«, sagt er plötzlich.
»Das erklärt vielleicht, warum du so schlecht tippst«, bemerkt Joona scherzhaft.
Er sieht, dass Bennys neuestes Fundstück ein Werbeplakat der Fluggesellschaft SAS ist: Eine junge, ansprechend exotisch aussehende Frau in einem winzigen Bikini trinkt mit einem Strohhalm ein Fruchtgetränk. Das Verbot von Kalendern mit Pin-up-Girls hatte Benny seinerzeit dermaßen provoziert, dass die meisten dachten, er würde kündigen. Stattdessen hat er sich seit vielen Jahren einem stummen und sturen Protest verschrieben. Am Ersten jedes Monats wechselt er die Wanddekoration. Kein Mensch hat gesagt, dass Reklame für Fluggesellschaften, Bilder von Eisprinzessinnen mit weit gespreizten Beinen, Yogainstruktionen oder Dessouswerbung von Hennes & Mauritz verboten sind. Joona erinnert sich an eine Abbildung der Sprinterin Gail Devers in eng sitzenden Shorts und eine gewagte Lithographie des Künstlers Egon Schiele, die eine rothaarige Frau mit gespreizten Beinen in einem weiten, langen Schlüpfer zeigte.
Joona bleibt stehen, um seine Assistentin und Kollegin Anja Larsson zu grüßen. Sie sitzt mit halb geöffnetem Mund vor dem Computer, und ihr kugelrundes Gesicht ist so konzentriert, dass er beschließt, sie lieber nicht zu stören. Stattdessen geht er in sein Büro, hängt den nassen Mantel an die Tür, schaltet den Adventsstern im Fenster ein und sieht flüchtig den Inhalt seines Fachs durch: ein Rundschreiben zum Thema Arbeitsatmosphäre, ein Vorschlag zur Verwendung von Energiesparlampen, eine Anfrage der Staatsanwaltschaft und eine Einladung des Betriebsrats zum Weihnachtsbüfett im Restaurant des Freilichtmuseums Skansen.
Joona verlässt sein Büro, geht ins Besprechungszimmer, setzt sich an seinen Stammplatz, packt sein Brot aus und isst.
Auf dem großen Whiteboard an der Längswand steht: Kleidung, Körperschutzausrüstung, Waffen, Tränengas, Kommunikationsmittel, Fahrzeuge, sonstige technische Hilfsmittel, Kanäle, Stationssignale, Funkkontaktzeiten, Funkstille, Codes, Verbindungskontrolle.
Petter Näslund bleibt im Flur stehen, lacht selbstzufrieden und lehnt sich mit dem Rücken zum Besprechungszimmer in den Türrahmen. Petter ist ein muskulöser und glatzköpfiger Mann von etwa fünfunddreißig Jahren. Er ist Erster Hauptkommissar, was ihn zu Joonas direktem Vorgesetzten macht. Seit Jahren flirtet er mit Magdalena Ronander, ohne ihre peinlich berührten Blicke und ihre ständigen Versuche zu bemerken, einen nüchtern kollegialen Ton anzuschlagen. Magdalena ist seit vier Jahren Kriminalinspektorin in der Fahndungsabteilung und hat sich das Ziel gesteckt, ihr Jurastudium noch vor ihrem dreißigsten Geburtstag abzuschließen.
Jetzt senkt Petter die Stimme, löchert Magdalena mit Fragen zur Wahl ihrer Dienstwaffe und will wissen, wie oft sie den Lauf wechselt, weil das Profil abgenutzt ist. Ohne seinen plumpen Zweideutigkeiten Beachtung zu schenken, erklärt sie, über abgefeuerte Schüsse genauestens Buch zu führen.
»Aber du stehst doch bestimmt auf diese dicken Dinger – oder?«, sagt Petter.
»Nein, eigentlich nicht, ich benutze eine Glock 17«, antwortet sie. »Die schluckt jede Menge von der 9-Millimeter-Armeemunition.«
»Benutzt du keine tschechischen …«
»Doch, schon … aber lieber m39B«, sagt sie.
Die beiden betreten das Besprechungszimmer, setzen sich auf ihre Plätze und begrüßen Joona.
»Außerdem hat die Glock neben Kimme und Korn noch einen Kompensator«, fährt sie fort. »Der Rückstoß wird auf ein Minimum reduziert, und man kommt schneller zum nächsten Schuss.«
»Und was meint unser Mumintroll dazu?«, erkundigt sich Petter.
