Als Verdächtiger war Masters’ liebstes Kind Dr. Jack Richmond. Zum ersten kam ihm die Tatsache, daß der gutaussehende Arzt die Gelegenheit zum Mord gehabt hatte… nun, äußerst gelegen. Zum zweiten war er genau der Typ, der auf Frauen so anziehend wirkt, und dem man psychisch ein Motiv sofort zutrauen würde. Drittens hatte er als Arzt die ideale Gelegenheit, eine tödliche Droge zu verabreichen. Unter dem Vorwand, sich Sorgen um das Befinden seines Nachbarn zu machen, hätte er gut zu Larry Connor ins Büro gehen können, vielleicht sogar auf dem Weg ins Krankenhaus, um ihm ein >Beruhigungsmittel< zu geben, das Larry, erregt von seinem Streit mit Lila, unbesehen genommen hätte. Gewiß, ein Arzt hätte kaum Chloralhydrat gewählt; andererseits würde ein Arzt, der sich mit Mordgedanken trug, bestimmt zu einem Medikament greifen, das nicht auf einen Arzt schließen ließ. Auf jeden Fall wäre es bestimmt interessant und auch sicher aufschlußreich, Dr. Richmonds besagten Krankenhausbesuch einmal näher unter die Lupe zu nehmen. Und genau das hatte Masters jetzt vor.
Er hatte sich natürlich die schlechteste Zeit dafür ausgesucht. Nicht einer der Ärzte und Schwestern, die jetzt Dienst taten, war in den frühen Morgenstunden im Krankenhaus gewesen. Masters konnte nichts tun als im Empfang der Entbindungs-Station nachzuprüfen, ob Dr. Richmond sich an- und abgemeldet hatte. Und das hatte er. An: ein Uhr zwanzig morgens, ab: drei Uhr dreißig morgens. Ein hieb- und stichfestes Alibi, falls es standhielt. Falls nicht, reichlich Zeit für zwei Morde. Oder, wahrscheinlicher, einen Mord. Soviel hatte er bestimmt nicht riskiert, überlegte Masters. Wenn seine Theorie mit den Klimaanlagen zutraf, hatte Richmond Larry Connor zuerst ermordet. Dann später, einige Zeit nach drei Uhr dreißig, hatte er sich Lila vorgenommen. Was Masters wirklich suchte, waren Name und Adresse der Schwester, die auf dieser Station Nachtdienst gehabt hatte. Ohne zuviel von der Wahrheit durchblicken zu lassen, konnte er sich beides am Empfang beschaffen. Die Schwester hieß Agnes Morrow; sie wohnte in einem kleinen Appartementhaus in der Nähe des Krankenhauses.
Masters parkte in einiger Entfernung vom Haus. Auf seiner Uhr war es nach eins – lange nach seiner gewohnten Essenszeit. Doch Masters war nicht hungrig; außerdem wollte er, wie gewöhnlich, abnehmen. Angenommen, Schwester Morrow, die um sieben Uhr früh Dienstschluß hatte, war um acht Uhr ins Bett gekommen, dann hatte sie über fünf Stunden geschlafen. Fünf Stunden Schlaf waren genug für Masters, der niemals sehr gut schlief, aber vermutlich nicht für Agnes Morrow, die vermutlich sehr gut schlief. Er beschloß, es trotzdem zu versuchen und stieg aus. Auf der Orientierungstafel in der Halle suchte er Agnes Morrows Appartementnummer, ging hinauf und klingelte.
Er hatte Glück. Schwester Morrow war auf, wenn auch nicht angezogen. Das heißt, sie war in Schlafanzug und Bademantel, welch intime Aufmachung jedoch auf Masters keineswegs stimulierend wirkte. Agnes Morrow hatte seit über vierzig Jahren erfolgreich ihren Junggesellinnenstatus verteidigt und machte den deprimierenden Eindruck, das gleiche mit ihrer Keuschheit getan zu haben. Dürr, grauhaarig und nüchtern. Sie sah aus, als sei ihre Rede kurz und bündig und dem Bellen einer Bulldogge nicht unähnlich. Und so war es denn auch.
»Bitte?«
»Miss Agnes Morrow?«
»Bin ich.«
»Mein Name ist Masters. Leutnant. Kriminalpolizei. Ich möchte Sie sprechen. Die Angelegenheit ist vertraulich.« Seine kurze, bündige Redeweise war eine automatische Reaktion auf die ihre. Masters besaß die Wandlungsfähigkeit eines Chamäleons, eine Eigenschaft, die ihm in seinem Beruf sehr zustatten kam.
