49.
Samstagnachmittag, der neunzehnte Dezember
Das mulmige Gefühl in Joona Linnas Bauch ist fast verschwunden, als er in den fünften Gang hochschaltet und durch den Schneematsch auf der E 4 Richtung Uppsala braust. Trotz der sogenannten Reformen, als die man die Sparmaßnahmen in der psychiatrischen Pflege Anfang der neunziger Jahre verkauft hat, ist die psychiatrische Klinik Ulleråker nicht geschlossen worden. Damals wurde von einer großen Zahl psychisch kranker Menschen erwartet, allein zurechtzukommen, nachdem sie ihr ganzes Leben in geschlossenen Abteilungen verbracht hatten. Man bot ihnen Wohnungen an, aus denen sie schnell wieder hinausgeworfen wurden, weil sie nie zuvor Rechnungen bezahlt oder gelernt hatten, sich selbst um Küchenherde und Türen zu kümmern. Die Zahl der stationär behandelten Patienten sank, aber ebenso viele Menschen wurden obdachlos. Als Folge des Neoliberalismus schlug die große Finanzkrise zu, und plötzlich hatten die Landschaftsverbände nicht mehr die nötigen Mittel, diese Menschen aufzufangen. Heute gibt es in ganz Schweden nur noch wenige psychiatrische Kliniken, und Ulleråker ist eine von ihnen.
Anja hat wie üblich gute Arbeit geleistet. Als Joona das Gebäude betritt, sieht er am Blick der jungen Frau am Empfang, dass er bereits erwartet wird.
Sie sagt nur:
»Joona Linna?«
Er nickt und zeigt ihr seinen Dienstausweis.
»Doktor Langfeldt erwartet Sie. Erste Etage, das erste Zimmer im Flur rechts.«
Joona bedankt sich und steigt die breite Steintreppe hinauf. In der Ferne hört er einen dumpfen Knall und Rufe. Es riecht nach Zigarettenrauch, und irgendwo läuft ein Fernseher. Die Fenster sind vergittert. Draußen liegt ein friedhofsähnlicher Park mit verregneten, sich schwarz verfärbenden Sträuchern und morschen, von Schlingpflanzen überwucherten Spalieren. Trostlos, denkt Joona und sagt sich, dass Orte dieser Art im Grunde nicht dafür gedacht sind, dass man gesund wird – es sind Orte zur Verwahrung. Er erreicht den Treppenabsatz und sieht sich um. Zu seiner Linken liegt hinter einer Glastür ein langer, schmaler Korridor. Er überlegt einen Moment, wo er ihn schon einmal gesehen hat, bis er begreift, dass er fast eine Kopie des Kronoberg-Gefängnisses ist. Eine Reihe verschlossener Türen, herabhängende Metallklinken, Sicherheitsschlösser. Aus einer der Türen tritt eine ältere Frau in einem langen Kleid. Sie stiert ihn durch die Glasscheibe an. Joona nickt ihr kurz zu und öffnet anschließend die Tür zu dem anderen Flur, in dem es durchdringend nach Putzmittel riecht – ein beißender Geruch, der an Chlor erinnert.
Doktor Langfeldt erwartet ihn bereits im Türrahmen, als Joona zu seinem Zimmer kommt.
»Die Polizei?«, fragt er rhetorisch und streckt Joona eine breite, fleischige Hand entgegen. Sein Händedruck ist überraschend weich, möglicherweise der weichste Händedruck, den Joona je erlebt hat.
Doktor Langfeldt verzieht keine Miene und sagt mit einer minimalen Geste:
»Bitte, treten Sie ein.«
Das Büro des Arztes ist erstaunlich geräumig. Schwere, mit Aktenordnern gefüllte Bücherregale bedecken die Wände. Der Raum kommt völlig ohne dekorative Gegenstände aus, es gibt weder Gemälde noch Fotos. Das einzige Bild im Zimmer ist eine Kinderzeichnung, die an der Tür hängt. Es ist ein mit grüner und blauer Kreide gemalter Kopffüßer. Dreijährige zeichnen Menschen im Allgemeinen so. Von einem Gesicht – mit Augen, Nase und Mund – gehen Arme und Beine aus. Entweder fehlt den Kopffüßern der Körper, oder der Kopf ist der Körper, den sie haben.