Joona lächelt sanft, und seine hellgrauen Augen werden eisig klar, als er Petter mit seinem singenden finnischen Akzent antwortet:
»Dass das alles keine Rolle spielt, entscheidend sind ganz andere Dinge.«
»Du hast es also nicht nötig, schießen zu können«, grinst Petter.
»Joona ist ein guter Schütze«, wirft Magdalena Ronander ein.
»Gut in allem«, seufzt Petter.
Magdalena ignoriert Petter und wendet sich stattdessen Joona zu.
»Der größte Vorteil der kompensierten Glock besteht darin, dass man im Dunkeln keine Pulvergase vor der Mündung sieht.«
»Stimmt genau«, sagt Joona leise.
Sie wirkt gut gelaunt, als sie ihre schwarze Ledermappe öffnet und in ihren Papieren blättert. Benny kommt herein, setzt sich, sieht alle an, haut mit der flachen Hand fest auf die Tischplatte und lächelt anschließend breit, als Magdalena Ronander ihm einen gereizten Blick zuwirft.
»Ich habe den Fall in Tumba übernommen«, erklärt Joona.
»Welcher Fall ist das?«, fragt Petter.
»Eine komplette Familie ist durch Messerstiche ermordet worden«, antwortet Joona.
»Das geht uns nichts an«, sagt Petter.
»Ich denke, es könnte sich um einen Serienmörder handeln oder zumindest …«
»Jetzt hör aber auf«, unterbricht Benny Joona, sieht ihm in die Augen und schlägt nochmals mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Das war doch bloß eine Abrechnung«, fährt Petter fort. »Darlehen, Schulden, Wetten … Auf der Trabrennbahn kannte ihn jeder.«
»Spielsucht«, bestätigt Benny.
»Er hat sich vor Ort Geld im kriminellen Milieu geliehen und dafür die Quittung bekommen«, erklärt Petter abschließend.
Es wird still. Joona trinkt einen Schluck Wasser, pickt ein paar Krümel vom Tisch auf und steckt sie sich in den Mund.
»Ich habe die richtige Nase für diesen Fall«, beharrt er gedämpft.
»Dann wirst du dich wohl versetzen lassen müssen«, sagt Petter grinsend. »Dieser Fall ist nichts für die Landeskripo.«
»Ich glaube schon.«
»Wenn du den Fall haben willst, musst du schon Streifenpolizist in Tumba werden«, erwidert Petter.
»Ich habe vor, diese Morde zu untersuchen«, beharrt Joona.
»Das ist meine Entscheidung«, entgegnet Petter.
Yngve Svensson kommt herein und setzt sich. Seine Haare sind zurückgegelt, er hat blaugraue Ringe unter den Augen, einen rötlichen Stoppelbart und trägt wie immer einen zerknitterten, schwarzen Anzug.
»Yngwie«, sagt Benny zufrieden.
Yngve Svensson ist einer der führenden Experten für organisiertes Verbrechen im Land, Leiter der Analyseabteilung und Mitglied der Einheit für internationale Polizeizusammenarbeit.
»Yngve, was sagst denn du zu den Morden in Tumba?«, fragt Petter. »Du hast dir das doch bestimmt angesehen, oder?«
»Ja, das scheint mir eine lokale Angelegenheit zu sein«, erklärt er. »Der Geldeintreiber fährt zu dem Haus. Der Familienvater müsste um diese Uhrzeit eigentlich zu Hause sein, ist aber als Schiedsrichter bei einem Fußballspiel eingesprungen. Der Geldeintreiber hat wahrscheinlich sowohl Speed als auch Rohypnol eingeschmissen, ist völlig von der Rolle und gestresst, wird durch irgendetwas provoziert und geht mit einem SWAT-Messer auf die Familie los. Die sagen ihm bestimmt, wo der Vater ist, aber der Typ dreht komplett durch und bringt alle um, ehe er zum Sportplatz weiterfährt.«
Petter lächelt spöttisch, trinkt ein paar große Schlucke Wasser, rülpst in seine hohle Hand, sieht Joona an und fragt:
»Und, was sagst du zu dieser Erklärung?«
»Wenn sie nicht falsch wäre, dann wäre sie unter Umständen gut«, antwortet Joona.
»Und was ist so falsch an ihr?«, fragt Yngve kampflustig.
»Der Mörder hat erst den Mann am Fußballplatz getötet«, antwortet Joona ruhig. »Dann ist er zu dem Haus gefahren und hat die anderen umgebracht.«
»Und wenn das stimmt, kann er kein Geldeintreiber gewesen sein«, sagt Magdalena Ronander.