»Treten Sie ein.«
Masters setzte sich auf die Kante des grauen Sofas, während Miss Morrow einen unbequemen, hochlehnigen Armstuhl wählte. Sie saß kerzengerade, ohne die Lehne des Stuhls zu berühren, und sie packte die Armstützen, als sei sie bereit, beim ersten Anzeichen einer Attacke auf ihre Jungfräulichkeit sofort auf die Füße zu springen.
»Im Krankenhaus sagte man mir«, begann Masters, »daß Sie von elf Uhr abends bis sieben Uhr morgens Dienst haben.«
»Das stimmt.«
»Und in der Nacht vom vergangenen Samstag auf Sonntag waren Sie ebenfalls im Dienst?«
»Selbstverständlich. Ich habe seit fünfzehn Jahren nicht einmal den Dienst versäumt.«
»Sie hatten, glaube ich, während jener Nacht eine Entbindung?«
»Wir hatten zwei Entbindungen.«
»Ich meine die, zu der Dr. Jack Richmond als behandelnder Arzt zugezogen wurde?«
»Ach ja. Die Wehen waren langsamer als wir annahmen, als wir Doktor Richmond anriefen. Er mußte etwa zwei Stunden im Krankenhaus warten.«
»Den Eintragungen zufolge war er genau zwei Stunden und zehn Minuten dort.«
»So genau gebe ich nicht acht.«
»Darüber wollte ich mich mit Ihnen unterhalten. Sind Sie sicher, daß Dr. Richmond die ganze Zeit im Krankenhaus war?«
»Gewiß.«
»Hatten Sie ihn ständig unter Beobachtung?«
»Natürlich nicht. Ich bin viel zu beschäftigt, um jemanden ständig zu beobachten.«
»Aber Sie sagten doch, Sie seien sicher, daß er die ganze Zeit dort war.«
»Ich sagte, ich sei sicher, aber ich habe nicht gesagt, daß ich es beweisen kann. Als Dr. Richmond sah, daß er warten mußte, fragte er mich, ob wir ein Bett frei hätten, damit er sich hinlegen könne. Am Ende des Ganges war ein freies Privatzimmer, und ich sah ihn hineingehen. Als ich ihn eine Stunde später holen ging, war er ebenfalls da. Ich habe keinen Grund zu der Annahme, daß er das Zimmer zwischendurch verlassen hat.«
»Er ging also direkt in das Zimmer, nachdem Sie ihm gesagt hatten, es sei frei?«
»Zuerst rief er noch seine Frau an und teilte ihr mit, daß er noch aufgehalten werde. Dann ging er in das Zimmer.«
»Sie sagen, dieses Privatzimmer liegt am Ende des Ganges. Gibt es dort eine Treppe?«
»Jawohl.«
»Führt die Treppe zu einem Ausgang?«
»Ja. Die Tür ist bei Nacht verschlossen, doch von innen ist sie zu öffnen.«
»Kann man das Schloß so einstellen, daß man die Tür von außen öffnen kann?«
»Nicht ohne Schlüssel.«
Aber, dachte Masters, man kann sie angelehnt lassen. Ein Stock, ein gefalteter Papierbogen, irgend etwas zwischen Tür und Schwelle geklemmt, würde genügen.
»Dr. Richmond ist also zwischen dem Zeitpunkt, als er das Zimmer betrat und dem, als Sie ihn zu seiner Patientin holten, nicht gesehen worden?«
»Ich habe ihn nicht gesehen, nein.«
»Hat ihn sonst jemand gesehen?«
»Ich habe keine Ahnung. Hören Sie mal«, fuhr Schwester Morrow ihn an, »warum stellen Sie mir all diese Fragen über Dr. Richmond? Ich pflege mich nicht über unsere Ärzte auszulassen.«
»Aber natürlich nicht«, beruhigte Masters sie. »Wir haben es hier jedoch mit einem Kriminalfall zu tun, Miss Morrow.«
»Mit was für einem Kriminalfall? Ich habe das Recht zu erfahren, warum ich ausgefragt werde!«
»Das werden Sie alles in der Abendzeitung lesen können. Es hat zwei Todesfälle gegeben, und wenigstens einer davon ist Mord. Meine Aufgabe ist es, über die Menschen, die die Verstorbenen gekannt haben, Erkundigungen einzuziehen. Dr. Richmond war mit ihnen befreundet. Mit beruflichen Dingen hat dies nichts zu tun.« Masters lächelte. »Nun, Miss Morrow?«
Langsam sagte die Schwester: »Ich verstehe.«
»Dürfte ich Sie dann bitten, beim Personal der Nachtwache herumzufragen, ob jemand Dr. Richmond zwischen dem Betreten des Zimmers und dem Zeitpunkt, da Sie ihn gerufen haben, das Zimmer hat verlassen sehen?«
Sie blieb stumm. Dann sagte sie: »Also gut, Leutnant Masters.« Sie erhob sich. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen…«
»Vielen Dank. Benachrichtigen Sie mich, wenn Sie etwas hören.«
Masters ging rasch. Ein zäher Brocken, dachte er. Von Natur verschlossen, was die Angelegenheiten der Ärzte betraf, mit denen sie arbeitete, doch zweifellos gewissenhaft und mit einem strengen Moralkodex, der, falls nötig, auch an berufliche Tabus rühren würde. Er zweifelte nicht daran, daß sie ihn benachrichtigen würde, falls sie etwas hörte.
