36.

Dienstagmorgen, der fünfzehnte Dezember


Am frühen Morgen fällt der große Schatten des Rathauses auf die Fassade des Polizeipräsidiums. Nur der höchste, mittlere Turm ist in Sonnenlicht getaucht. In den ersten Stunden nach der Dämmerung wird das Gebäude dann seines Schattens entkleidet und schimmert gelb. Das Kupferdach glänzt, die schöne Schmiedearbeit mit eingebauten Rinnen und kleinen Zinnen aus Kupfer, an denen der Regen in die Fallrohre rieselt, sind von glänzenden Kondenstropfen bedeckt. Im Tagesverlauf scheint die Sonne weiter auf das Haus, während sich die Schatten der Bäume im Uhrzeigersinn drehen, und erst kurz vor Einbruch der Dämmerung wird die Fassade wieder grau.

Carlos Eliasson steht neben seinem Aquarium und sieht aus dem Fenster, als Joona an seine Tür klopft und sie gleichzeitig öffnet.

Carlos zuckt zusammen und dreht sich um. Bei Joonas Anblick drückt sein Gesicht wie üblich widersprüchliche Gefühle aus. Mit einer Mischung aus Schüchternheit, Freude und Widerwillen begrüßt er Joona, zeigt auf den Besucherstuhl und entdeckt, dass er die Dose mit Fischfutter noch in der Hand hält.

»Wie ich sehe, hat es geschneit«, sagt er vage und stellt die Dose neben das Aquarium.

Joona setzt sich und blickt zum Fenster hinaus. Im Kronobergspark liegt eine dünne, trockene Schneeschicht.

»Vielleicht bekommen wir ja weiße Weihnachten«, meint Carlos zaghaft lächelnd und nimmt auf der anderen Seite des Schreibtischs Platz. »In Schonen, wo ich aufgewachsen bin, gab es Weihnachten überhaupt kein richtiges Wetter. Es sah die ganze Zeit gleich aus. Graues Licht über den Feldern …«

Carlos verstummt abrupt.

»Aber du bist nicht gekommen, um dich mit mir über das Wetter zu unterhalten«, sagt er schroff.

»Nicht direkt.«

Joona wirft ihm einen ruhigen Blick zu und lehnt sich zurück.

»Ich möchte den Fall von Erik Maria Barks verschwundenem Sohn übernehmen.«

»Nein«, antwortet Carlos kurz angebunden.

»Ich habe mit den Ermittlungen angefangen …«

»Nein, Joona, du durftest der Sache nachgehen, solange ein Zusammenhang mit Josef Ek bestand.«

»Der besteht immer noch«, antwortet Joona stur.

Carlos steht auf, macht ein paar ungeduldige Schritte und wendet sich Joona zu:

»Unsere Richtlinien sind unmissverständlich, wir sind nicht berechtigt, unsere Mittel für …«

»Ich glaube, dass die Entführung in einem engen Zusammenhang zu Josef Eks Geständnis unter Hypnose steht.«

»Wie meinst du das?«, fragt Carlos gereizt.

»Es kann einfach kein Zufall sein, dass Erik Maria Barks Sohn nur eine Woche nach der Hypnose verschwindet.«

Carlos setzt sich wieder und klingt verunsichert, als er vorsichtig auf seinem Standpunkt beharrt:

»Ein Junge, der von zu Hause abhaut, ist kein Fall für die Landeskripo, das geht einfach nicht.«

»Er ist nicht abgehauen«, entgegnet Joona kurz.

Carlos wirft einen kurzen Blick auf seine Fische, lehnt sich vor und spricht leiser:

»Joona, nur weil du ein schlechtes Gewissen hast, kann ich dich nicht …«

»Dann ersuche ich hiermit um meine Versetzung«, sagt Joona und steht auf.

»Und wohin willst du versetzt werden?«

»In die Einheit, die in dem Fall ermittelt.«

»Jetzt bist du wieder so stur«, sagt Carlos und kratzt sich aufgebracht den Schädel.

»Aber ich werde Recht behalten«, grinst Joona.

»Großer Gott«, seufzt Carlos, sieht seine Fische an und schüttelt bekümmert den Kopf.

Joona geht zur Tür.

»Warte«, ruft Carlos.

Joona hält inne, dreht sich um und hebt fragend die Augenbrauen.