»Wir werden ja sehen, was bei der Obduktion herauskommt«, murmelt Yngve.
»Sie wird zeigen, dass ich Recht habe«, erwidert Joona.
»Idiot«, seufzt Yngve und stopft sich zwei Portionstütchen Schweden-Snus unter die Lippe.
»Joona, ich werde dir diesen Fall nicht übergeben«, sagt Petter.
»Das ist mir klar«, seufzt Joona und steht auf.
»Wo willst du hin – wir haben eine Besprechung«, sagt Petter.
»Ich muss mit Carlos reden.«
»Nicht über diese Sache.«
»Doch«, antwortet Joona und verlässt den Raum.
»Bleib hier«, ruft Petter. »Sonst muss ich …«
Joona hört nicht mehr, womit ihm gedroht wird, sondern schließt ruhig die Tür hinter sich, geht den Flur hinunter und grüßt Anja, die seinem Blick über den Computerbildschirm hinweg mit fragender Miene begegnet.
»Bist du nicht in einer Besprechung?«, fragt sie.
»Doch«, antwortet er und schlägt den Weg zum Aufzug ein.
In der fünften Etage befinden sich der Konferenzraum der Landeskriminalpolizei und darüber hinaus das Sekretariat und das Büro von Carlos Eliasson, dem Leiter der Landeskriminalpolizei. Seine Tür ist angelehnt, aber wie üblich mehr geschlossen als offen.
»Herein, herein, herein«, ruft Carlos.
Als Joona eintritt, spiegeln sich gleichzeitig Sorge und Freude in Carlos’ Gesicht.
»Ich will nur kurz meine Kleinen füttern«, sagt er und klopft gegen den Rand des Aquariums.
Lächelnd betrachtet er die Fische, die zur Oberfläche schwimmen, und krümelt Fischfutter ins Wasser.
»Da hast du was«, flüstert er.
Carlos zeigt Nikita, dem kleinsten Paradiesfisch, die Richtung an, dreht sich anschließend um und sagt freundlich:
»Die Mordkommission hat sich erkundigt, ob du dir den Mord in Dalarna anschauen könntest.«
»Den lösen die auch ohne mich«, sagt Joona.
»Sie scheinen sich da nicht so sicher zu sein – Tommy Kofoed ist hier gewesen und hat in der Sache vorgesprochen …«
»Ich habe so oder so keine Zeit«, unterbricht Joona ihn.
Er setzt sich Carlos gegenüber, in dessen Büro es angenehm nach Leder und Holz riecht. Über den Umweg durch das Aquarium scheint die Sonne flirrend in den Raum.
»Ich will den Fall in Tumba übernehmen«, sagt Joona ohne Umschweife.
Für einen kurzen Moment gewinnt der bekümmerte Ausdruck in Carlos’ faltigem, warmherzigem Gesicht die Oberhand.
»Petter Näslund hat mich vor einer Sekunde angerufen. Er hat Recht, das ist nichts für die Landeskripo«, sagt Carlos vorsichtig.
»Da bin ich anderer Meinung«, widerspricht Joona.
»Nur wenn das Eintreiben der Geldschulden mit organisierter Kriminalität zusammenhängt, Joona.«
»Hier ging es nicht darum, Geld einzutreiben.«
»Nicht?«
»Der Mörder hat zuerst den Mann angegriffen«, stellt Joona fest. »Danach ist er zu dem Reihenhaus gefahren, um mit der Familie weiterzumachen. Er wollte die ganze Familie ermorden, er wird auch noch die erwachsene Tochter und den Jungen finden, falls der überlebt.«
Carlos wirft einen kurzen Blick auf sein Aquarium, als befürchtete er, dass seinen Fischen etwas Furchtbares zu Ohren kommen könnte.
»So, so«, sagt er skeptisch. »Und woher weißt du das?«
»Die Schritte im Blut waren im Haus kürzer.«
»Wie meinst du das?«
Joona beugt sich vor und sagt:
»Es waren natürlich überall Fußabdrücke, und ich habe die Schritte auch nicht ausgemessen, aber die in der Umkleide kamen mir … nun ja, frischer vor, die Schritte im Haus waren müder.«
»Jetzt geht das wieder los«, sagt Carlos matt. »Jetzt fängst du wieder an, die Dinge komplizierter zu machen, als sie sind.«
»Aber ich habe Recht«, erwidert Joona.
Carlos schüttelt den Kopf.