Doktor Langfeldt geht zu seinem Schreibtisch, der fast vollständig unter Blätterstapeln begraben ist. Er hebt ein Telefon älteren Modells vom Besucherstuhl und macht eine weitere sparsame Handbewegung in Joonas Richtung, die dieser als Aufforderung auffasst, Platz zu nehmen.
Der Arzt sieht ihn bedächtig an, sein Gesicht ist schwer und zerfurcht, und seine Züge haben etwas Lebloses, als würde er an einer Gesichtslähmung leiden.
»Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen«, sagt Joona. »Es ist immerhin Wochenende und …«
»Ich weiß, was Sie mich fragen wollen«, unterbricht ihn der Arzt. »Ich soll Ihnen Informationen über Lydia Evers geben. Meine Patientin.«
Joona öffnet den Mund, aber der Doktor hält eine Hand hoch, um ihn zu bremsen.
»Ich setze voraus, dass Sie schon einmal von der ärztlichen Schweigepflicht gehört haben«, fährt Langfeldt fort, »außerdem …«
»Ich kenne die Gesetze«, unterbricht Joona ihn. »Wenn die zu untersuchende Straftat eine Haftstrafe von mehr als zwei Jahren nach sich ziehen würde, können …«
»Ja, ja, ja«, sagt Langfeldt.
Der Blick des Arztes ist nicht ausweichend, nur leblos.
»Ich kann Sie natürlich auch zu einer Vernehmung vorladen«, erläutert Joona sanft. »Der Staatsanwalt bereitet zur Stunde einen Haftbefehl für Lydia Evers vor. Im Zusammenhang mit den Ermittlungen werden wir selbstverständlich auch ihre Krankenakte anfordern.«
Doktor Langfeldts Finger trommeln gegeneinander, und er leckt sich die Lippen.
»Das ist es ja gerade«, sagt er. »Ich möchte bloß …«
Er verstummt.
»Ich würde einfach gerne eine Garantie bekommen.«
»Eine Garantie?«
Langfeldt nickt.
»Ich möchte, dass mein Name aus dieser Sache herausgehalten wird.«
Joona begegnet Langfeldts Blick und erkennt auf einmal, dass die Leblosigkeit des Mannes in Wahrheit unterdrückte Angst ist.
»Das kann ich Ihnen nicht versprechen«, sagt er schroff.
»Und wenn ich Sie darum bitte?«
»Ich bin stur«, erklärt Joona.
Der Arzt lehnt sich zurück. In seinen Mundwinkeln zuckt es leicht. Es ist das einzige Anzeichen von Nervosität oder Leben überhaupt, das er bisher gezeigt hat.
»Was wollen Sie wissen?«, fragt er.
Joona lehnt sich vor und antwortet:
»Alles, ich will alles wissen.«
Eine Stunde später verlässt Joona das Büro des Arztes. Er wirft einen flüchtigen Blick in den gegenüberliegenden Flur, aber die Frau in dem langen Kleid ist fort, und als er die Steintreppe hinuntereilt, stellt er fest, dass es in der Zwischenzeit dunkel geworden ist, der Park und die Spaliere sind nicht mehr zu sehen. Die junge Frau am Empfang ist offenbar nach Hause gegangen. Ihr Platz ist verwaist und die Eingangstür so verriegelt, dass sie sich nur von innen öffnen lässt. Obwohl Joona weiß, dass die Anstalt hundert Patienten beherbergt, herrscht im gesamten Gebäude vollkommene Stille.
Als er wieder in seinen Wagen steigt und den großen Parkplatz vor der Anstalt verlässt, friert er.
Irgendetwas stört ihn. Etwas, das er nicht zu fassen bekommt. Er versucht, sich an den Punkt zu erinnern, an dem es anfing, ihn zu stören.
Der Arzt hatte einen Ordner geholt, der mit den anderen in den Regalen identisch war, leicht auf die Vorderseite geklopft und gesagt:
»Da haben wir sie.«
Das Foto von Lydia zeigte eine recht hübsche Frau mit mittellangen, hennafarbenen Haaren und einem eigentümlichen Lächeln: Unter der ansprechenden Oberfläche strömte rasende Wut.
