30.

Sonntagnachmittag, der dreizehnte Dezember,


Luciafest


Auf das Dach der Würstchenbude hat man eine riesige Brühwurst mit fröhlich grinsendem Mund installiert, die sich mit der einen Hand mit Ketchup begießt und sich mit der anderen mit erhobenem Daumen anpreist. Erik bestellt einen Hamburger mit Pommes frites, setzt sich auf einen der Barhocker an der schmalen Ablagefläche am Fenster und sieht durch die beschlagene Scheibe hinaus. Auf der anderen Straßenseite liegt das Ladenlokal eines Schlüsseldienstes. Das Schaufenster ist für die Weihnachtszeit mit kniehohen Weihnachtswichteln an diversen Safes, Schlössern und Schlüsseln dekoriert.

Erik öffnet eine Dose Mineralwasser, trinkt einen Schluck und ruft zu Hause an. Er hört seine eigene Stimme auf dem Anrufbeantworter, die ihn auffordert, eine Nachricht zu hinterlassen. Er trennt die Verbindung und ruft stattdessen Simones Handy an. Sie meldet sich nicht, und nach dem Piepton der Mailbox sagt er:

»Hallo Simone … Ich wollte dir nur sagen, dass du Polizeischutz akzeptieren solltest, denn Josef Ek scheint wirklich sehr wütend auf mich zu sein … Das war alles.«

Als er einen Bissen von seinem Hamburger isst, rebelliert sein leerer Magen. Müdigkeit droht ihn zu übermannen. Er spießt die stark frittierten Pommes auf seine Plastikgabel und denkt an Joona Linnas Gesicht nach der Lektüre von Josefs Brief. Als hätte es einen Temperatursturz gegeben. Seine hellgrauen Augen wurden zu Eis, aber gleichzeitig schärfte sich sein Blick.

Joona hat ihn vor vier Stunden angerufen und ihm mitgeteilt, dass Josef ihnen erneut entwischt ist. Er hatte sich zwar in dem Keller aufgehalten, konnte aber fliehen. Nichts deutet darauf hin, dass Benjamin auch dort gewesen ist. Im Gegenteil, die vorläufigen Ergebnisse der DNA-Untersuchungen zeigen, dass Josef sich in dem Raum die ganze Zeit allein aufgehalten hat.

Erik versucht, sich an Evelyns Gesicht und ihre genauen Worte zu erinnern, als ihr schlagartig klar wurde, dass Josef in sein Elternhaus zurückgekehrt war. Er denkt nicht, dass Evelyn ihnen absichtlich nichts von dem geheimen Raum erzählt hat. Sie hat einfach nicht daran gedacht. Erst als ihr klar wurde, dass Josef zurückgekehrt war und sich im Haus versteckt hielt, fiel ihr das verborgene Zimmer wieder ein.

Josef Ek will mir etwas antun, denkt Erik. Er ist eifersüchtig und hasst mich, er bildet sich ein, dass Evelyn und ich eine sexuelle Beziehung haben, und ist darauf fixiert, sich an mir zu rächen. Aber er weiß nicht, wo ich wohne. In seinem Brief verlangt er von Evelyn, es ihm zu erzählen. Du wirst mir zeigen, wo er wohnt, hatte er geschrieben.

»Er weiß nicht, wo ich wohne«, flüstert Erik. »Wenn Josef nicht weiß, wo ich wohne, kann er auch nicht bei uns eingedrungen sein und Benjamin verschleppt haben.«

Erik verspeist seinen Hamburger, wischt sich die Hände an der Serviette ab und versucht noch einmal, Simone zu erreichen. Sie muss erfahren, dass Josef Ek nicht Benjamins Entführer ist. Flüchtig regt sich Erleichterung in ihm, obwohl er wieder von vorn anfangen, alles noch einmal neu durchdenken muss. Erik zieht einen Zettel heraus, schreibt Aida darauf, überlegt es sich jedoch wieder anders und zerknüllt ihn. Simone muss sich einfach an mehr erinnern, sagt er sich, irgendetwas muss sie doch gesehen haben.

Joona Linna hat sie vernommen, aber ihr ist nichts Neues eingefallen. Sie haben sich viel zu sehr auf Josef konzentriert, auf das zufällige Zusammentreffen seiner Flucht mit Benjamins Entführung. Jetzt findet er das fast schon wieder komisch. Das passte doch einfach nicht, das hat er die ganze Zeit gesagt. Als das erste Mal jemand bei ihnen eindrang, war Josef noch gar nicht geflohen. Er ist ein Serienmörder, er ist auf den Geschmack gekommen. Jemanden zu entführen, passt nicht in Josefs Verhaltensmuster. Evelyn ist die Einzige, die er entführen will, er ist auf sie fixiert, bei allem, was er tut, ist sie seine Motivation.