Er fuhr hinüber ins Präsidium und setzte sich an seinen Schreibtisch. Der Bericht des Coroners, weitergeleitet vom Polizeiarzt, der die Autopsie vorgenommen hatte, legte den Zeitpunkt von Lila Connors Tod zwischen Mitternacht und Sonntag drei Uhr morgens fest. Larry Connors Tod, nahm man an, war beträchtlich später eingetreten, Sonntag früh, zwischen fünf und acht Uhr. Beim Lesen des Berichtes entstand unbedingt der Eindruck, als habe man es mit einem Gattenmörder zu tun, der sich nicht recht entschließen konnte, Selbstmord zu begehen. Hatte er tatsächlich noch so lange, nachdem er Lila erstochen hatte, allein in seinem Büro gehockt und versucht, den Mut zum Selbstmord zu finden? Reumütig vor den Trümmern seines Lebens stehend? Möglich. Ein Mensch, der sich umbringen will, hat’s vermutlich nicht so eilig damit.
Masters überlegte, ob das nicht hieß, einem Toten Übles nachreden. Doch schließlich hatte von Anfang an ziemlich festgestanden, daß Larry Connor zuerst seine Frau und dann sich selbst getötet hatte. Alle Indizien wiesen darauf hin, und die Autopsien unterstützten diese Theorie. Und was hatte andererseits er, Masters, dagegenzusetzen? Eine äußerst wackelige Theorie, von keinem Beweis erhärtet. Zwei abgeschaltete Klimaanlagen. Einen verschwundenen Hintertürschlüssel – der ebensogut verlegt oder verlorengegangen sein konnte. Es war nichts als ein verrückter Seitensprung seiner Gedanken, der ihn veranlaßt hatte, darüber nachzudenken, ob nicht zuerst Larry Connor in seinem Büro von einem Unbekannten umgebracht worden war, der sich dann anschließend mit Larrys Schlüssel ins Connorsche Haus geschlichen und Lila Connor umgebracht hatte.
Masters saß hinter seinem Schreibtisch und lutschte am Daumen. Seine Augen starrten blicklos ins Leere.
Wenn jemand tatsächlich die Gegebenheiten derart manipuliert hatte, daß die medizinischen Sachverständigen zu dem Urteil kommen mußten, Larry Connor sei wesentlich später als Lila Connor gestorben, während er nach Masters’ Theorie in Wirklichkeit eher gestorben war, so hatte dieser Jemand zweierlei tun müssen: Er hatte den organischen Zerfall von Lilas Leiche beschleunigen und den von Larrys verzögern müssen. Die Auflösung des Körpers der Frau beschleunigen, hieß die Klimaanlage im Connorschen Hause abschalten, die Auflösung des Körpers des Mannes verzögern hieß in seinem Büro die Klimaanlage einschalten. Doch um die Täuschung vollkommen zu machen, mußte der Mörder noch zwei weitere Dinge tun: Er mußte zum Connorschen Haus zurückkehren und die Klimaanlage wieder einschalten, damit, wenn Lilas Leiche gefunden wurde, es aussah, als sei die Klimaanläge vom Zeitpunkt des Todes an ununterbrochen eingeschaltet gewesen, und dann zu Larry Connors Büro zurückkehren und dort die Klimaanlage wieder abschalten, damit, wenn Connor gefunden wurde, es so aussah, als sei die Klimaanlage vom Zeitpunkt des Todes an ununterbrochen abgeschaltet gewesen.