»Wir machen Folgendes – offiziell übernimmst du diesen Fall nicht, es ist nicht dein Fall, aber ich gebe dir eine Woche, um das Verschwinden des Jungen zu untersuchen.«

»Gut.«

»Du kannst dir also dein verdammtes ›was habe ich dir gesagt‹ sparen.«

»Okay.«

Joona fährt mit dem Aufzug in seine Etage hinunter, begrüßt Anja, die ihm zuwinkt, ohne den Blick von ihrem Computerbildschirm zu nehmen, und kommt an Petter Näslunds Büro vorbei, in dem ein Radio läuft. Ein Sportjournalist kommentiert mit künstlicher Energie in der Stimme ein Biathlonrennen der Frauen. Joona weicht zurück und kehrt zu Anja um.

»Ich habe keine Zeit«, sagt sie, ohne ihn anzusehen.

»Doch, hast du«, erwidert er ruhig.

»Ich bin mit etwas sehr Wichtigem beschäftigt.«

Joona versucht, ihr über die Schulter zu schauen.

»Woran arbeitest du?«, fragt er.

»An nichts.«

»Und was ist das da?«

Sie seufzt.

»Es ist eine Auktion. Im Moment ist mein Gebot das höchste, aber da ist so ein Idiot, der die ganze Zeit den Preis hochtreibt.«

»Eine Auktion?«

»Ich sammele Keramikfiguren von Lisa Larson«, antwortet sie kurz angebunden.

»Diese kleinen dicken Tonkinder?«

»Das ist Kunst, aber von so etwas verstehst du natürlich nichts.«

Sie blickt auf den Bildschirm.

»Es ist gleich vorbei. Hauptsache, mich überbietet keiner, denn dann …«

»Ich brauche deine Hilfe«, beharrt Joona. »Es hat mit deinem Beruf zu tun. Die Sache ist ehrlich gesagt ziemlich wichtig.«

»Warte, warte, warte.«

Sie hält ihm abwehrend eine Hand entgegen.

»Ja, ich habe sie! Ich habe sie! Ich habe Amalia und Emma.«

Sie schließt die Seite.

»Okay, Joona, du alter Finne. Womit kann ich dir dienen?«

»Du sollst die Telefontechniker nerven und dafür sorgen, dass ich eine Positionsbestimmung für das Telefonat bekomme, das Benjamin Bark letzten Sonntag geführt hat. Ich will eine klare Auskunft darüber haben, von wo er angerufen hat. Und zwar in fünf Minuten.«

»Mein Gott, bist du schlecht gelaunt«, seufzt Anja.

»Drei Minuten«, berichtigt Joona sich. »Deine Internetshoppingtour kostet dich zwei Minuten.«

»Zieh Leine«, sagt sie sanft, als er ihr Zimmer verlässt.

Er geht in sein Büro, schließt die Tür, blättert in der Post und liest eine Postkarte von Disa. Sie ist nach London gefahren und schreibt, dass sie ihn vermisst. Disa weiß, dass er Bilder von Schimpansen, die Golf spielen oder sich in Toilettenpapier verheddern, hasst, und schafft es deshalb immer, Karten mit ähn­lichen Motiven zu finden. Joona überlegt zögernd, ob er die Ansichtskarte überhaupt umdrehen oder sie gleich wegwerfen soll, aber seine Neugier siegt. Er dreht die Karte um und schaudert vor Unbehagen. Eine Bulldogge mit Kapitänsbart, Schiffermütze und Stummelpfeife im Mund. Er lächelt über Disas Bemühungen und steckt die Karte an seiner Pinnwand fest, als das Telefon klingelt.

»Ja?«, meldet er sich.

»Ich habe ihre Antwort«, sagt Anja.

»Das ging aber schnell«, erwidert Joona.

»Sie meinten, sie hätten technische Probleme gehabt, Kommissar Sträng aber schon vor einer Stunde angerufen und ihm mitgeteilt, dass sich die Basisstation einhundertsiebzig Kilometer nördlich von Stockholm, in Gävle, befand.«

»In Gävle«, wiederholt er.

»Sie sind noch nicht ganz fertig. In ein oder zwei Tagen, aber auf jeden Fall noch diese Woche können sie uns genau sagen, wo Benjamin bei seinem Anruf gewesen ist.«

»Du hättest zu meinem Zimmer kommen können, um mir das zu sagen, es ist nur vier Meter von deinem …«

»Bin ich etwa deine Haushälterin?«

»Nein.«

Joona schreibt Gävle auf eine leere Seite im Notizblock und greift erneut nach dem Telefon.

»Erik Maria Bark«, meldet Erik sich auf der Stelle.