»Ich glaube, diesmal irrst du dich.«
»Nein, ich habe Recht.«
Carlos wendet sich den Fischen zu und sagt:
»Dieser Joona Linna ist der sturste Mensch, dem ich je begegnet bin.«
»Aber was passiert, wenn man nachgibt, obwohl man weiß, dass man Recht hat?«
»Nur, weil du so ein Gefühl hast, kann ich dir nicht über Petters Kopf hinweg den Fall übergeben«, erklärt Carlos.
»Doch.«
»Alle glauben, dass es um die Eintreibung von Spielschulden geht.«
»Du auch?«, fragt Joona.
»Oh ja, allerdings.«
»Die Spuren in der Umkleide waren kraftvoller, weil der Mann zuerst ermordet wurde«, beharrt Joona.
»Du gibst wohl nie auf«, sagt Carlos. »Stimmt’s?«
Joona zuckt mit den Schultern und lächelt.
»Am besten rufe ich sofort in der Rechtsmedizin an«, murmelt Carlos und greift nach dem Telefon.
»Sie werden dir sagen, dass ich Recht habe«, antwortet Joona mit gesenktem Blick.
Joona Linna weiß, dass er ein sturer Mensch ist, aber er weiß auch, dass er seine Sturheit braucht, um weitermachen zu können. Vielleicht hat es mit Joonas Vater begonnen, Yrjö Linna, der Streifenpolizist im Polizeidistrikt Märsta war. Joonas Vater befand sich auf der alten Landstraße nach Uppsala, etwas nördlich des Löwenströmska-Krankenhauses, als bei der Einsatzzentrale ein Anruf einging und man ihn in den Hammarbyvägen in Upplands Väsby schickte. Ein Nachbar hatte die Polizei angerufen und gemeldet, dass Olssons Kinder mal wieder Prügel bezogen. 1979 hatte Schweden als erstes Land der Welt die körperliche Züchtigung von Kindern unter Strafe gestellt, und die Landeskriminalpolizei hatte die örtlichen Polizeikräfte angewiesen, das neue Gesetz ernst zu nehmen. Yrjö Linna fuhr mit seinem Streifenwagen auf den Hof und hielt vor der Haustür. Er wartete auf seinen Kollegen Jonny Andersen. Wenige Minuten später meldete sich der Kollege über Funk. Jonny stand vor einer Würstchenbude an und meinte, dass ein Mann auch mal zeigen dürfe, wer der Herr im Haus ist. Yrjö Linna war ein schweigsamer Mensch. Er wusste, dass die Dienstvorschriften bei einem Einsatz dieser Art vorsahen, dass man zu zweit war, aber er bestand nicht darauf. Er sagte nichts, obwohl er wusste, dass er ein Recht auf Unterstützung hatte. Er wollte nicht meckern, wollte nicht feige wirken und konnte nicht länger warten. Yrjö Linna stieg die Treppen in den dritten Stock hinauf und klingelte. Ein Mädchen öffnete ihm mit ängstlichen Augen die Tür. Er bat sie, im Treppenhaus zu warten, aber die Kleine schüttelte nur den Kopf und lief in die Wohnung. Yrjö Linna folgte ihr und gelangte ins Wohnzimmer. Das Mädchen hämmerte gegen die Tür zum Balkon. Yrjö entdeckte, dass dort draußen ein kleiner Junge stand, der nur mit einer Windel bekleidet war. Er schien etwa zwei Jahre alt zu sein. Yrjö eilte quer durch den Raum, um das Kind hereinzulassen und entdeckte deshalb zu spät den betrunkenen Mann, der vollkommen regungslos hinter der Tür auf der Couch saß und das Gesicht dem Balkon zugewandt hatte. Yrjö musste beide Hände einsetzen, um die Sperre lösen und gleichzeitig die Klinke herabdrücken zu können. Erst als er das Klicken der Schrotflinte hörte, hielt er inne. Der Schuss fiel, und ein Schwarm von sechsunddreißig kleinen Bleikugeln traf seinen Rücken. Er war auf der Stelle tot.
