11

»Mein Gott!« sagte Nancy. »Ja, natürlich!«

Sie ahnte nicht, daß ihr Ausruf einem um einige Stunden verzögerten Echo auf den Leutnant Masters’ glich. Nancy und David lagen faul auf der Terrasse; David versuchte, im rasch schwindenden Tageslicht noch sein Kapitel zu Ende zu lesen, eine schlechte Angewohnheit, die Nancy immer wieder vergeblich versucht hatte, ihm auszutreiben. Erschrocken sah er auf.

»Was ist los?«

»Mir ist gerade etwas eingefallen«, sagte Nancy.

»Eingefallen? Was denn?«

»Es ist unglaublich!«

»Ich meine, es ist unglaublich, daß ich nicht schon längst daran gedacht habe.«

David gab sich höflich interessiert. »So? Na, an was denn?«

»Es liegt so auf der Hand, daß es jedem, der nur ein bißchen Grips hat, hätte auffallen müssen!«

»Verdammt noch mal! Willst du mir bitte freundlichst erklären, wovon du eigentlich redest?«

»Na, von dem Licht!«

»Bitte, dir mag vielleicht eins aufgegangen sein, aber ich tappe noch immer im dunkeln.«

»Weil du nicht draußen warst, wie ich.«

»Wann?«

»Als Lila umgebracht wurde. Weißt du noch? Ich habe doch draußen vor dem Haus mit Larry gesprochen, und später hinten im Garten mit Stanley. Und irgendwann habe ich gesehen, daß in Lilas Schlafzimmer Licht brannte. Ich weiß es noch ganz genau. Ja, und am folgenden Tag, als wir, du und Jack und ich, Lila gefunden haben, da brannte kein Licht mehr. Verstehst du denn nicht, was das bedeutet, David? Es bedeutet, daß Lila noch am Leben war, als Larry wegfuhr! Tote machen kein Licht aus!«

Das Kapitel blieb unbeendet. David machte als Lesezeichen ein Eselsohr in die Seite und klappte das Buch zu.

»Bist du sicher, daß Lilas Licht an war, nachdem Larry weggefahren ist?«

»Ganz sicher.«

»Hm.« David dachte nach. Nancy wartete aufgeregt auf seinen Entscheid. Schließlich war er der Herr des Hauses. Davids Gesicht glättete sich. »Kein Grund zur Aufregung«, sagte er vergnügt. »Die Birne ist ausgebrannt.«

»Verdammt, daran habe ich nicht gedacht.« Doch gleich begann Nancy wieder zu strahlen. »Aber das können wir doch feststellen. Komm, wir laufen ‘rüber und sehen nach.«

»Unmöglich, mein Schatz. Hast du vergessen, daß das Haus verschlossen ist? Von der Polizei?«

Nancy verstummte. Dann sagte sie: »Die Polizei kommt einem aber auch ewig in die Quere, nicht? Dann muß ich wohl Leutnant Masters anrufen und ihn bitten, mir das Haus aufzuschließen. Bist du damit einverstanden, David?«

»Ich bin mit allem einverstanden«, sagte David feige, »solange du mich aus dem Spiel läßt. Mir jedenfalls scheint die Lösung des Rätsels ziemlich banal zu sein. Larry ist vielleicht später noch mal zurückgekommen und hat das Licht ausgemacht.«

»Nein«, sagte Nancy bestimmt.

»Warum denn nicht?«

»Darum.«

»Warum nicht?«

»Eben darum.«

»Ach so.« David rutschte unruhig hin und her. »Verdammt noch mal, mir gefällt das nicht! In diesem Licht sehen Masters’ Phantastereien ja plötzlich logisch aus! Ich meine, was er dir heute erzählt hat. Glaubst du denn, daß er recht haben könnte? Daß einer von unseren Nachbarn ein Mörder ist?«

»Ich weiß nicht… Ich komme mir bei so einem Gedanken direkt wie ein Verräter vor… Und außerdem – ganz abgesehen von der Frage >Wer?< –: Warum?«

»Es mag einen Grund geben, von dem wir nichts wissen.«

Nancy schniefte. »In einem Stadtteil wie unserem gibt es nichts, von dem wir nichts wissen.«

»Glaubst du?« fragte David trocken. »Wußtest du, zum Beispiel, daß Lila und Jack Richmond eine Zeitlang ein Techtelmechtel hatten?«

»Ach geh!«

»Nein, wirklich. Es hat etwa sechs Monate gehalten. Dann hat Jack Schluß gemacht.«

»David Howell!« sagte Nancy energisch, »ich kann einfach nicht glauben, daß sich so etwas direkt vor meiner Nase abspielen kann, ohne daß ich davon erfahre!«