»Hier ist Joona.«

»Was tut sich? Hast du etwas herausgefunden?«

»Ich habe gerade eine ungefähre Position des Telefongesprächs bekommen.«

»Wo ist er?«

»Bisher wissen wir nur, dass die Basisstation in Gävle liegt.«

»In Gävle?«

»Das ist ein Stück nördlich des Flusses Dalälven und …«

»Ich weiß, wo Gävle liegt, ich verstehe nur nicht, ich meine …«

Joona hört, dass Erik sich in seinem Zimmer bewegt.

»Im Laufe der Woche erfahren wir Genaueres«, erklärt Joona.

»Wann?«

»Morgen, hoffen sie.«

Er hört, dass Erik sich setzt.

»Heißt das, du übernimmst den Fall?«, fragt er mit angespannter Stimme.

»Ich übernehme den Fall, Erik«, sagt Joona mit Nachdruck. »Ich werde Benjamin finden.«

Erik räuspert sich, und als seine Stimme wieder fest ist, erklärt er schnell:

»Ich habe viel darüber nachgedacht, wer es getan haben könnte, und mir ist ein Name eingefallen, dem du für mich nachgehen könntest, eine Patientin von mir. Sie heißt Eva Blau.«

»Hat sie dir gedroht?«

»Das ist schwer zu erklären.«

»Ich werde sofort nach ihr suchen lassen.«

Es wird still im Hörer.

»Ich möchte mich möglichst bald mit dir und Simone treffen«, sagt Joona dann.

»Aha?«

»Die Tat ist nicht rekonstruiert worden, oder?«

»Rekonstruiert?«

»Wir werden untersuchen, ob jemand die Möglichkeit hatte, Benjamins Kidnapper zu sehen. Seid ihr in einer halben Stunde zu Hause?«

»Ich rufe Simone an«, sagt Erik. »Wir erwarten dich.«

»Gut.«

»Joona«, sagt Erik.

»Ja?«

»Ich weiß ja, dass jede Stunde zählt, wenn man den Täter finden will. Dass die ersten vierundzwanzig Stunden am wichtigsten sind«, sagt Erik langsam. »Und jetzt sind schon …«

»Du glaubst nicht, dass wir ihn finden?«

»Es ist … ich weiß es nicht«, flüstert Erik.

»Ich irre mich eigentlich nie«, antwortet Joona leise, aber mit Schärfe in der Stimme. »Und ich denke, dass wir deinen Jungen finden werden.«

Joona legt auf, greift nach dem Zettel mit dem Namen Eva Blau und geht wieder zu Anja. In ihrem Zimmer riecht es intensiv nach Orangen. Eine Schale mit verschiedenen Zitrusfrüchten steht neben dem Computer mit der rosa Tastatur, und an einer Wand hängt ein großes Hochglanzplakat, auf dem eine muskulöse Anja bei den Olympischen Spielen Delphin schwimmt.

Joona lächelt.

»Beim Militär war ich Rettungsschwimmer, ich könnte zehn Kilometer mit einer Signalflagge schwimmen, aber Delphinschwimmen habe ich nie gelernt.«

»Es ist Energieverschwendung, nicht mehr und nicht weniger.«

»Ich finde es schön – du sahst aus wie eine schwimmende Meerjungfrau«, behauptet Joona.

Anjas Stimme verrät einen gewissen Stolz, als sie den Schwimmstil zu erklären versucht:

»Die Koordinationstechnik ist ziemlich anspruchsvoll, es geht um eine Art Gegenrhythmus und … ach was, wen interes­siert’s?«

Anja streckt sich zufrieden, und ihr großer Busen berührt beinahe Joona, der vor ihrem Schreibtisch steht.

»Also«, sagt er und zieht den Zettel heraus. »Ich möchte, dass du eine Person für mich findest.«

Anjas Lächeln erkaltet.

»Ich wusste, dass du was von mir willst, Joona. Du warst ein bisschen zu freundlich, zu nett. Ich habe dir bei dieser Basisstation geholfen, und dann schneist du mit deinem süßen Lächeln herein. Ich habe schon gedacht, du wolltest mich zum Essen einladen oder so …«

»Das mache ich auch, Anja. Wenn sich die Gelegenheit ergibt.«

Sie schüttelt den Kopf und nimmt Joona den Zettel aus der Hand.

»Eine Personensuche. Ist es dringend?«

»Es ist sehr dringend, Anja.«

»Und warum stehst du dann noch hier rum und schäkerst mit mir?«

»Ich dachte, du willst es so haben …«

»Eva Blau«, sagt Anja nachdenklich.