Als Lydia zum ersten Mal eingewiesen wurde, war sie erst zehn. Sie kam in die Klinik, weil sie ihren kleinen Bruder Kasper Evers getötet hatte. Eines Sonntags hatte sie ihm mit einem Holzstock den Schädel eingeschlagen. Dem Arzt gegenüber hatte sie erklärt, ihre Mutter habe sie gezwungen, den Bruder großzuziehen. Lydia war für Kasper verantwortlich, wenn die Mutter arbeitete oder schlief, und es war ihre Aufgabe, ihn zu züchtigen.
Lydia kam in die Obhut der Behörden, die Mutter wurde wegen Kindesmisshandlung zu einer Haftstrafe verurteilt, Kasper Evers starb im Alter von drei Jahren.
»Lydia hat ihre Familie verloren«, flüstert Joona und schaltet die Scheibenwischer ein, als ein entgegenkommender Bus seinen Wagen nass spritzt.
Doktor Langfeldt behandelte Lydia nur mit starken angsthemmenden Psychopharmaka und unterzog sie ansonsten keiner Therapie. Er war der Auffassung, dass die Mutter sie zu ihren Handlungen gezwungen hatte. Auf Grund seines Gutachtens wurde Lydia in einer offenen Einrichtung für jugendliche Straftäter untergebracht. Als sie achtzehn wurde, verschwand sie aus den Registern. Sie zog in ihr Elternhaus zurück und lebte dort mit einem jungen Mann zusammen, den sie im Jugendheim kennengelernt hatte. Fünf Jahre später wurde sie erneut aktenkundig, als sie in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen wurde, weil sie wiederholt Kinder auf einem Spielplatz geschlagen hatte.
Doktor Langfeldt begegnete ihr zum zweiten Mal, und sie wurde seine Patientin. Es war vorgesehen, dass eine Entlassung nur nach einem besonderen Prüfungsverfahren möglich sein sollte.
Der Arzt hatte mit rauer und distanzierter Stimme berichtet, dass Lydia zu einem Spielplatz gegangen war, dort ein bestimmtes Kind ausgewählt hatte, eine Jungen von etwa fünf Jahren, um ihn anschließend von den anderen Kindern wegzulocken und zu schlagen. Sie war mehrmals zu dem Spielplatz gekommen, ehe sie gefasst werden konnte. Beim letzten Mal hatte sie das Kind so schwer misshandelt, dass es lebensgefährlich verletzt wurde.
»Lydia saß sechs Jahre in der Psychiatrie. Sie wurde während des gesamten Zeitraums therapiert«, erklärte Langfeldt und lächelte freudlos. »Sie war eine vorbildliche Patientin. Es gab nur ein Problem, sie bildete ständig Allianzen mit anderen Insassen. Sie scharte Gruppen um sich. Gruppen, von denen sie absolute Loyalität erwartete.«
Sie bildet Familien, denkt Joona und biegt zum Fridhemsplan ab, als ihm auf einmal die Weihnachtsfeier in Skansen wieder einfällt. Er zieht in Erwägung, einfach so zu tun, als hätte er sie vergessen, sieht aber ein, dass er es Anja schuldig ist, hinzufahren.
Langfeldt hatte die Augen geschlossen und seine Schläfen massiert, als er weitersprach:
»Nach sechs Jahren ohne Zwischenfälle wurde sie unter Auflagen entlassen.«
»Es gab überhaupt keine Zwischenfälle?«, hatte Joona sich erkundigt.
Langfeldt dachte nach.
»Einmal ist etwas vorgefallen, aber es konnte ihr niemals nachgewiesen werden.«
»Was ist passiert?«
»Eine Patientin wurde im Gesicht verletzt. Sie behauptete, sich im Gesicht geschnitten zu haben, aber es ging das Gerücht, Lydia Evers hätte es getan. Wenn ich mich recht erinnere, war das alles nur leeres Gerede, nichts Ernstzunehmendes.«
Langfeldt hatte die Augenbrauen gehoben, um anzuzeigen, dass er mit seinem Bericht weiterkommen wollte.
