17

Zuerst Lila, dachte Nancy, und jetzt Vera.

Hörte das denn nie mehr auf, daß Leute aus Shady Acres verschwanden? Ein unheimliches Gefühl.

Es war natürlich Unsinn zu denken, daß Vera >verschwunden< sei. Sie war einfach ausgegangen. Vermutlich kaufte sie gerade jetzt bei Logan oder im Supermarkt ein oder war beim Friseur. Es gab massenhaft Orte, wo sie sein konnte. Ganz sicher war es einfach dumm, sich um sie Gedanken zu machen. Daran war nur dieser verdammte Leutnant Masters schuld. Jedesmal, wenn er auftauchte, brachte er eine unheilschwangere Atmosphäre mit. Vera war ganz sicher wohlauf.

Trotzdem ertappte sich Nancy in der ersten Stunde nach Masters’ Abgang immer wieder dabei, daß sie zum Richmondschen Haus hinüberblickte. Keine Spur von Vera. Aber man konnte wohl kaum erwarten, daß sie auf die Terrasse herauskam, um zu zeigen, daß sie wieder da war. Sie war vielleicht längst zu Hause. In diesem Fall mußte ihr Volkswagen, den sie fuhr, wenn Jack die Corvette mitgenommen hatte, in der Einfahrt stehen.

Nancy ging ins Wohnzimmer und spähte aus dem Fenster.

Der Volkswagen stand weder in der Einfahrt noch auf der Straße.

Natürlich, Vera konnte ihn in die Garage gefahren haben. Aber Grübeln hilft nichts, sagte sich Nancy. Das einfachste wäre, Vera unter irgendeinem Vorwand anzurufen, um zu sehen, ob sie wohlauf war.

Nancy ging ans Telefon im Flur und wählte die Nummer der Richmonds.

Sie ließ es achtmal klingeln; niemand meldete sich. Nancy legte wieder auf.

Vera war eben nicht zu Hause. Aber warum war denn da diese hartnäckige, kleine Stimme, die Nancy immer wieder sagte, daß sie doch zu Hause sei?

Vielleicht hatte Vera ihre Gründe, warum sie nicht ans Telefon und an die Haustür ging. Nein, das war unwahrscheinlich. Als gute Arztfrau wußte Vera, daß jeder Anruf wichtig sein konnte…

Nancys Unruhe wurde langsam zu Angst. Ganz gleich, wie unvernünftig, wie absurd dieses Gefühl war, es war einfach unerträglich geworden. Sie mußte entweder dagegen angehen, und das konnte sie nicht, oder etwas unternehmen.

Zunächst einmal lief Nancy über die Straße zu der ans Haus grenzenden Garage der Richmonds. Die Tür war geschlossen, doch wenn Nancy sich auf die Zehen stellte, konnte sie gerade eben durch eines der drei winzigen Fenster hineinsehen. Sie machte sich so groß sie konnte und blickte hinein, und da stand der Volkswagen. Wenn Vera wirklich fort war, mußte sie entweder zu Fuß gegangen sein, oder Jack hatte sie gefahren. Doch Vera haßte Fußmärsche, und Jack fuhr gewöhnlich schon ins Krankenhaus, oder in die Praxis, wenn Vera noch im Bett lag…

Nancy ging an die Hintertür. Einen Augenblick zögerte sie, dann drehte sie den Türknopf und begann vorsichtig zu drücken. Zu ihrer Überraschung gab die Tür nach. Vera fort, und die Tür nicht verschlossen?

Nancy betrat Vera Richmonds Küche. Die Klimaanlage machte die Luft kühl und trocken, und Nancy fühlte sich leicht und wie befreit. Doch gleichzeitig fühlte sie sich bedrückt und erstickt vom Gefühl eines drohenden Schreckens, das jeden Schritt zur Qual machte.

Sie hielt den Atem an, legte den Kopf schief und lauschte. Kein Laut war zu hören. Ein leeres Haus.

Trotzdem rief Nancy: »Veee-raaa!« Und wartete. »Vera, bist du da?«

Keine Antwort. Nancy zwang sich, in die Diele zu gehen.

»Vera?«

Keine Antwort.

Was, dachte Nancy, würde ich wohl sagen, wenn jetzt die Haustür aufginge und Vera hereinkäme? Wie erklärt man seine Anwesenheit im Hause des Nachbarn, wenn man erwischt wird? Verstört lachte sie. Verdammt noch mal, irgendwas stimmte hier nicht, das wußte sie. Entschlossen ging sie ins Wohnzimmer.