»Es ist nicht gesagt, dass das ihr richtiger Name ist.«

Anja beißt sich betrübt auf die Lippe.

»Ein fingierter Name«, sagt sie. »Das ist nicht viel. Hast du gar nichts anderes? Keine Adresse oder so?«

»Nein, keine Adresse. Ich weiß nur, dass sie vor zehn Jahren eine Patientin Erik Maria Barks war. Du wirst die Karteien durchgehen müssen, nicht nur die üblichen, sondern alle. Gibt es eine Eva Blau, die an der Universität eingeschrieben gewesen ist? Wenn sie ein Auto gekauft hat, steht sie in der Verkehrskartei. Vielleicht hat sie ja auch mal ein Visum beantragt oder besitzt irgendeinen Bibliotheksausweis oder ist Mitglied eines Vereins, ich möchte, dass du dir auch geschützte Identitäten ansiehst, Opfer …«

»Ist ja gut, jetzt zieh schon ab«, unterbricht Anja ihn, »damit ich endlich in Ruhe arbeiten kann.«

Joona parkt vor dem vegetarischen Restaurant Lao Wai, von dem ihm Disa vorgeschwärmt hat. Er wirft einen Blick durchs Fenster und erfreut sich an der schlichten, asketischen Schönheit der Holzmöbel, dem Verzicht auf Überflüssiges, dem Fehlen von dekorativen Gegenständen im Raum.

Als er bei Simone klingelt, ist Erik schon da. Sie begrüßen sich, und Joona erläutert kurz, was er vorhat.

»Wir werden Benjamins Entführung möglichst genau rekonstruieren. Sie waren als Einzige dabei, Simone.«

Sie nickt verbissen.

»Dann werden Sie sich selbst spielen. Ich bin der Täter und du Erik, du musst Benjamins Rolle übernehmen.

»Okay«, sagt Erik. Joona sieht auf die Uhr.

»Simone, wann war der Einbruch Ihrer Schätzung nach?«

Sie räuspert sich:

»Ich bin mir nicht sicher … die Zeitung war jedenfalls noch nicht gekommen … also muss es vor fünf gewesen sein. Außerdem bin ich aufgestanden und habe ein Glas Wasser getrunken, das war um zwei … danach habe ich eine Weile wachgelegen … also irgendwann zwischen halb drei und fünf.«

»Gut, dann stelle ich die Uhr auf halb vier, dann bekommen wir eine Durchschnittszeit«, sagt Joona. »Ich werde die Tür aufschließen, zu Simone schleichen, simulieren, dass ich ihr eine Spritze gebe, und anschließend zu Benjamin hineingehen – also dir, Erik – und dich aus dem Zimmer zerren. Ich werde dich über den Flurboden und zur Tür hinausschleifen. Du bist schwerer als dein Sohn, das müssen wir bei der Zeitnahme mit einer Minute berücksichtigen. Simone, versuchen Sie bitte, sich so zu bewegen, wie Sie es in jener Nacht getan haben. Legen Sie sich zur gleichen Zeit auf die gleiche Stelle. Ich will wissen, was Sie gesehen haben oder nur erahnen konnten.«

Simone nickt mit blassem Gesicht.

»Danke«, flüstert sie. »Danke, dass Sie das für uns tun.«

Joona sieht sie mit seinen eisgrauen Augen an.

»Wir werden Benjamin finden.«

Simone streicht sich flüchtig mit der Hand über die Stirn.

»Ich gehe ins Schlafzimmer«, sagt sie heiser und sieht Joona mit den Schlüsseln in der Hand die Wohnung verlassen.

Als Joona hereinkommt, liegt sie unter der Decke. Er bewegt sich schnell auf sie zu, rennt nicht, handelt jedoch zielstrebig. Es kitzelt, als er ihren Arm anhebt und so tut, als würde er ihr eine Spritze geben. Sie begegnet Joonas Blick, als er über sie gebeugt steht, und erinnert sich, dass sie von einem deutlich spürbaren Stich in den Arm geweckt wurde und jemanden aus dem Zimmer huschen sah. Die bloße Erinnerung lässt ihren Arm an der Einstichstelle kribbeln. Als Joonas Rücken verschwindet, setzt sie sich auf, reibt sich die Armbeuge und steht langsam auf. Sie tritt in den Flur hinaus, lugt in Benjamins Zimmer hinein und sieht Joona, der sich über das Bett beugt. Plötzlich sagt sie die Worte, als hallten sie durch ihre Erinnerung:

»Was tut ihr da? Darf ich reinkommen?«

Zögernd geht sie bis zum Büfett. Ihr Körper erinnert sich, dass dort alle Kraft aus ihr wich und sie fiel. Ihre Beine geben nach, und gleichzeitig fällt ihr wieder ein, wie sie immer tiefer in eine schwarze Taubheit sank, die von immer kürzeren lichten Momenten unterbrochen wurde. Sie liegt halb an die Wand gelehnt und sieht Joona Erik an den Füßen vorbeischleifen. Die Erinnerung spult das Unfassbare vor ihr ab:

Benjamin, der sich am Türrahmen festzuhalten versuchte, sein Kopf, der gegen die Türschwelle stieß und seine immer schwächeren Handbewegungen, mit denen er nach ihr greifen wollte.

Als Erik an Simone vorbeigeschleift wird und ihre Blicke sich kurz begegnen, scheint sich für einen flüchtigen Moment eine Gestalt aus Nebel oder Dampf im Flur einzufinden. Sie sieht Joonas Gesicht von unten. Es wird ausgetauscht gegen ein schemenhaftes Bild des Täters, das in ihrem Bewusstsein aufblitzt. Ein Gesicht im Schatten und eine gelbe Hand um Benjamins Fußknöchel. Simones Herz pocht heftig, als sie hört, wie Joona Erik ins Treppenhaus schleift und die Tür hinter sich schließt.

In der Wohnung herrscht eine gespenstische Atmosphäre. Simone kann das Gefühl nicht abschütteln, erneut betäubt worden zu sein. Als sie aufsteht und darauf wartet, dass die beiden Männer zurückkommen, sind ihre Glieder taub und schwer.

Joona zieht Erik über den zerkratzten Marmorboden im Treppenhaus und lässt gleichzeitig den Blick umherschweifen, prüft Winkel und Höhen, um nach Stellen zu suchen, an denen sich ein Zeuge hätte aufhalten können. Er versucht zu erkennen, wie weit er die Treppe hinuntersehen kann, und denkt, dass tatsächlich jemand fünf Stufen tiefer hätte stehen können, dicht ans Geländer gedrängt, um ihn zu beobachten. Er nimmt den Weg zu dem alten Aufzug mit seinen Gitterschiebetüren. Er hat sich vorbereitet, die Türen stehen schon offen. Als er sich ein wenig bückt, sieht er sein Gesicht in den glänzenden Beschlägen der Tür und anschließend die Wand dahinter. Joona schleift den liegenden Erik in den Aufzug. Im Ausschnitt des offenen Aufzugs sieht er die Tür rechts, den Briefeinwurf und das Namensschild aus Messing, in der anderen Richtung jedoch nur eine Wand. Die Lampe über dem Treppenabsatz wird verdeckt. Nachdem er weiter in den Aufzug hineingegangen ist, richtet Joona den Blick auf den großen Aufzugspiegel, bückt und streckt sich, kann aber nichts sehen. Das Fenster im Treppenhaus bleibt verborgen. Als er über seine Schulter blickt, entdeckt er nichts Neues. Plötzlich fällt ihm jedoch etwas Unerwartetes auf. In einem bestimmten Winkel kann er über den kleineren, schräg stehenden Spiegel den hell glänzenden Türspion der Wohnung sehen, die bislang immer verdeckt geblieben war. Er zieht die Aufzugtür zu und stellt fest, dass ihm der Spiegel zwischen den Gitterstäben hindurch weiterhin freie Sicht auf die Tür gewährt. Wenn jemand hinter der Tür steht und durch den Spion ins Treppenhaus schaut, denkt er, dann kann diese Person jetzt deutlich mein Gesicht erkennen. Wenn ich den Kopf aber nur fünf Zentimeter in irgendeine Richtung bewege, bin ich sofort außer Sichtweite.

Als sie unten ankommen, steht Erik auf, und Joona sieht auf die Uhr.

»Acht Minuten«, sagt er.

Sie kehren in die Wohnung zurück. Simone steht im Flur, und es ist ihr anzusehen, dass sie geweint hat.

»Er trug Putzhandschuhe«, sagt sie. »Gelbe Putzhandschuhe.«

»Bist du sicher?«, fragt Erik.

»Ja.«

»Dann hat es wenig Sinn, nach Fingerabdrücken zu suchen«, meint Joona.

»Was sollen wir tun?«, fragt sie.

»Die Polizei hat die Nachbarn schon befragt«, meint Erik düster, während Simone Schmutz und Staub von seinem Rücken bürstet.

Joona zieht ein Blatt heraus.