»Fahren Sie fort«, sagte Joona.
»Sie durfte wieder in ihr Elternhaus ziehen, wurde weiter behandelt, verhielt sich vorbildlich. Es gab keinen Grund«, sagte der Arzt, »wirklich überhaupt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass sie sich ernsthaft darum bemühte, gesund zu werden. Zwei Jahre später war Lydia so weit, den letzten Schritt in ihrer Behandlung zu machen. Sie entschied sich für eine Therapieform, die damals in Mode war. Sie besuchte eine Gruppentherapie bei …«
»Erik Maria Bark«, ergänzte Joona.
Langfeldt nickte.
»Die Sache mit der Hypnose scheint ihr nicht so gut bekommen zu sein«, erklärte er überheblich. »Das Ganze endete damit, dass Lydia versuchte, Selbstmord zu begehen. Sie landete zum dritten Mal bei mir …«
Joona Linna unterbrach den Arzt:
»Hat sie Ihnen von ihrem Zusammenbruch erzählt?«
Langfeldt schüttelte den Kopf.
»Wenn ich es recht verstanden habe, war dieser Hypnotiseur an allem schuld.«
»Ist Ihnen bewusst, dass sie Erik Maria Bark gegenüber die Misshandlung eines Kindes gestanden hat?«, erkundigte sich Joona schroff.
Langfeldt zuckte mit den Schultern.
»Ich habe davon gehört, aber ich nehme mal an, so ein Hypnotiseur kann die Leute so weit bringen, dass sie alles Mögliche gestehen.«
»Sie haben ihr Geständnis also nicht ernst genommen?«, fragte Joona.
Langfeldt lächelte schmallippig.
»Sie war ein Wrack, es war völlig unmöglich, mit ihr zu sprechen. Ich musste sie mit Elektroschocks und starken Neuroleptika behandeln – es war ein hartes Stück Arbeit, sie wieder auf die Beine zu bekommen.«
»Dann haben Sie also nicht einmal untersucht, ob es eventuell einen Grund für ihr Geständnis gab?«
»Ich nahm an, dass es um Schuldgefühle wegen ihres kleinen Bruders ging«, antwortete Langfeldt streng.
»Wann wurde sie entlassen?«, fragte Joona.
»Vor zwei Monaten«, antwortete der Arzt. »Sie war eindeutig gesund.«
Joona stand auf, und sein Blick fiel erneut auf das einzige Bild in Doktor Langfeldts Zimmer, den Kopffüßler, der an der Tür hing. Ein gehender Kopf, dachte er unvermittelt. Nur Gehirn, kein Herz.
»Das sind Sie«, sagte Joona und zeigte auf die Zeichnung. »Habe ich Recht?«
Doktor Langfeldt wirkte verwirrt, als Joona Linna das Büro verließ.
Es ist fünf Uhr nachmittags, und die Sonne ist zwei Stunden zuvor untergegangen. Die Luft ist kalt, und es ist stockfinster. Dunstiges Licht kommt von spärlich platzierten Straßenlaternen. Unterhalb des Freilichtmuseums Skansen erahnt man in Form von dunstigen Lichtflecken die Stadt. In den Buden erhascht man Blicke auf Glasbläser und Silberschmiede. Joona überquert den Weihnachtsmarkt. Feuer brennen, Pferde schnauben, Kastanien werden geröstet. Kinder laufen in einem Steinlabyrinth, einige von ihnen trinken heißen Kakao. Man hört Musik, und Familien tanzen auf der kreisrunden Tanzfläche um eine hohe Tanne herum.
Joonas Handy klingelt, und er bleibt vor einem Marktstand mit Wurst und Rentierfleisch stehen.