Das Handy klingelt, und er legt den Hamburger weg, wischt sich noch einmal die Hände ab und meldet sich, ohne auf das Display zu schauen.

»Erik Maria Bark.«

Es knistert und dröhnt gleichzeitig dumpf.

»Hallo?«, sagt Erik mit erhobener Stimme.

Plötzlich hört er eine schwache Stimme.

»Papa?«

Es zischt, als der Frittierkorb ins heiße Öl gesenkt wird.

»Benjamin?«

Ein Hamburger wird auf dem Brattisch gewendet. Es kracht im Telefon.

»Warte, ich höre dich nicht.«

Erik drängelt sich an neuen Gästen vorbei auf den Parkplatz hinaus. Schnee wirbelt um die gelbe Straßenbeleuchtung.

»Benjamin!«

»Hörst du mich?«, fragt Benjamin und klingt ganz nah.

»Wo bist du? Sag mir, wo du bist!«

»Ich weiß es nicht, Papa, ich kapiere gar nichts, ich liege in einem Auto, das immer weiter fährt …«

»Wer hat dich entführt?«

»Ich bin hier aufgewacht, ich habe nichts gesehen, ich habe Durst …«

»Bist du verletzt?«

»Papa«, sagt Eriks Sohn weinend.

»Ich bin hier, Benjamin.«

»Was passiert hier?«

Er klingt ängstlich und klein.

»Ich werde dich finden«, sagt Erik. »Weißt du, wohin du fährst?«

»Als ich aufgewacht bin, habe ich ganz dumpf eine Stimme gehört. Wie war das noch? Es war irgendetwas mit … mit einem Haus, glaube ich …«

»Sag mir mehr! Was denn für ein Haus?«

»Nein, kein Haus … ein verwunschenes Schloss.«

»Und wo?«

»Jetzt halten wir, Papa, das Auto hat angehalten, ich höre Schritte«, sagt Benjamin mit panischer Angst in der Stimme. »Ich kann nicht mehr reden.«

Man hört seltsame wühlende Geräusche, es knackt, und als Nächstes ertönt Benjamins Schrei, seine Stimme ist gehetzt und gellend, er klingt furchtbar ängstlich:

»Lass mich, ich will nicht, bitte, ich verspreche …«

Es wird still, die Leitung ist unterbrochen.

Trockene Schneeflocken wirbeln über den Parkplatz vor der Würstchenbude. Erik sieht das Handy an, traut sich aber nicht, es zu benutzen, will nicht riskieren, einen neuen Anruf von Benjamin zu blockieren. Er wartet vor dem Auto und hofft, dass Benjamin ihn noch einmal anruft. Er versucht, sich das Gespräch zu vergegenwärtigen, verliert aber immer wieder den Faden. Benjamins Angst hallt mit schnellen Stößen durch seinen Kopf. Er erkennt, dass er Simone Bescheid sagen muss.

Ein Band aus roten Rücklichtern schlängelt sich gen Norden und teilt sich wie die Zunge einer Schlange nach rechts Richtung Universität und E 18 und nach links Richtung Karolinska-Krankenhaus und E 4. Tausende Autos in einem langsam fließenden Verkehr. Erik weiß, dass er Handschuhe und Mütze neben dem Hamburger liegen gelassen hat, aber das ist ihm egal.

Als er sich ins Auto setzt, zittern seine Hände so, dass er den Schlüssel nicht ins Zündschloss bekommt. Er muss beide Hände zu Hilfe nehmen. Als er in der Dunkelheit zurücksetzt und auf den Valhallavägen biegt, schimmert die Fahrbahn grau und feucht vom nassen Schnee. Erik parkt auf der Döbelnsgatan, geht mit großen Schritten die Luntmakargatan hinab, fühlte sich seltsam fremd, als er durch den Hauseingang tritt und die Treppen hinaufsteigt. Er klingelt an der Tür, wartet, hört Schritte und das leise klickende Geräusch des Metalldeckels, der vom Spion weggeschoben wird. Er hört, wie die Tür von innen aufgeschlossen wird. Im nächsten Moment öffnet Erik die Tür und betritt den dunklen Flur. Simone ist ein Stück zurückgewichen und hat die Arme vor der Brust verschränkt. Sie trägt eine Jeans und den blauen Strickpullover und sieht sehr verbissen aus.

»Du gehst nicht ans Telefon«, sagt Erik.

»Ich habe gesehen, dass du angerufen hast«, erwidert sie gedämpft. »War es wichtig?«

»Ja.«

In ihr Gesicht tritt all die Sorge und Furcht, die sie krampfhaft zu verbergen versucht hat. Sie hält eine Hand vor den Mund und starrt ihn an.