»Es hat sich ja nicht vor deiner Nase abgespielt. Es hat sich sogar in einiger Entfernung von deinem niedlichen, kleinen Näschen abgespielt. Darauf haben sie immer peinlich geachtet.«

»Aber wieso bist du denn so gründlich informiert?«

»Bin ich gar nicht. Ich weiß nur das, was Jack mir anvertraut hat. Wir haben im Klub gesessen und getrunken, und da hat er plötzlich angefangen zu erzählen. Ich glaube, er brauchte so etwas wie einen Beichtvater. Ich glaube, die zwei haben’s ziemlich toll getrieben, bevor sich die Sache abkühlte.«

»Ist das nicht wieder typisch Mann? Hat eine Affäre mit der Frau seines Nachbarn und klatscht darüber in einer Bar! Wenn du mich fragst: Jack, der sieht einfach zu gut aus, da liegt der Hase im Pfeffer. Warum hast du mir nicht schon früher davon erzählt?«

»Nicht alle Männer klatschen«, entgegnete David von oben herab.

»Aber jetzt klatschst du doch, oder?«

»Das ist etwas anderes. Wir versuchen, hinter das Motiv zu kommen, das einer unserer Nachbarn gehabt haben könnte. Ich habe nur rein theoretisch die Möglichkeit angedeutet…«

»David Howell, wie kannst du Golf spielen und Bier trinken mit einem Mann, den du für einen Mörder hältst?«

»Verdammt noch mal, ich halte Jack doch nicht für einen Mörder! Das ist doch lächerlich!«

»Für dich vielleicht, aber bestimmt nicht für Leutnant Masters. Dieser Mann verdächtigt uns alle, dich und mich eingeschlossen. Wußte Larry von dieser Sache zwischen Jack und Lila?«

»Das bezweifle ich. Ich habe niemals eine Veränderung in seinem Verhalten Jack gegenüber bemerkt.«

»Und Vera?«

»Jack hat zwar nichts davon gesagt, aber ich nehme an, sie wußte Bescheid. Vera ist ja nicht dumm. Es ist bestimmt nicht leicht, sie auf die Dauer an der Nase herumzuführen, und ich kann mir vorstellen, daß das nicht das erstemal war, daß Jack fremd ging.«

»Mußt du dich unbedingt so ekelhaft ausdrücken?« fragte Nancy geistesabwesend, denn ihre Gedanken beschäftigten sich bereits wieder mit dem Problem. »Wenn Vera etwas wußte, hat sie sich jedenfalls nichts anmerken lassen. Sie war immer sehr liebenswürdig zu Lila – so liebenswürdig, daß noch nicht einmal ich Verdacht geschöpft habe. Sie war liebenswürdig zu ihr und hat sie doch nicht ausstehen können.«

»Ja, Vera ist wirklich eine bewundernswerte Frau. Selbst wenn sie alles über Jack und Lila gewußt hätte, sie wäre imstande gewesen und hätte sich damit abgefunden – nachdem Jack Schluß gemacht hatte, natürlich.«

»So kommen wir nicht weiter«, stellte Nancy fest. »David, weißt du, wer mir nicht aus dem Sinn gehen will? Ich meine, als potentieller Mörder?«

»Ich?«

»Außer dir.«

»Ich gebe auf.«

»Stanley.«

»Stanley?«

»Ja, Stanley.«

»Aber das ist doch absolut idiotisch!«

»So, ist es das? Ich muß immer wieder daran denken, daß Stanley allein auf der Straße blieb, als ich ins Haus zurückging. Ich habe mich zufällig noch mal umgesehen, und da stand er da und starrte ganz seltsam hinauf zu Lilas erleuchtetem Fenster. Ich frage mich nur, inwieweit er Lilas Avancen ernst nahm. Sie hat ihn natürlich nur auf den Arm genommen, aber Stanley versteht nichts von Frauen. Außerdem ist er mimosenhaft empfindlich. Ich frage midi, wozu er fähig wäre, wenn man ihn in eine kompromittierende Lage gebracht und dann ausgelacht hätte.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß Stanley jemals, und würde er noch so gereizt, mit einem Messer in der Hand Amok liefe.«

»Wirklich nicht? Männer sind doch tatsächlich mit Blindheit geschlagen, was diese Dinge betrifft.«

»Aber es war doch nicht nur Lila, die umgebracht wurde! Nach Masters’ Theorie ist Larry auch getötet worden. Willst du ernstlich behaupten, daß Stanley, nachdem er Lila in einem Wutanfall erstochen hat, noch fähig wäre, einen komplizierten Plan auszuarbeiten, wie er auch Larry töten und den Anschein erwecken könne, ein Mörder habe Selbstmord begangen? Selbst wenn Stanley in jener Nacht die Zeit gehabt hätte, seine Phantasie hätte niemals dazu ausgereicht. Nein, ich bin keineswegs davon überzeugt, daß Larry ermordet worden ist. Er hat sich selbst das Leben genommen; sämtliche Indizien deuten darauf hin.«