»Joona Linna.«
»Hier ist Erik Maria Bark.«
»Hallo.«
»Ich glaube, dass Lydia Benjamin zu Jussis verwunschenem Schloss mitgenommen hat. Es liegt irgendwo in der Nähe von Dorotea, in der Provinz Västerbotten, in Lappland.«
»Du glaubst?«
»Ich bin mir fast sicher«, antwortet Erik verbissen. »Heute gehen keine Flüge mehr. Du musst nicht mitkommen, aber ich habe für morgen früh drei Flugtickets reserviert.«
»Gut«, sagt Joona. »Schick mir eine SMS mit allen Informationen über diesen Jussi, dann setze ich mich mit der Polizei da oben in Verbindung.«
Als Joona auf einem der schmalen Kieswege zum Restaurant Solliden hinuntergeht, hört er hinter sich Kinder lachen, und es schaudert ihn. Das schöne gelb gestrichene Restaurant ist mit Lichterketten und Fichtenzweigen geschmückt. Im Speisesaal hat man auf vier gigantischen Tischen Weihnachtsspezialitäten aufgetischt, und als Joona den Raum betritt, sieht er seine Kollegen sofort. Sie haben sich an die riesigen Fenster gesetzt, durch die man eine fantastische Aussicht auf das Wasser der Nybroviken und auf den Stadtteil Södermalm hat, während links der Vergnügungspark Gröna Lund und auf der anderen Seite das Vasa-Museum liegen.
»Hier sind wir«, ruft Anja.
Sie steht auf und winkt ihm zu. Joona merkt, dass ihm ihr Enthusiasmus gefällt. Nach seinem Besuch bei dem Arzt in Ulleråker hat er immer noch ein unangenehmes, beunruhigendes Gefühl.
Er begrüßt alle und setzt sich neben Anja. Ihm gegenüber sitzt Carlos Eliasson. Er trägt eine rote Wichtelmütze auf dem Kopf und nickt Joona fröhlich zu.
»Wir haben uns schon ein paar Schnäpse genehmigt«, sagt er vertraulich, und sein sonst so gelblich blasser Teint rötet sich heftig.
Anja versucht, ihre Hand unter Joonas Arm zu zwängen, aber er steht auf und erklärt, dass er sich etwas zu essen holen muss.
Er bewegt sich zwischen den Tischen mit redenden und essenden Menschen hindurch und denkt, dass er wirklich nicht in der richtigen Weihnachtsstimmung ist. Es kommt ihm vor, als säße ein Teil von ihm noch immer im Wohnzimmer von Johan Samuelssons Eltern. Oder als ginge er noch immer durch die psychiatrische Klinik Ulleråker und zu der verschlossenen Tür, die zu dem langen, gefängnisgleichen Flur führt.
Joona nimmt sich einen Teller vom Stapel, reiht sich in die Schlange vor den Heringsgerichten ein und beobachtet seine Kollegen aus der Ferne. Anja hat ihren rundlichen, kurvenreichen Körper in ein rotes Angorakleid gezwängt. Sie hat noch ihre Winterstiefel an. Petter unterhält sich intensiv mit Carlos, sein Kopf ist frisch rasiert, und sein Scheitel glänzt unter den Kronleuchtern verschwitzt.
Joona nimmt sich Matjesheringsstücke, Senfheringe und andere eingelegte Heringsstücke und bleibt anschließend stehen. Er betrachtet eine Frau aus einer anderen Abendgesellschaft. Sie trägt ein enges hellgraues Kleid und wird von zwei Mädchen mit hübschen Frisuren zum Tisch mit den Süßspeisen geführt. Ein Mann in einem graubraunen Anzug eilt ihnen mit einem kleineren Mädchen in einem roten Kleid hinterher.
In dem kleinen Messingtopf sind keine Kartoffeln mehr, und Joona muss eine Weile warten, bis eine Kellnerin frisch gekochte Kartoffeln nachfüllt. Sein Leibgericht, der finnische Steckrübenauflauf, ist nirgendwo zu sehen. Joona balanciert seinen Teller zwischen den Polizisten hindurch, die mittlerweile beim vierten Durchgang sind. Fünf Kriminaltechniker grölen mit erhobenen Schnapsgläsern ein Trinklied. Joona setzt sich und spürt augenblicklich Anjas Hand auf seinem Bein. Sie lächelt ihn an.
»Du hast hoffentlich nicht vergessen, dass ich ein bisschen an dir herumfummeln darf?«, sagt sie scherzhaft, lehnt sich vor und flüstert laut: »Ich will heute Abend Tango mit dir tanzen.«
Carlos hört sie und ruft:
»Anja Larsson, du und ich werden Tango tanzen!«
»Ich tanze mit Joona«, erklärt sie mit Nachdruck.