»Stimmt, ich habe hier eine Liste der Leute, mit denen die Kollegen gesprochen haben. Sie haben sich auf diese Etage und die Wohnungen darunter konzentriert. Mit fünf Mietern haben sie allerdings noch nicht gesprochen und eine …«

Er mustert den Zettel und sieht, dass die Wohnung mit der Tür, die er im Spiegel gesehen hat, durchgestrichen worden ist.

»Eine Wohnung ist ganz gestrichen worden«, sagt Joona, »und zwar die auf der anderen Seite das Aufzugs.«

»Die Mieter sind verreist«, erklärt Simone. »Sie sind sechs Wochen in Thailand.«

Joona sieht sie ernst an.

»Dann wollen wir mal die Runde machen«, sagt er kurz.

Auf der Tür, von der aus man über die Spiegel vollen Einblick in den Aufzug hat, steht Rosenlund. Es ist die Wohnung, die von den Polizisten nicht beachtet wurde, weil sie verdeckt lag und leer stand.

Joona bückt sich und lugt durch den Briefeinwurf. Er sieht weder Post noch Reklame auf der Türmatte. Plötzlich dringt aus der Wohnung ein leises Geräusch an sein Ohr. Eine Katze tapst aus einem angrenzenden Zimmer in den Flur. Die Katze bleibt abrupt stehen und betrachtet abwartend Joona, der den Deckel des Briefeinwurfs hochhält.

»Kein Mensch lässt eine Katze sechs Wochen allein«, sagt Joona nachdenklich zu sich selbst.

Die Katze lauscht mit wachsamer Körperhaltung.

»Du siehst nicht ausgehungert aus«, sagt Joona zu dem Tier.

Die Katze gähnt ausgiebig, springt auf einen Stuhl im Flur und rollt sich zu einem Knäuel zusammen.

Zunächst will Joona mit dem Ehemann von Alice Franzén sprechen. Als die Polizei überall klingelte, war sie allein zu Hause. Das Ehepaar Franzén wohnt in der gleichen Etage wie Simone und Erik, gegenüber vom Aufzug. Joona klingelt und wartet. Ihm kommt in den Sinn, dass er als Kind mit einer Pappsparbüchse der Lutherhilfe durch die Häuser ging, um Spenden zu sammeln. Das Gefühl von Fremdheit, wenn man in die Wohnungen anderer Leute blickte, der abweisende Ausdruck in den Augen der Menschen, die einem aufmachten.

Er klingelt noch einmal. Eine etwa dreißigjährige Frau öffnet die Tür. Sie sieht ihn mit einem abwartenden und reservierten Gesichtsausdruck an, der ihn an die Katze in der leeren Wohnung denken lässt.

»Ja?«

»Mein Name ist Joona Linna«, sagt er und zeigt seinen Dienstausweis. »Ich würde gerne mit ihrem Mann sprechen.«

Sie wirft einen kurzen Blick über die Schulter und sagt dann:

»Ich möchte erst erfahren, worum es geht. Er ist sehr beschäftigt.«

»Es geht um die Nacht von Freitag auf Samstag, den 12. Dezember.«

»Aber danach haben Sie doch schon gefragt«, sagt die Frau gereizt.

Joona wirft schnell einen Blick auf das Blatt in seiner Hand.

»Hier steht, dass die Polizei Sie vernommen hat, Ihren Gatten dagegen nicht.«

Die Frau seufzt verärgert.

»Ich weiß nicht, ob er Zeit hat«, sagt sie.

Joona lächelt.

»Es dauert nur eine Minute, versprochen.«

Die Frau zuckt mit den Schultern und ruft in die Wohnung hinein:

»Tobias! Hier ist jemand von der Polizei!«

Kurz darauf schlendert ein Mann zur Tür, der sich ein Handtuch um die Hüften geschlungen hat. Seine Haut ist gerötet, er ist braungebrannt.

»Hallo«, sagt er zu Joona. »Ich war auf der Sonnenbank …«

»Wie nett«, erwidert Joona.

»Oh nein«, widerspricht Tobias Franzén. »In meiner Leber fehlt ein Enzym. Ich bin dazu verurteilt, mich täglich zwei Stunden zu sonnen.«

»Das ist natürlich etwas anderes«, bemerkt Joona trocken.

»Sie wollten mich etwas fragen.«

»Ich möchte wissen, ob Sie in der Nacht von Freitag auf Samstag, den 12. Dezember etwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört haben.«

Tobias kratzt sich an der Brust. Die Finger hinterlassen weiße Abdrücke in seiner sonnengebräunten Haut.