»Ja, nicht wahr? Das wäre überaus zuvorkommend von ihm. Welch ein Zufall: Larry bringt sich genau im richtigen Moment um, damit ihm der Mord an Lila angehängt werden kann, die in Wirklichkeit von Stanley umgebracht wurde. Nein, David, komm mir nicht damit!«

»Wir haben jetzt drei Theorien«, sagte David. »Mord und Selbstmord durch Larry; oder zwei Morde durch einen Unbekannten; oder einen Selbstmord und einen Mord durch Unbekannt. Und einmal abgesehen von Lichtern und Schlüsseln und Klimaanlagen und allem, was Masters daraus folgert, halte ich’s immer noch mit Theorie Numero eins. Die ist zwar scheußlich, aber einfach und logisch, und das genügt mir.«

»Und das Licht in Lilas Zimmer?« fragte Nancy. »Jemand muß es doch ausgemacht haben, wenn die Birne nicht ausgebrannt ist.«

»Vielleicht hat Stanley es ausgemacht.«

»Übrigens, wenn man vom Teufel spricht… Da kommt Stanley.«

Stanley Walters hatte die beiden seit geraumer Zeit von seinem Garten aus beobachtet. Jetzt überquerte er das Gäßchen und kam auf die Terrasse der Howells getrottet. Er machte einen nervösen, ängstlichen Eindruck und sah gar nicht aus wie ein kühl berechnender Mörder, und noch viel weniger wie die Hauptfigur eines blutigen Eifersuchtsdramas.

»Hallo, Stanley«, sagte David.

»Hallo, Stanley«, sagte Nancy. »Was macht Mae?«

»Ach, Mae fühlt sich nicht wohl«, sagte Stanley. »Sie hat sich hingelegt. Kopfschmerzen.«

»Oh, das tut mir leid«, sagte Nancy. »Möchtest du ein Bier, oder sonst etwas?«

»Nein, danke.« Stanley nahm Platz, legte die Hände ineinander und betrachtete sie eingehend. Dann preßte er sie zwischen die Knie.

»Ich… ich hätte gerne mit euch gesprochen. Ich meine, mir geht dauernd etwas im Kopf herum, das ich nicht loswerden kann.«

»Runter damit von der Seele, Stanley«, sagte Nancy herzlich. »Das ist die beste Therapie. Und vielen Dank, daß du uns für so vertrauenswürdig hältst.«

»Ja«, sagte David. »Was hast du denn auf dem Herzen, alter Junge?«

»Etwas, das sich damals, in der Nacht, als Lila umgebracht wurde, ereignet hat.« Stanley sah hinauf zum Schlafzimmerfenster des Nachbarhauses; auch als er weitersprach, nahm er den Blick nicht fort. »Ich weiß, man sagt, daß Larry Lila getötet habe, bevor er das Haus verließ. Das ist nicht wahr. Ich weiß es genau, denn ich war drüben, nachdem er weggefahren ist, und da lebte Lila noch.«

»Du hast Lila gesehen?« rief Nancy. »Siehst du, David?«

»Er hat nicht gesagt, daß er sie gesehen hat«, sagte David. »Er hat gesagt, daß sie noch lebte.«

»Aber natürlich hat er sie gesehen! Woher soll er sonst wissen, ob sie noch lebte?«

»Er kann ja ihre Stimme gehört haben.«

»Das ist doch lächerlich. Stanley, hast du Lila gesehen oder nicht?«

»Ja, ich habe sie gesehen und mit ihr gesprochen«, sagte Stanley unglücklich. »Aber ich wünschte, bei Gott, ich hätte es nicht.«

»Na also, David! Hoffentlich bist du jetzt zufrieden. Und nun hör auf, uns dauernd zu unterbrechen. Weiter, Stanley. Warum bist du zu Lila ‘rübergegangen?«

Stanleys heftiges Erröten bewies, daß dies die große Preisfrage war. Und es war ebenfalls deutlich – seine Stimme verriet es – , daß der Wunsch, sich die Last von der Seele zu reden, in diesem Punkt nicht bis zur vollen Wahrheit ging.

»Nun ja… Ich war da unten in dem Gäßchen… Das weißt du ja, Nancy… Und da mußte ich an Lila denken – ich meine, ich machte mir Gedanken über ihr Befinden ganz allein da im Haus – , und da bin ich ‘rübergegangen, um nach ihr zu sehen.«

Du bist ‘rübergegangen, um endlich mal ein paar außereheliche Lorbeeren zu ernten, dachte David; aber aussprechen tat er es nicht.