Carlos legt den Kopf schief und lallt:
»Ich stelle mich hinten an.«
Anja spitzt die Lippen und nippt an ihrem Bier.
»Wie war es in Ulleråker?«, fragt sie Joona.
Er schneidet eine Grimasse, und Anja erzählt von einer Tante, die eigentlich gar nicht so krank war, aber starke Medikamente bekam, weil es für das Pflegepersonal so am bequemsten war.
Joona nickt und will sich gerade ein Stück Räucherlachs einverleiben, als er innehält. Jetzt weiß er, welche wichtige Information er von Langfeldt bekommen hat.
»Anja«, sagt er. »Ich brauche einen Polizeibericht.«
Sie lacht prustend.
»Aber bestimmt nicht jetzt«, erwidert sie.
»Dann eben morgen, aber so früh wie möglich.«
»Was ist das für ein Bericht.«
»Ein Fall von Körperverletzung. Lydia Evers wurde verhaftet, weil sie auf einem Spielplatz ein Kind misshandelt hat.«
Anja hat einen Stift herausgesucht und macht sich auf einer vor ihr liegenden Quittung Notizen.
»Morgen ist Sonntag, da wollte ich eigentlich ausschlafen«, sagt sie unzufrieden.
»Das wirst du schön bleiben lassen.«
»Und du tanzt mit mir?«
»Versprochen«, flüstert Joona.
Carlos sitzt schlafend auf einem Stuhl in der Garderobe. Petter und seine Begleiterin sind in die Stadt gefahren, um im Café Opera weiterzufeiern. Joona und Anja haben versprochen, dafür zu sorgen, dass Carlos gut nach Hause kommt. Während sie auf das Taxi warten, gehen sie in die kalte Luft hinaus. Joona führt Anja auf die Tanzfläche und warnt sie vor der dünnen Eisschicht, die er auf dem Holz unter ihnen zu spüren glaubt.
Sie tanzen, und Joona singt leise und sanft:
»Milloin, milloin, milloin …«
»Heirate mich«, flüstert Anja.
Joona antwortet nicht, und seine Gedanken wandern zu Disa und ihrem wehmütigen Gesicht. Er denkt an ihre Freundschaft in all diesen Jahren und dass er gezwungen gewesen war, sie zu enttäuschen. Anja versucht, sich zu ihm hochzustrecken und sein Ohr zu lecken, und er zieht seinen Kopf behutsam zurück.
»Joona«, wimmert Anja. »Du tanzt so gut.«
»Ich weiß«, flüstert er und dreht sie im Kreis.
Ringsum riecht es nach Lagerfeuern und Glühwein, und Anja schmiegt sich immer enger an ihn, während er überlegt, dass es nicht einfach sein wird, Carlos in ein Taxi zu verfrachten.
Im selben Moment klingelt das Handy in seiner Tasche. Als Joona sich Anja entzieht und meldet, stöhnt sie enttäuscht auf.
»Joona Linna.«
»Hallo«, sagt eine gepresste Stimme. »Ich bin es. Joakim Samuelsson. Sie sind heute bei uns gewesen …«
»Ja, ich weiß, wer Sie sind«, sagt Joona.
Er denkt daran, wie sich Joakim Samuelssons Pupillen geweitet hatten, als er sich nach Lydia Evers erkundigte.
»Ich wollte Sie fragen, ob wir uns vielleicht treffen könnten«, sagt Joakim Samuelsson. »Ich möchte Ihnen etwas erzählen.«
Joona sieht auf die Uhr. Es ist halb zehn.
»Können wir uns jetzt sehen?«, fragt Joakim und fügt unmotiviert hinzu, dass seine Frau und seine Tochter zu den Schwiegereltern gefahren sind.
»Das lässt sich einrichten«, antwortet Joona. »Können Sie in einer Dreiviertelstunde zum Eingang des Polizeipräsidiums in der Polhemsgatan kommen?«
»Ja«, antwortet Joakim und klingt unendlich müde.