Es war ein wunderschöner Raum, um den Nancy die Richmonds seit langem heimlich beneidete. Doch jetzt verspürte sie keinen Neid. Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die massive Mahagonitür gegenüber. Warum, wußte sie nicht.

Hinter jener Tür lag Jack Richmonds Arbeitszimmer.

Hinter jener Tür lag etwas Grauenhaftes. Das wußte sie. Woher, das konnte sie nicht sagen, aber sie wußte es.

Wie eine Schlafwandlerin durchquerte sie das Wohnzimmer, öffnete die schwere Tür und blickte in Jack Richmonds Arbeitszimmer. Und da saß Vera Richmond, genau wie Nancy im stillen erwartet hatte. Sie saß in einem großen, hochlehnigen Ledersessel, das Gesicht zur Tür gewandt, fast als erwartete sie Besuch und säße da und wartete. Doch sie wartete nicht; sie war tot.

Sie war tot, und Nancy war so sicher, daß sie tot war, daß sie nicht einen Schritt weit in den Raum hinein ging. Sie stand nur da und betrachtete ihre Freundin mit einem ganz seltsamen Gefühl des Losgelöstseins. Es hatte keine Eile mehr.

Vera hatte sich zum Sterben frisiert, Make-up aufgelegt, und ein frisches, leuchtend buntes Sommerkleid angezogen. Sie sieht hübsch aus, dachte Nancy. Und gelassen. Die Vorhänge des Aussichtsfensters hinter ihr waren zurückgezogen, und der Sonnenschein, der durch die Schlitze der Jalousie hereinfiel, zeichnete eine Treppe aus Licht auf den glänzenden Parkettboden… eine Treppe vom Leben zum Tode. Ein schöner Raum zum Sterben.

Vera war tot.

Vera tot? Unvorstellbar. Vera war doch immer dagewesen, ruhig, heiter, tüchtig, selbstlos. >Meine rechte Hand<, wie Jack zu sagen pflegte. Vera war ein Mensch, der immer da war.

Und jetzt war sie hier und saß tot in ihres Mannes Sessel, unerwartet, unerklärlich, unvorstellbar tot. Und die Frage war: Warum? Sie konnte sich doch nicht frisiert, geschminkt und ein frisches Kleid angezogen haben, nur um sich an einem herrlichen Sommermorgen hinzusetzen und zu sterben! Aber sie hatte es getan. Sie war gestorben, und nur sie wußte, warum. Sie hatte Zeit und Ort selbst gewählt.

Nancy fuhr herum und sah den Schreibtisch mit seiner geschliffenen Mahagoniplatte, der Schreibtischsessel zurückgeschoben, als habe sich gerade jemand erhoben und sei fortgegangen. Vera. Denn auf dem Schreibtisch lagen unter einem Briefbeschwerer aus blauem Glas zwei mit Veras kräftigen Schriftzügen bedeckte Briefbogen. Sie hatte sich hierhergesetzt, um vor ihrem Tod noch etwas aufzuschreiben, vielleicht sogar, während sie auf den Tod wartete. Und da lag ihr Brief, da unter dem Briefbeschwerer…

Zu ihrer eigenen Überraschung stand Nancy plötzlich am Schreibtisch. Sie hatte gar nicht gemerkt, daß sie hinübergegangen war. Und jetzt schob sie mit den Fingernägeln den Briefbeschwerer beiseite, beugte sich über den Tisch und las, ohne die Blätter zu berühren, was Vera geschrieben hatte.

Liebster Jack,

seit jenem Abend auf unserer Terrasse habe ich mit furchtbarer Gewißheit gewußt, daß Leutnant Masters zurückkommen würde. Heute morgen ist er gekommen. Er klingelte an der Haustür, dann ging er ums Haus nach hinten. Aber ich habe nicht aufgemacht, und nach einer Weile ging er wieder fort. Nun weiß ich, was ich tun muß. Bitte, Liebster, vergib mir, wie ich Dir vergeben habe.

Ich weiß, es ist nur noch eine Frage der Zeit, und ich mag nicht mehr warten. Ich hätte von Anfang an erkennen müssen, daß Du in Verdacht geraten würdest, und daß ich Dich schließlieh doch retten müßte. Du wußtest natürlich die ganze Zeit, was ich getan hatte, doch Du hast mich niemals verurteilt, niemals verdammt, und dafür bin ich Dir dankbar. Hoffentlich vergißt Du nicht, wie ich Dir andeutete, daß ich es nie zulassen würde, daß Du für meinen Fehler leidest.