»Mal überlegen, das war dieser Tag. Tut mir leid, aber ich kann mich wirklich an nichts Besonderes erinnern. Mir fällt nichts ein.«

»Okay, vielen Dank«, sagt Joona und senkt den Kopf.

Tobias streckt sich nach der Klinke, um die Tür zu schließen.

»Noch eins.«

Joona nickt zu der leer stehenden Wohnung hinüber.

»Diese Familie, die Rosenlunds«, setzt er an.

»Sehr sympathische Leute«, sagt Tobias lächelnd und schaudert. »Ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen.«

»Ja, Sie sind verreist. Wissen Sie, ob sie eine Putzfrau oder etwas Ähnliches haben.«

Tobias Franzén schüttelt den Kopf. Unter seiner Sonnenbräune ist er blass geworden, und er friert.

»Tut mir leid, ich habe keine Ahnung.«

»Danke«, sagt Joona und sieht Tobias Franzén die Wohnungstür schließen.

Er geht zum nächsten Namen auf seiner Liste: Jarl Hammar, wohnhaft eine Etage unter Erik und Simone. Ein Rentner, der beim letzten Mal nicht zu Hause war.

Jarl Hammar ist ein hagerer Mann, der unübersehbar an der Parkinson’schen Krankheit leidet. Er ist förmlich gekleidet, trägt einen Cardigan und ein Halstuch.

»Kripo«, wiederholt Hammar mit heiserer, kaum vernehmbarer Stimme und mustert Joona mit stargetrübtem Blick. »Was will die Kripo denn von mir?«

»Ich möchte Ihnen nur eine Frage stellen«, antwortet Joona. »Ist Ihnen möglicherweise in der Nacht zum 12. Dezember etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

Jarl Hammar legt den Kopf schief und schließt die Augen. Im nächsten Moment öffnet er sie wieder und schüttelt den Kopf.

»Ich nehme Medikamente«, sagt er, »die zur Folge haben, dass ich sehr fest schlafe.«

Joona nimmt hinter Jarl Hammar flüchtig eine Frau wahr.

»Und Ihre Frau?«, fragt er. »Könnte ich bitte auch mit ihr sprechen?«

Jarl Hammar lächelt schief.

»Meine Gattin Solveig war eine wunderbare Frau. Aber sie ist leider vor fast dreißig Jahren gestorben.«

Der hagere Mann dreht sich um und hebt einen zitternden Arm zu einer dunklen Gestalt in der Wohnung.

»Das ist Anabella. Sie putzt für mich und so. Leider spricht sie kein Schwedisch, aber ansonsten ist sie tadellos.«

Als sie ihren Namen hört, trottet die schemenhafte Gestalt ins Licht. Anabella scheint aus Peru zu stammen, sie ist etwa zwanzig Jahre alt, hat große Pockennarben auf den Wangen, trägt ihre Haare zu einem nachlässigen Dutt hochgesteckt und ist sehr klein.

»Anabella«, sagt Joona sanft. »Soy comisario de policía, Joona Linna.«

»Buenos días«, antwortet sie lispelnd und sieht ihn mit schwarzen Augen an.

»Tu limpias más departementos aqui? En este edificio

Sie nickt und bestätigt, dass sie auch in anderen Wohnungen im Haus putzt.

»Qué otros?, fragt Joona.

Espera un momento, sagt Anabella und denkt kurz nach, ehe sie an den Fingern abzuzählen beginnt: »El piso de Lagerberg, Franzén, Gerdman, Rosenlund, el piso de Johansson también

»Rosenlund«, sagt Joona. »Rosenlund es la familia con un gato, no es verdad

Anabella lächelt und nickt. Sie putzt die Wohnung mit der Katze.

»Y muchas flores«, fügt sie hinzu.

»Viele Blumen«, sagt Joona und sieht sie nicken.

Joona fragt ernst, ob ihr vor vier Nächten etwas Besonderes aufgefallen ist:

»Notabas alguna cosa especial hace cuatros días? De noche …«

Anabellas Gesicht erstarrt.

»No«, sagt sie schnell und versucht, sich wieder in Jarl Hammars Wohnung zurückzuziehen.

»De verdad«, sagt Joona schnell. »Espero que digas la verdad, Anabella.« Ich erwarte, dass Sie die Wahrheit sagen.

Er wiederholt, dass es sehr wichtig ist, dass es um ein Kind geht, das verschwunden ist.