Von diesen – falschen – Voraussetzungen ausgehend, mußten die Schlüsse der medizinischen Sachverständigen falsch ausfallen. Die weitaus fortgeschrittenere Auflösung von Lilas Leiche mußte den Eindruck hervorrufen, daß sie viel länger tot war, als es tatsächlich der Fall war; die weniger fortgeschrittene Auflösung von Larrys Leiche mußte den Eindruck hervorrufen, daß Larry viel kürzer tot war, als tatsächlich der Fall.
Das heißt, dachte Masters nüchtern, falls das nicht Wunschdenken meinerseits ist.
Doch selbst als Wunschtraum, fand er, wies diese Theorie ein beträchtliches Loch auf. Denn Tatsache war, der Mörder war nicht zum Connorschen Haus zurückgekehrt, um dort die Klimaanlage wieder einzuschalten, obgleich er – angenommen, die Theorie hielt überhaupt stand – zu Connors Büro tat« sächlich zurückgekehrt war und dort die Klimaanlage wieder abgeschaltet hatte.
Machte der Umstand, daß der Mörder nicht zum Connor« sehen Haus zurückgekehrt war, die Theorie hinfällig? Nicht unbedingt. Denn selbst wenn man wußte, daß die Klimaanlage vom Zeitpunkt von Lilas Tod an abgeschaltet gewesen war, mußte die medizinische Untersuchung trotzdem ergeben, daß ihr Tod zuerst eingetreten war; mit anderen Worten, es stellte sich heraus, daß allein das Manipulieren der Klimaanläge im Büro und dessen Auswirkung auf den Zerfall von Larrys Leiche schon genügte, um die Täuschung vollkommen zu machen. Es war durchaus möglich, fand Masters, daß der Mörder keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, zum Connor« sehen Haus zurückzukehren und dort die Klimaanlage einzuschalten. Die Häuser standen ziemlich dicht beieinander, die unmittelbaren Nachbarn waren alle befreundet; eine Rückkehr in das Haus, ohne gesehen zu werden, war so gut wie ausgeschlossen. Mit dem Büro hingegen war es anders; das lag in einer reinen Geschäftsgegend, es war Sonntag, und alle Büros und Geschäfte waren geschlossen. Außerdem konnte das Büro durch eine völlig den Blicken entzogene Hintertür betreten werden.
Masters stützte den wirren Kopf in die Hand. Wie hatte er sich nur in diesen Irrgarten der Gedanken verrennen können?
Und noch eine logische Frage: Wenn der Mörder zu Larry Connors Büro zurückgekehrt war, um dort die Klimaanlage abzuschalten, warum hatte er dann nicht auch den Hintertür« schlüssel des Connorschen Hauses in Larrys Schlüsseletui zurückgetan, den er sich ja zum Zeitpunkt von Larrys Tod hatte ausleihen müssen, um ins Connorsche Haus eindringen und Lila töten zu können? Tatsache war, daß der Mörder den Schlüssel bei seinem zweiten Besuch im Büro nicht zurückgebracht hatte. Machte diese Tatsache nun die Theorie hinfällig?
Wiederum nicht unbedingt. Vielleicht hatte der Mörder in dem extremen Erregungszustand seiner Machenschaften den Schlüssel einfach vergessen. Oder es war ihm nicht in den Sinn gekommen, daß der Ortspolizei, mit ihrer relativen Unerfahrenheit in Mordfällen, das Fehlen des Schlüssels auffallen könnte, oder, falls es doch auffiel, daß man ihm irgendwelche Bedeutung beimessen würde.
Masters seufzte, schloß die Augen und lehnte sich in seinen Drehstuhl zurück. Aufhören oder weitermachen – das war die Frage.
Noch einmal ging er in Gedanken den Fall durch. In chronologischer Rückschau stand er abermals in Larry Connors Büro, war eben eingetreten und hatte Larry Connor ausgestreckt auf dem Sofa gefunden; die rechte Hand des Toten hing zu Boden. Und hier blieb aus irgendeinem Grund der Film plötzlich stehen. In Gedanken studierte Masters die Szene.
Nach einer ganzen Weile griff er nach dem Bericht, den er heute morgen auf seinem Schreibtisch gefunden hatte. Er las ihn noch einmal durch, langsam und sorgfältig.
»Mein Gott!« sagte er. »Ja, natürlich!«
Aus seiner Schreibtischschublade zog er ein Telefonbuch und suchte fieberhaft nach einer Nummer.