Und ein Fehler war es. Das habe ich sogleich erkannt, nachdem es geschehen war, doch da war es zu spät. Masters ist schlau. Seine Theorie war vollkommen richtig, bis auf die allerwichtigste Tatsache, nämlich die, daß ich und nicht Du der Täter war. Larry rief in jener Nacht aus seinem Büro an. Er wollte dich sprechen. Er hatte eine Überdosis geschluckt, genau wie ich es gleich tun werde, jedoch dann Angst bekommen, seinen Entschluß bereut und brauchte Hilfe. Du warst fort, bei diesem dringenden Fall; ich wußte, daß jede Sekunde zählte, ich war Krankenschwester gewesen, und so ging ich zu ihm.

Das mit Larry tut mir leid. Ich hatte ihm wirklich helfen wollen, doch als ich das Büro erreichte und durch die Hintertür, die er irgendwie noch für mich aufgeschlossen hatte, eintrat, fand ich ihn tief im Koma auf dem Sofa. Und da durchzuckte mich der Gedanke, daß ich nun Dich und mich ein für allemal von Lila befreien konnte, ohne – wie ich glaubte – , daß der Verdacht auf mich fiel. Da Larry Gift genommen hatte, würde man ihm den Mord an ihr zur Last legen… Ich stand also da in dem Büro und wartete, und sah zu, wie Larry starb. Ich weiß nicht, ob ich ihn überhaupt hätte retten können; er war schon weit hinüber, als ich kam. Aber wer weiß? Vielleicht ist das nur Wunschdenken. Der springende Punkt ist, daß ich ihn sterben ließ, ohne den Versuch zu einer Rettung zu unternehmen. Und indem ich tatenlos dabei stand, habe ich ihn ebenso getötet, als hätte ich ihn gezwungen, das Gift zu nehmen. So sehe ich es wenigstens.

Lila habe ich eigenhändig umgebracht. Als ich wieder nach Hause kam, brannte noch Licht in ihrem Schlafzimmer, und ich mußte warten, bis sie schlief. Das war äußerst riskant, denn ich wußte ja nicht genau, wann Du vom Krankenhaus zurückkommen würdest, und ich war auch kaum wieder im Bett, da kamst Du schon. Lila getötet zu haben, bereue ich nicht im geringsten. Es tut mir nur leid, daß für uns beide alles so schlecht ausgegangen ist. Lilas größter Fehler war, daß sie nicht erkannte, mit wem sie es in mir zu tun hatte. Sie hatte begonnen, mir auf die verschiedenste Art zu drohen, mich zu verspotten. Hat sie wirklich geglaubt, daß ich mir das gefallen lasse? Nach allem, was sie mir durch Dich angetan hat?

Es wäre sinnlos, im einzelnen zu berichten, wie ich sie getötet habe, den Trick mit den Klimaanlagen, und so weiter. Masters hat alles großartig erfaßt und eben nur die Identität des Mörders verkannt. Doch nach seinem Besuch heute morgen bin ich ziemlich sicher, daß er nun auch in dieser Beziehung auf der richtigen Spur ist.

Jack, Liebster, Du sagtest, Du seist weder ein Feigling noch ein Dummkopf. Ich bin beides gewesen…

Hier war der Brief noch nicht zu Ende, doch Nancy hörte auf zu lesen. Mit einem Wimmern wandte sie sich ab, doch es blieb ihr in der Kehle stecken.

Jack Richmond stand in der Tür. Er sah Nancy gar nicht, schien gar nicht zu bemerken, daß sie da war. Er blickte seine Frau im Sessel an; mit den glanzlosen Augen eines alten Mannes. Sein Gesicht war grau, und als er schließlich sprach, war seine Stimme tonlos und ganz und gar unmenschlich.

»Sie ist tot«, sagte er.

Seine Worte waren eine Feststellung und verlangten keine Antwort. Nancy brachte auch keinen Ton heraus. Dann sah sie auf, und da, hinter Jack Richmond, stand Leutnant Masters. Er hatte die ganze Zeit dagestanden.