»Benjamin hat mich vor einer halben Stunde angerufen.«

»Oh, mein Gott …«

Simone kommt näher.

»Wo ist er?«, fragt sie mit erhobener Stimme.

»Ich weiß es nicht, er wusste es selbst nicht, er wusste nichts …«

»Aber was hat er denn gesagt?«

»Dass er in einem Auto liegt.«

»Ist er verletzt?«

»Ich glaube nicht.«

»Aber was …«

»Warte«, unterbricht Erik sie. »Ich muss erst telefonieren, vielleicht kann man das Gespräch zurückverfolgen.«

»Wen willst du anrufen?«

»Die Polizei«, antwortet er. »Ich habe einen Ansprechpartner, der …«

»Ich rede mit meinem Vater – das geht schneller«, unterbricht Simone ihn.

Sie nimmt das Telefon, und er setzt sich im Dunkeln auf das flache Bänkchen und spürt, wie sich sein Gesicht in der Wärme erhitzt hat.

»Hast du geschlafen?«, fragt Simone. »Papa, ich muss … Erik ist hier, er hat mit Benjamin gesprochen, du musst das Gespräch zurückverfolgen lassen. Das weiß ich nicht. Nein, ich habe keine … Du musste selbst mit ihm reden.«

Erik steht auf und winkt abwehrend, als sie näher kommt, nimmt aber dennoch das Telefon entgegen und hält es sich ans Ohr.

»Hallo.«

»Erzähl mir, was passiert ist, Erik«, sagt Kennet.

»Ich wollte mit der Polizei sprechen, aber Simone meinte, du könntest das Gespräch schneller zurückverfolgen.«

»Da könnte sie Recht haben.«

»Benjamin hat mich vor einer halben Stunde angerufen, er wusste nichts, weder wo er war, noch wer ihn entführt hat, er wusste im Grunde nur, dass er in einem Auto lag … und während wir sprachen, hielt der Wagen an. Benjamin meinte, er würde Schritte hören, und dann rief er etwas, und danach wurde es still.«

Erik hört Simones ersticktes Weinen.

»Hat er mit seinem Handy telefoniert?«, fragt Kennet.

»Ja.«

»Es ist nämlich ausgeschaltet gewesen … ich hatte vorgestern schon versucht, es orten zu lassen, du weißt ja, auch wenn sie nicht benutzt werden, senden Handys Signale an die nächstgelegene Basisstation.«

Erik hört schweigend zu, während Kennet hastig erklärt, dass die Telefonanbieter nach Paragraf 25 bis 27 des Telekommunikationsgesetzes verpflichtet sind, der Polizei zu helfen, wenn die Mindeststrafe für die Strafsache, in der ermittelt wird, mindestens zwei Jahre Gefängnis beträgt.

»Was können die herausfinden?«, erkundigt sich Erik.

»Die Präzision ist ganz unterschiedlich, es kommt auf die Stationen und die Richtfunkknoten an, aber mit etwas Glück haben wir schon bald eine Ortsangabe mit einem Radius von hundert Metern.«

»Beeil dich, du musst dich beeilen.«

Erik beendet das Gespräch und gibt das Telefon Simone.

»Was hast du mit deiner Wange gemacht?«, fragt er.

»Was? Ach so, das ist nichts«, antwortet sie.

Erschöpft und verletzlich sehen sie einander an.

»Willst du hereinkommen, Erik?«, fragt sie.

Er nickt, bleibt einen Moment stehen, streift dann seine Schuhe ab, geht weiter in die Wohnung hinein, sieht, dass der Computer in Benjamins Zimmer eingeschaltet ist, und stellt sich davor.

»Hast du was gefunden?«

Simone bleibt im Türrahmen stehen.

»Ein paar Mails zwischen Benjamin und Aida«, sagt sie. »Anscheinend haben sie sich bedroht gefühlt.«

»Von wem?«

»Das wissen wir nicht. Mein Vater geht der Sache nach.«

Erik setzt sich an den Computer.

»Benjamin lebt«, sagt er leise und sieht sie lange an.

»Ja.«

»Josef Ek scheint mit der Sache nichts zu tun zu haben.«

»Du hast auf dem Anrufbeantworter gesagt, dass er nicht weiß, wo wir wohnen«, erwidert sie. »Aber er hat doch hier angerufen, dann kann er doch auch …«

»Das ist was anderes«, unterbricht er sie.

