38.

Mittwochvormittag, der sechzehnte Dezember


Erik zuckt zusammen, und die Hand, in der er den Becher hält, macht eine ausgleichende Bwegung und verschüttet Kaffee auf Jackett und Hemdmanschetten.

Joona sieht ihn fragend an und zieht ein Tuch aus einer Kleenexschachtel auf dem Armaturenbrett des Wagens.

Erik mustert das große, gelbe Holzhaus, den Garten und den Rasen, auf dem die riesige Winnie-Puh-Puppe mit ihren angemalten Reißzähnen steht.

»Ist sie gefährlich?«, fragt Joona.

»Wer?«

»Eva Blau?«

»Schon möglich«, antwortet Erik. »Ich denke, sie könnte durchaus gefährliche Dinge tun.«

Joona schaltet den Motor aus, und sie steigen aus.

»Du solltest dir nicht zu viel davon erwarten«, sagt Joona mit seinem melancholischen finnischen Akzent. »Liselott Blau hat möglicherweise nicht das Geringste mit Eva zu tun.«

»Ja«, erwidert Erik geistesabwesend.

Sie gehen den Weg aus flachen, grauschwarzen Schieferplatten hinauf. Kleine runde Schneeflocken, die fast wie Hagelkörner aussehen, wirbeln durch die Luft. Wenn man hochschaut, gleicht der Schnee einem weißen Schleier, einem milchigen Dunst vor dem großen Holzhaus.

»Trotzdem müssen wir vorsichtig sein«, sagt Joona. »Immerhin könnte das hier ja wirklich das verwunschene Schloss sein.«

Sein freundliches, symmetrisches Gesicht verzieht sich zu einem schwachen Lächeln. Erik bleibt mitten auf dem Weg stehen. Der feuchte Stoff um sein Handgelenk ist kalt geworden und riecht nach abgestandenem Kaffee.

»Das verwunschene Schloss ist ein Haus im früheren Jugoslawien«, sagt Erik. »Es ist eine Wohnung in Jakobsberg und eine Turnhalle in Stocksund, ein hellgrünes Haus in Dorotea und so weiter.«

Als er Joonas fragendem Blick begegnet, kann Erik sich ein Lächeln nicht verkneifen,

»Das verwunschene Schloss ist kein konkretes Haus, es ist ein Begriff«, erläutert Erik. »Die Hypnosegruppe nannte jeden Ort, an dem es zu Übergriffen gekommen war, ein verwunschenes Schloss.«

»Ich glaube, ich verstehe«, erwiderte Joona. »Wo befand sich Eva Blaus verwunschenes Schloss?«

»Das ist das Problem«, sagt Erik. »Sie war die Einzige, die den Weg zu ihrem verwunschenen Schloss nicht fand. Im Gegensatz zu den anderen beschrieb sie nie einen zentralen Ort.«

»Vielleicht haben wir ihn vor uns«, meint Joona und zeigt auf das Haus.

Mit großen Schritten eilen sie den Weg hinauf. Erik tastet in seiner Tasche nach der Schachtel mit dem Papagei. Ihm ist übel, und er hat das Gefühl, noch immer von seinen Erinnerungen benebelt zu sein. Er kratzt sich kräftig an der Stirn, will eine Tablette nehmen, sehnt sich nach einer Tablette, irgendeiner, weiß aber, dass er jetzt einen klaren Kopf braucht. Er muss aufhören, Tabletten zu nehmen, so geht es einfach nicht weiter, er kann sich nicht länger verstecken, er muss Benjamin finden, bevor es zu spät ist.

Erik drückt auf den Klingelknopf, hört den dunklen Klang durch das massive Holz und muss sich zwingen, nicht die Tür aufzureißen, hineinzurennen und nach Benjamin zu rufen. Joona hat eine Hand in der Jacke. Einen Moment später wird die Tür von einer jungen Frau mit Brille, roten Haaren und einer Reihe kleiner Narben auf beiden Wangen geöffnet.

»Guten Tag, wir suchen Liselott Blau«, sagt Joona.

»Das bin ich«, antwortet die Frau abwartend.

Joona wirft Erik einen Blick zu und begreift, dass die Rothaarige nicht die Frau ist, die sich damals Eva Blau nannte.

»Eigentlich suchen wir nach Eva«, sagt er.

Joona zeigt ihr seinen Dienstausweis und fragt, ob sie kurz hereinkommen können. Die Frau will sie nicht ins Haus lassen, woraufhin Joona sie bittet, sich eine Jacke überzuziehen und stattdessen herauszukommen. Wenige Minuten später stehen sie auf der harten, gefrorenen Rasenfläche zusammen und unterhalten sich mit dampfendem Atem vor den Mündern.

»Ich wohne allein«, sagt die Frau.

»Das ist ein großes Haus.«

Die Frau lächelt schmallippig.