Doch nicht die Anwesenheit Leutnant Masters’ veranlaßte Nancy, zusammenzuzucken und blindlings aus dem Zimmer zu stürzen. Es war vielmehr etwas, das Jack Richmond sagte.

Veras Mann sah Nancy an, und in einem Ton, so höflich, daß es Nancy kalt den Rücken herunterlief, sagte er: »Würdest du uns jetzt bitte entschuldigen?«

Später, als Masters aus dem Arbeitszimmer kam, ging er zu Nancy, die er gebeten hatte, im Wohnzimmer zu warten. Er sagte: »Es tut mit leid, daß ich Sie warten ließ, Mrs. Howell. Sie sehen ja selbst aus wie der Tod. Ich kann Ihre Aussage auch später aufnehmen. Können Sie allein nach Hause gehen?«

Leicht vorgebeugt stand er da, in unterwürfiger, bittender Haltung, als flehe er stumm, sie möge ihn nicht schuldig sprechen an dem Geschehen.

Doch Nancy sagte: »Ist das wahr?«

»Was, Mrs. Howell?«

»Daß Sie heute morgen wegen Vera gekommen sind?«

»Ja«, sagte Masters.

Nancy blieb stumm. Dann sagte sie: »Woher wußten Sie?«

»Es fiel mir ein, daß Larry Connor vielleicht doch versucht haben könnte, Selbstmord zu begehen, und nach diesem Versuch Angst bekommen und um Hilfe gebeten hatte. Man findet diese Reaktion häufig bei Selbstmordversuchen. Ich erkundigte mich bei der Telefongesellschaft und fand auch das Mädchen, das die Verbindung hergestellt hatte. Sie erinnerte sich genau daran. Er hatte Dr. Jack Richmond verlangt. Connor konnte natürlich nichts von dem dringenden Fall wissen, zu dem man Dr. Richmond ins Krankenhaus geholt hatte.

Das Folgende war nur logisch: da Jack Richmond nicht zu Hause war, als das Amt die Verbindung herstellte, mußte Mrs. Richmond das Gespräch angenommen haben. Also war es Vera Richmond gewesen, die mit Larry Connor gesprochen hatte und wußte, daß er Hilfe brauchte. Es war offensichtlich dringend, und die Zeit war knapp, daher war es logisch anzunehmen, daß sie selbst Larry Connor zu Hilfe geeilt war. Und in diesem Fall war sie der Jemand in Connors Büro gewesen, und nicht ihr Mann. Sie war diejenige, die Larry tot aufgefunden hatte – oder vielmehr, die ihn, wie wir jetzt wissen, sterben ließ – , und die danach alles manipuliert hat, den Mord an Lila Connor eingeschlossen.«

Nancy zitterte; sie fror. Sie legte die Arme um die Knie, um sich zu wärmen, doch sie fror immer noch.

»Ich kann’s einfach nicht glauben«, sagte sie. »Vera… Vera ist die letzte, die ich verdächtigt hätte.«

Masters sagte: »Sie war auch die letzte, die ich verdächtigt habe, Mrs. Howell.«

»Jack muß gewußt haben, was er hier finden würde. Er schien es zu… zu akzeptieren.«

»Er hatte so etwas Ähnliches gefürchtet. Ich übrigens auch. Deshalb bin ich ihn ja suchen gegangen.« Masters zögerte. »In einem solchen Fall steht dem Ehemann das Recht zu, es als erster zu erfahren.«

»Wie verständnisvoll von Ihnen, Leutnant.«

»Es tut mir leid«, sagte er.

»Ach, wirklich?« Nancy begann zu weinen. »Ich glaube Ihnen nicht. Sie… Sie… Ein Aasgeier sind Sie! Larry und Lila und Vera – alle tot. Hoffentlich sind Sie jetzt zufrieden!«

Masters protestierte nicht gegen diese Ungerechtigkeit.

Er folgte Nancy Howell durch den Flur und die Küche, und blieb an der Hintertür stehen und sah ihr nach, wie sie im Sonnenlicht durch die Gärten lief. Er stand auch noch da, als sie bereits im Haus verschwunden war. Er fühlte sich leer, ausgehöhlt, eine fette, häßliche Hülle. Masters war mit vielen Dingen in seinem Leben unzufrieden, aber er hatte den Versuch, daran etwas zu ändern, längst aufgegeben. Sie duftete so angenehm, diese junge Frau, und morgen war vielleicht ein besserer Tag als heute, doch er bezweifelte es.

ENDE


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