»Du bist richtig ins Haus gegangen?« fragte Nancy mit einem mißbilligenden Blick auf ihren Mann. Dieses Weib, dachte David, muß einen sechsten Sinn haben.

»Nnnnein… Sie wollte mich nicht hereinlassen. Ich meine, Lila glaubte wohl, daß ich… nun, eben aus einem anderen Grund gekommen war.« Stanley begann zu schwitzen. Er zog ein Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn.

»Und was genau hat sich abgespielt, Stanley? Weißt du, das kann nämlich äußerst wichtig sein. Laß bitte keine Einzelheiten aus, ja? Also?«

»Nun ja, ich bin an die Hintertür gegangen und hab’ geklingelt. Lila hat oben ihr Schlafzimmerfenster aufgemacht, den Kopf herausgesteckt und midi gefragt, was, zum Teufel, ich wolle. Ich sagte, ich wolle nur sehen, wie es ihr gehe. Sie lachte und sagte so etwa: >Nichts zu machen heute abend, mein Lieber< und, ich solle nach Hause gehen. Das tat ich dann auch.« Stanley benutzte abermals sein Taschentuch. »Und das ist alles. Und auch das wäre nicht gewesen, hätte ich meinen Verstand beisammen gehabt.«

»Du sagst, sie hat ihr Fenster aufgemacht?« fragte Nancy. »Hat sie es wieder geschlossen?«

»Ja, Nancy.«

Nancy wirbelte zu David herum. »Jack hat zu Leutnant Masters gesagt, daß Lila und Larry vermutlich die Fenster aufmachen wollten. Damit versucht er die abgeschaltete Klimaanlage zu erklären. Jade meinte, sie wären nicht mehr dazu gekommen. Das stimmt aber offenbar nicht, denn Lila hat das Fenster geöffnet, als Stanley kam, und es dann wieder geschlossen. Warum hat sie es nicht einfach offengelassen, wenn die Klimaanlage abgestellt war?«

»Sie kann es automatisch geschlossen haben«, sagte David. »Aus Gewohnheit.«

»Von mir aus denk du das, wenn’s dir Spaß macht«, sagte Nancy. »Ich jedenfalls bin anderer Ansicht.«

»Tja«, sagte Stanley, »das wollte ich euch erzählen. Ich frage mich nur, was ich jetzt machen soll.«

»Kein Problem, Stanley«, sagte Nancy. »Du mußt es Leutnant Masters erzählen. Das ist deine Pflicht als Staatsbürger.«

»Tja, das muß ich wohl.« Stanley warf einen nervösen Blick zu dem stillen Haus hinüber. »Ich hatte gehofft, darum herum zu kommen. Mae wird mir nie glauben, daß ich nur ‘rübergegangen bin, um zu sehen, wie es Lila ging.«

»Was das betrifft«, warf Nancy unbekümmert ein, »so glaube ich das auch nicht. Aber die Polizei ist diskret in solchen Dingen. Sie werden es Mae nur erzählen, wenn’s gar nicht anders geht.«

»Egal«, murmelte Stanley. »Ich wünschte, ich brauchte es nicht zu sagen.«

»Soll ich es an deiner Stelle tun? Ich muß morgen sowieso mit Leutnant Masters sprechen…«

»Ach, würdest du das tun, Nancy?« Stanleys Gesichtsausdruck war hündisch-dankbar. »Vielen Dank! Obwohl es bestimmt auch nicht viel helfen wird, denn bestimmt kommt Leutnant Masters trotzdem sofort angelaufen und wird mit mir sprechen wollen.«

»Das«, sagte David, »ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«

Stanley seufzte; einen schrecklichen Augenblick lang schien es, als wolle er in Tränen ausbrechen. Dann machte er ohne ein Wort kehrt und trottete davon, über das Gäßchen, durch seinen Garten ins Haus.

»Armer Stanley«, sagte David. »Warum hat er uns das wohl gebeichtet?«

»Weil er glaubte, daß es sowieso herauskommen würde«, sagte Nancy. »Es ist fast immer besser, etwas freiwillig zu erzählen, bevor es einem unter die Nase gerieben wird. Auf diese Weise hält man dich für offen und ehrlich, und du kannst dann später nach Belieben schwindeln oder etwas verschweigen, ohne daß dir jemand auf die Schliche kommt.«

»Teufel auch«, sagte David, »mit jeder Minute kommst du mir mehr vor wie dieser Masters.«

»Ich glaube«, entgegnete Nancy, »das kommt, weil ich ihn allmählich sympathisch finde.«

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