Der elfjährige Joona zog mit seiner Mutter Ritva aus der hellen Wohnung im Zentrum von Märsta in die Dreizimmerwohnung seiner Tante im Stockholmer Stadtteil Fredhäll. Nach dem Abitur bewarb er sich an der Polizeihochschule. Noch heute denkt er ziemlich oft an die Freunde in seiner Gruppe, an die Spaziergänge über die großen Rasenflächen, die Ruhe, die der Zeit als Anwärter und den ersten Jahren als Polizeimeister vorausging. Joona Linna hat ein gehöriges Maß an Schreibtischarbeit bewältigt, an Gleichstellungsplänen mitgearbeitet und sich gewerkschaftlich engagiert, er hat beim Stockholmer Marathonlauf und bei Hunderten von Autounfällen den Verkehr umgeleitet, hat sich verlegen gewunden, wenn Fußballhooligans in der U-Bahn seine Kolleginnen mit gellenden Gesängen belästigten: »Was machste mit dem Schlagstock, Bullensau – rein und raus!«, er hat tote Heroinsüchtige mit eiternden Wunden gefunden, ein ernstes Wort mit Ladendieben geredet und Rettungssanitätern bei kotzenden Betrunkenen geholfen, er hat mit Prostituierten gesprochen, die aidskrank und verängstigt unter Entzugserscheinungen leidend zitterten, er ist Hunderten Männern begegnet, die Frau und Kinder nach dem immer gleichen Muster misshandelten, betrunken, aber beherrscht, das Radio auf voller Lautstärke und die Jalousien heruntergelassen, er hat Raser und volltrunkene Autofahrer angehalten, Waffen, Drogen und selbstgebrannten Schnaps beschlagnahmt. Als er wegen eines Hexenschusses krankgeschrieben war und einen Spaziergang machte, um nicht völlig einzurosten, beobachtete er einen Skinhead, der einer Muslimin an die Brust grapschte. Er war dem Skinhead mit schmerzendem Rücken am Ufer entlang hinterhergelaufen, durch den ganzen Park, an Smedsudden vorbei, auf die Västerbron hinauf, über die ganze Brücke und die Insel Långholmen hinweg bis nach Södermalm und hatte den Mann erst an der Högalidsgatan erwischt.
Ohne es auf eine Karriere angelegt zu haben, ist Joona Linna immer wieder befördert worden. Er stellt sich gerne schwierigen Aufgaben und gibt niemals auf. Er hat eine Krone und zwei Eichenlaubtressen als Zeichen seines Dienstgrades, aber die Goldkordelschleife eines Hauptkommissars fehlt ihm derzeit noch. Leitende Positionen gleich welcher Art interessieren ihn einfach nicht, und er weigert sich, Mitglied der Landesmordkommission zu werden.
An diesem Dezembermorgen sitzt Joona Linna nun im Büro des Leiters der Landeskriminalpolizei. Trotz der langen Nacht im Vorort Tumba und im Karolinska-Krankenhaus ist er noch nicht müde, als er zuhört, wie Carlos Eliasson mit dem stellvertretenden Chefobduzenten in der Stockholmer Rechtsmedizin, Professor Nils Åhlén, spricht.
»Nein, ich muss nur wissen, was der erste Tatort gewesen ist«, sagt Carlos und lauscht eine Weile. »Das verstehe ich, das verstehe ich … aber wie ist deine vorläufige Einschätzung?«
Joona lehnt sich zurück, kratzt sich in seinen blonden zerzausten Haaren und sieht das Gesicht seines Chefs immer roter anlaufen. Carlos lauscht der monotonen Stimme Åhléns, und statt etwas zu erwidern, nickt er nur und legt auf, ohne sich zu verabschieden.
»Sie … sie …«
»Sie haben festgestellt, dass der Vater als Erster getötet wurde«, ergänzt Joona.
Carlos nickt.
»Habe ich es dir nicht gesagt?«, meint Joona lächelnd.
Carlos blickt zu Boden und räuspert sich.
»Okay, du leitest die Ermittlungen«, sagt er. »Der Fall in Tumba gehört dir.«
»Gleich«, antwortet Joona ernst.
»Gleich?«
»Erst will ich etwas hören. Wer hatte Recht? Wer hatte Recht, du oder ich?«
»Du«, brüllt Carlos. »Um Himmels willen, Joona, was ist nur los mit dir? Du hattest wie immer Recht!«
Als Joona aufsteht, verbirgt er ein Lächeln hinter vorgehaltener Hand.
»Jetzt muss ich meinen Zeugen vernehmen, bevor es zu spät ist.«
»Du willst den Jungen vernehmen?«, fragt Carlos.
»Ja.«
»Hast du mit dem Staatsanwalt gesprochen?«
»Ich werde die Ermittlungen erst abgeben, wenn ich einen Verdächtigen habe«, erklärt Joona.
»Schon gut, das meine ich doch gar nicht«, sagt Carlos. »Ich glaube nur, dass es gut wäre, die Staatsanwaltschaft mit ins Boot zu holen, wenn du mit einem schwer verletzten Jugendlichen reden willst.«
»Okay, du bist wie immer sehr vernünftig – ich rufe Jens an«, sagt Joona und geht.