Jarl Hammar, der neben ihnen gestanden und zugehört hat, hebt zwei heftig zitternde Hände und sagt mit seiner heiser bebenden Stimme:

»Seien Sie nett zu Anabella, sie ist ein sehr fleißiges Mädchen.«

»Sie muss mir erzählen, was sie gesehen hat«, erklärt Joona verbissen und wendet sich erneut Anabella zu:

»La verdad, por favor.«

Jarl Hammar wirkt hilflos, als aus Anabellas glänzenden dunklen Augen große Tränen kullern.

»Perdón«, flüstert sie. »Perdón, señor

»Sei nicht traurig, Anabella«, sagt Jarl Hammar und winkt Joona zu sich. »Kommen Sie herein, ich kann sie hier nicht im Treppenhaus weinen lassen.«

Sie betreten die Wohnung und setzen sich an Jarl Hammars glänzenden Esszimmertisch, auf dem er eine Dose mit Pfefferkuchen platziert, während Anabella leise berichtet, dass sie seit drei Monaten obdachlos ist, sich bisher aber immer in den Treppenhäusern und Kellerräumen der Häuser verstecken konnte, in denen sie geputzt hat. Als sie die Schlüssel zu Rosenlunds Wohnung bekam, um die Blumen zu gießen und sich um die Katze zu kümmern, konnte sie sich endlich regelmäßig waschen und sicher schlafen. Sie wiederholt immer wieder, dass sie nichts gestohlen hat, dass sie keine Diebin ist, sie hat weder Lebensmittel noch sonst etwas angerührt, und sie schläft auch nicht in den Betten der Rosenlunds, sondern auf dem Küchenteppich.

Dann sieht Anabella Joona ernst an und sagt, dass sie einen sehr leichten Schlaf hat, den hat sie schon als Kind gehabt, als sie auf ihre kleineren Geschwister aufpassen musste. In der Nacht zum Samstag hörte sie ein Geräusch im Treppenhaus und bekam Angst, raffte ihre Sachen zusammen, schlich sich zur Wohnungstür und schaute durch den Spion.

»Die Aufzugtür stand offen«, sagt sie, aber sehen konnte sie nichts. Plötzlich hörte sie Geräusche, Seufzer und langsame Schritte, es klang, als käme ein alter, schwerer Mensch.

»Aber Stimmen haben Sie keine gehört?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Sombras

Anabella versucht zu beschreiben, dass sie Schatten gesehen hat, die sich im Hausflur bewegten. Joona nickt und fragt:

»Was haben Sie im Spiegel gesehen? Qué viste en el espejo?«

»Im Spiegel?«

«Sie konnten in den Aufzug sehen, Anabella«, sagt Joona.

Anabella denkt nach und sagt langsam, dass sie eine gelbe Hand gesehen hat.

»Und dann«, ergänzt sie, »habe ich ihr Gesicht gesehen.«

»Es war eine Frau?«

»Sí, una mujer

Anabella erklärt, dass die Frau eine Mütze trug, die einen Schatten auf ihr Gesicht warf, aber für einen kurzen Moment konnte sie Wange und Mund sehen.

»Sin duda er una mujer«, wiederholt Anabella. Es war zweifellos eine Frau.

»Wie alt?«

Sie schüttelt den Kopf. Sie weiß es nicht.

»War sie in Ihrem Alter?«

»Tal vez.« Vielleicht.

»Ein bisschen älter?«, fragt Joona.

Sie nickt, sagt dann jedoch, dass sie es wirklich nicht weiß und die Frau nur für Sekundenbruchteile gesehen hat und ihr Gesicht eigentlich verdeckt war.

»Y la boca de la señora?«, zeigt Joona. Wie sah der Mund der Frau aus?

»Fröhlich.«

»Sie sah fröhlich aus?«

»Sí. Contenta

Joona gelingt es nicht, eine genauere Personenbeschreibung zu bekommen, er fragt nach Details, dreht die Fragen um und macht Vorschläge, aber Anabella hat offensichtlich alles beschrieben, was sie gesehen hat. Er dankt ihr und Jarl Hammar für die Hilfe.

Die Treppe hochsteigend, ruft Joona Anja an. Sie meldet sich sofort.

»Anja Larsson, Landeskripo.«

»Anja, hast du schon etwas über diese Eva Blau herausgefunden?«

»Ich bin dabei, aber dann rufst du dauernd an und störst mich.«

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, aber die Sache eilt.«

»Ich weiß, ich weiß. Aber im Moment habe ich noch nichts für dich.«

»Okay, ruf mich an, sobald …«

»Hör auf zu labern«, unterbricht sie ihn und legt auf.

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