»Tut mir leid, mein Schatz«, sagt Joona zu Anja, die ihn mitten auf der Tanzfläche erwartet. »Aber heute Abend wird kein Tango mehr getanzt.«
»Das sollte dir auch leidtun«, erwidert sie säuerlich.
»Ich vertrage einfach keinen Schnaps«, seufzt Carlos, als sie ihn zu den Rolltreppen und zum Ausgang führen.
»Fang jetzt bloß nicht an zu kotzen«, sagt Anja schroff, »sonst verlange ich eine Gehaltserhöhung.«
»Anja, Anja«, sagt Carlos verletzt.
Joakim sitzt gegenüber vom Haupteingang des Landespolizeiamts in einem weißen Mercedes. Die Innenraumbeleuchtung ist eingeschaltet, und sein Gesicht sieht in dem fahlen Licht müde und einsam aus. Als Joona an das Autofenster klopft, zuckt er zusammen, als wäre er ganz in Gedanken versunken gewesen.
»Hallo«, sagt er und öffnet die Tür. »Steigen Sie ein.«
Joona setzt sich auf den Beifahrersitz. Er wartet. In dem Wagen riecht es vage nach Hund. Auf der Rückbank liegt eine haarige Decke.
»Wissen Sie«, sagt Joakim, »wenn ich an mich selbst denke, daran, wie ich war, als Johan geboren wurde, dann kommt es mir vor, als würde ich an einen Fremden denken. Ich hatte eine ziemlich schwierige Kindheit, saß in einem Heim für jugendliche Straftäter und war Pflegekind … Aber als ich Isabella kennenlernte, habe ich mich zusammengerissen und mein Studium ernst genommen. Als Johan geboren wurde, beendete ich im selben Jahr meine Ausbildung zum Diplomingenieur. Ich weiß noch, dass wir Urlaub gemacht haben, ich war vorher noch nie in Urlaub gefahren, wir sind nach Griechenland gereist, und Johan hatte gerade laufen gelernt und …«
Joakim Samuelsson schüttelt den Kopf.
»Das ist lange her. Er sah mir sehr ähnlich … das gleiche …«
Es wird still im Auto. Eine graue und feuchte Ratte schleicht sich auf dem dunklen Bürgersteig an den Sträuchern voller Müll vorbei.
»Was wollten Sie mir erzählen?«, fragt Joona nach einer Weile.
Joakim reibt sich die Augen.
»Sind Sie sicher, dass Lydia Evers Johan umgebracht hat?«, fragt er mit schwacher Stimme.
Joona nickt.
»Ich bin mir sehr sicher«, antwortet er.
»Also gut«, flüstert Joakim Samuelsson und wendet Joona sein müdes, zerfurchtes Gesicht zu.
»Ich kenne sie«, sagt er schlicht. »Ich kenne sie sehr gut. Wir saßen damals in derselben Anstalt für jugendliche Straftäter.«
»Können Sie sich erklären, warum sie Johan entführt hat?«
»Ja«, sagt Joakim Samuelsson und schluckt schwer. »Damals, in der Anstalt … Lydia war erst vierzehn, als sie entdeckten, dass sie schwanger war. Die Verantwortlichen bekamen natürlich eine Heidenangst und zwangen sie, das Kind abzutreiben. Die Sache sollte unter den Teppich gekehrt werden, aber … Es gab Komplikationen, eine schwere Infektion in der Gebärmutter, die auf die Eierstöcke übergriff, aber Lydia wurde mit Penizillin behandelt und wieder gesund.«
Joakims Hände zittern, als er sie aufs Lenkrad legt.
»Nach der Zeit in der Anstalt zog ich mit Lydia zusammen. Wir wohnten in ihrem Haus in Rotebro und versuchten, Kinder zu bekommen, sie war geradezu besessen von der Idee. Aber es klappte nicht. Also ließ sie sich von einem Gynäkologen untersuchen. Ich werde nie vergessen, wie es war, als sie von dem Termin zurückkam und erzählte, dass sie auf Grund der Abtreibung keine Kinder bekommen konnte.«
»Sie haben Lydia in der Anstalt geschwängert«, sagt Joona.
»Ja.«
»Also waren Sie ihr ein Kind schuldig«, sagt Joona eher zu sich selbst.