»Ich bin wohlhabend.«

»Ist Eva Blau eine Verwandte von Ihnen?«

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich keine Eva Blau kenne.«

Joona zeigt ihr drei Bilder von Eva, die er von der digitalisierten Videoaufzeichnung ausgedruckt hat, aber die rothaarige Frau schüttelt nur den Kopf.

»Sehen Sie sich die Bilder bitte genau an«, sagt Joona ernst.

»Sagen Sie mir nicht, was ich tun soll«, faucht sie.

»In Ordnung, aber ich möchte Sie trotzdem bitten …«

»Ich bezahle Ihr Gehalt«, unterbricht sie ihn bedächtig. »Von meinen Steuergeldern wird Ihr Gehalt bezahlt.«

»Sehen Sie sich das Bild bitte noch einmal an«, sagt Joona.

»Ich habe diese Frau noch nie gesehen.«

»Es ist wichtig«, wirft Erik ein.

»Für Sie vielleicht«, entgegnet die Frau. »Aber nicht für mich.«

»Sie nennt sich Eva Blau«, fährt Joona fort. »Blau ist ein ziemlich ungewöhnlicher Name in Schweden.«

Erik sieht plötzlich, dass sich in der oberen Etage ein Vorhang bewegt. Er rennt zum Haus hinauf und hört, dass die beiden anderen ihm hinterherrufen. Er läuft ins Haus und durch den Flur, schaut sich um, sieht eine breite Treppe und steigt sie mit großen Schritten hinauf.

»Benjamin«, ruft er und bleibt stehen.

Der Flur erstreckt sich mit Türen zu Schlaf- und Badezimmern in beide Richtungen.

»Benjamin?«, sagt er leise.

Irgendwo knarrt der Fußboden. Er hört die rothaarige Frau im Erdgeschoss ins Haus eilen. Erik überlegt, in welchem Fenster er den Vorhang flattern gesehen hat, und geht schnell nach rechts zu einer Tür am hinteren Ende des Flurs. Er versucht, sie zu öffnen, aber sie ist abgeschlossen. Erik bückt sich und schaut durchs Schlüsselloch. Der Schlüssel steckt, aber er meint, im Metall eine Bewegung dunkler Schatten zu erahnen.

»Öffnen Sie die Tür«, sagt er mit erhobener Stimme.

Die rothaarige Frau kommt die Treppe herauf.

»Sie haben kein Recht, mein Haus zu betreten«, ruft sie.

Erik weicht einen Schritt zurück, tritt die Tür auf und geht hinein. Das Zimmer ist leer: ein großes ungemachtes Bett mit rosa Laken, ein blassrosa Teppichboden und Schranktüren mit rauchgetönten Spiegeln. Eine Kamera auf einem Stativ ist auf das Bett gerichtet. Er öffnet den Kleiderschrank, in dem jedoch niemand ist, dreht sich um, mustert die schweren Vorhänge, den Sessel, bückt sich und sieht einen Menschen, der sich im Zwielicht unter dem Bett zusammenkauert: scheue, ängstliche Augen, schmale Schenkel und nackte Füße.

»Komm raus«, sagt er streng.

Er streckt sich, bekommt einen Fußknöchel zu packen und zieht einen nackten Jüngling heraus. Der junge Mann versucht, etwas zu erklären, er spricht schnell und fieberhaft in einer Sprache auf Erik ein, die wie Arabisch klingt, während er sich eine Jeans anzieht. Die Decke im Bett bewegt sich, und ein zweiter Junge lugt heraus und sagt etwas in einem barschen Ton zu seinem Kameraden, der augenblicklich verstummt. In der Tür steht die rothaarige Frau und wiederholt mit bebender Stimme, dass er ihre Freunde in Ruhe lassen soll.

»Sind die beiden minderjährig?«, fragt Erik.

»Raus aus meinem Haus«, sagt sie rasend vor Wut.

Der zweite Junge hat sich in die Decke gewickelt. Er greift nach einer Zigarette und betrachtet Erik lächelnd.

»Raus!«, schreit Liselott Blau.

Erik geht durch den Flur und die Treppe hinunter. Die Frau folgt ihm und schreit mit heiserer Stimme, dass er sich zum Teufel scheren soll. Erik verlässt das Haus und geht den Schieferweg hinab. Joona wartet an der Auffahrt und hat die gezogene Waffe am Körper verborgen. Die Frau bleibt in der Tür stehen.

»Das dürfen Sie nicht«, ruft sie. »Das ist nicht erlaubt, die Polizei benötigt einen Gerichtsbeschluss, um ein Haus betreten zu dürfen.«

»Ich bin kein Polizist«, ruft Erik zurück.

»Aber … ich werde Sie anzeigen.«

»Tun Sie das, wenn Sie unbedingt wollen«, sagt Joona. »Ich kann Ihre Anzeige aufnehmen, denn ich bin, wie gesagt, Polizist.«

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