»Wirklich?«

»Die Zentrale hat das Gespräch durchgestellt«, erklärt er. »Ich hatte sie darum gebeten, Anrufe durchzustellen, falls etwas Wichtiges sein sollte. Er kennt weder unsere Telefonnummer noch unsere Adresse.«

»Aber irgendjemand hat Benjamin entführt und ihn in ein Auto gelegt …«

Sie verstummt.

Erik liest die Mail von Aida, in der sie bedauert, dass Benjamin in einem Haus voller Lügen lebt, und öffnet anschließend das angehängte Bild: eine nachts mit Blitzlicht aufgenommene Fotografie von einer gelbgrünen, wildwüchsigen Rasenfläche. Sie scheint zu einer flachen Hecke hin ein wenig abzufallen. Hinter der vertrockneten Hecke erkennt man schemenhaft die Rückseite eines braunen Holzzauns. Am Rand des grellen weißen Lichts sieht man einen grünen Laubkorb aus Plastik und etwas, das ein Gemüsegarten sein könnte.

Eriks Augen suchen das Bild ab und versuchen zu verstehen, was das eigentliche Motiv ist, ob es irgendwo einen Igel oder eine Spitzmaus gibt, die er nur noch nicht entdeckt hat. Er versucht, in die Dunkelheit jenseits des Blitzlichts zu sehen und zu erkennen, ob es dort einen Menschen gibt, ein Gesicht, findet aber nichts.

»Was für ein seltsames Foto«, flüstert Simone.

»Vielleicht hat Aida nur das falsche Bild angehängt«, sagt Erik.

»Das würde erklären, warum Benjamin die Mail gelöscht hat.«

»Wir müssen mit Aida hierüber und über …«

»Das Faktorpräparat«, wimmert Simone auf einmal. »Hast du ihm am Dienstag das Faktorpräparat gegeben?«

Bevor er ihr antworten kann, verlässt sie das Zimmer und geht durch den Flur in die Küche. Er folgt ihr. Als er eintritt, steht sie am Fenster und putzt sich mit einem Stück Küchenrolle die Nase. Erik streckt die Hand aus, um sie zu streicheln, aber sie entzieht sich seiner Berührung. Er weiß genau, wann Benjamin die letzte Spritze mit dem Faktorpräparat bekommen hat, das seinem Blut bei der Gerinnung hilft, ihn vor spontanen Hirnblutungen schützt und verhindert, dass er womöglich nur wegen einer schnellen Bewegung verblutet.

»Dienstagmorgen um zehn nach neun habe ich ihm die Spritze gegeben. Er wollte eislaufen gehen, ist aber stattdessen mit Aida nach Tensta gefahren.«

Sie nickt und rechnet mit zuckendem Gesicht nach:

»Heute ist Sonntag. Übermorgen müsste er eine neue Spritze bekommen«, flüstert sie.

»Auch danach wird es die ersten Tage noch nicht gefährlich werden«, sagt Erik beruhigend.

Er sieht sie an, ihre erschöpftes Gesicht, die müden Züge, die Sommersprossen. Die Hüfthose, der Rand des gelben Slips parallel zum Bund. Er würde gerne bleiben, einfach nur bleiben, er würde sich wünschen, mit ihr im gleichen Bett zu schlafen, im Grunde würde er gerne mit ihr schlafen, aber er weiß, dass die Zeit für all das noch nicht reif ist, es ist zu früh, es auch nur zu versuchen, zu früh, um sich danach zu sehnen.

»Ich werde gehen«, murmelt er.

Sie nickt.

Sie sehen einander an.

»Ruf an, wenn Kennet das Gespräch geortet hat.«

»Wo willst du hin?«, fragt sie.

»Ich muss arbeiten.«

»Schläfst du im Büro?«

»Das ist ziemlich praktisch.«

»Du könntest hier schlafen«, sagt sie.

Er ist überrascht und weiß nicht, was er sagen soll. Aber der kurze Moment der Stille reicht aus, damit sie seine Reaktion als Zögern auslegt.

»Das war nicht als Einladung gemeint«, sagt sie schnell. »Bilde dir bloß nichts ein.«

»Danke gleichfalls«, antwortet er.

»Bist du zu Daniella gezogen?«

»Nein.«

»Wir haben uns schon getrennt«, sagt sie mit lauter Stimme. »Du brauchst mich also nicht mehr anzulügen.«

»Okay.«

»Was jetzt? Okay was?«

»Ich bin zu Daniella gezogen«, lügt er.

»Gut«, flüstert sie.

»Ja.«

»Ich werde dich nicht fragen, ob sie jung und hübsch ist und …«

»Das ist sie«, unterbricht Erik sie.

Er geht in den Flur, zieht seine Schuhe an und zieht die Tür hinter sich zu. Ehe er weitergeht, wartet er, bis Simone abgeschlossen und die Kette vorgelegt hat.

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