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Obwohl Nancy so viel später schlafen gegangen war als David, wachte sie viel eher auf. Augenblicklich war sie frisch und munter und fühlte sich trotz des vielen Biers, das sie am Abend zuvor getrunken hatte, bemerkenswert wohl. Im Zimmer war es dämmrig; die Vorhänge waren zugezogen. Sie streckte sich und lag minutenlang still da. Sie überlegte, was man mit dem Sonntag wohl beginnen konnte; es mußte unterhaltend und billig sein. Dann stand sie auf, trat ans Fenster und zog die Vorhänge auf. Der Rasen des Vorgartens begann vor Trockenheit hier und da braune Flecken zu zeigen, und auf einem dieser braunen Flecken, nahe am Gehsteig, lag die Sonntagszeitung, der Kansas City Star.

Nancy warf sich einen Morgenrock über und lief nach unten, um die Zeitung zu holen. Stanley hatte recht gehabt mit dem Wetter: es war kühler als gestern. Wenn sie Glück hatten, würde es später ein bißchen regnen; der Rasen brauchte Regen. Und nach dem Regen mußte er unbedingt geschnitten werden, eine Tatsache, die David nur brummend akzeptieren würde. Im Grunde machte es ihm ja nichts aus, den Rasen zu mähen, es war nur, daß er jeglicher Technik gegenüber mißtrauisch war. Er war überzeugt, daß alle Apparate irgendwie eine Art böswilligen Eigenlebens annähmen, sobald er den Versuch machte, sie zu gebrauchen. Gehorchte ihm der eine oder andere Apparat einmal, war er verblüfft und ungläubig. Brachte er eine Aufgabe ohne Zwischenfall hinter sich, sonnte er sich in dem Gefühl, einen gewaltigen Sieg über die Mächte des Bösen errungen zu haben.

Mit der Zeitung in der Hand ging Nancy ins Haus zurück. In der Küche maß sie Wasser und Kaffee in die Kaffeemaschine und stellte sie auf die Heizplatte. Wartend saß sie am Küchentisch und las die Zeitung. Als erstes überflog sie, ihrer Pflicht als Bürgerin Genüge tuend, die Schlagzeilen, um zu sehen, was sich in der Stadt, in Washington, Moskau und so weiter, tat, doch dann blätterte sie schnell weiter zu den du, nicht mich und Vera mit, und wir schwimmen ein bißchen im Swimmingpool vom Klub, während ihr spielt?«

»Weil Vera keine Lust hat, darum! Und wenn du jetzt ‘ne Staatsaffäre daraus machst, hab’ ich auch keine mehr.«

»Aber nein, Liebling, kommt gar nicht in Frage, daß du hier bleibst. Ich will mich doch nicht zwischen dich und dein Golf stellen! Ich lege mich eben ein bißchen aufs Ohr oder gehe spazieren, oder unternehme irgend etwas anderes Aufregendes.«

David sagte ein unanständiges Wort.

Sie begann ihren Spaziergang damit, daß sie ins Badezimmer ging. Als sie nach zehn Minuten wieder herauskam, geduscht und angezogen, ignorierte sie demonstrativ ihren Mann, der wiederum seine immer noch bebende Nase tief in die Bücherseite vergraben hatte und demonstrativ ignorierte, daß er ignoriert wurde. Allmählich zeigte sich wieder der Märtyrerblick auf seinem Gesicht, und Nancy wußte, daß es nicht mehr lange dauern würde, bis er erschien und erklärte, daß er nun doch nicht Golf spielen wolle, woraufhin sie süß und lieb sagen würde, aber natürlich müsse er spielen, er habe ja so wenig echt männliche Unterhaltung. Dieser liebevolle Streit würde sich eine Weile hinziehen, und schließlich würde er selig davonziehen, gesättigt von einem kräftigen Frühstück, und ihr würde es im Grunde nichts ausmachen, aber Frauen mußten natürlich in so einem Fall aufbegehren – rein aus Prinzip. Offen gestanden fühlte sie sich ein winziges bißchen schuldbewußt. David ging wirklich nicht oft Golf spielen, denn er konnte sich den Country-Club nicht leisten. Jack Richmond hingegen konnte es, und wenn daher Jack David zum Spielen aufforderte…

Es wurde langsam wieder heiß, wenn auch nicht so wie gestern. Nancy ging in den Garten, wanderte umher und sah nach diesem und jenem. Dann ging sie wieder ins Haus und trank eine Tasse Kaffee. Gleich darauf kam David herunter, küßte sie und sagte, er habe beschlossen, nicht Golf spielen zu gehen, wobei Nancy nicht umhin konnte zu bemerken, daß er nichtsdestoweniger Golfkleidung trug, nur für den Fall, daß sich die Dinge so entwickelten, wie sie sich nach beider Erfahrung unzweifelhaft entwickeln würden. Und wie sie sich dann auch entwickelten. Sie bereitete ein kräftiges Frühstück, David aß mit gutem Appetit, ging dann hinüber zu den Connors, sein albernes Spielzeug unterm Arm, und überließ Nancy der unaufgeräumten Küche und einem Nachmittag, mit dem sie nichts anzufangen wußte.

Die Hitze nahm weiter zu, eine vollkommen reglose Hitze, ohne die leiseste Andeutung eines Lüftchens. Nancy in ihrer Küche unter dem Fensterventilator war wieder einmal von abgrundtiefem Mitleid mit sich selbst erfüllt, vor allem, wenn sie daran dachte, wie David jetzt an der Bar des Country-Clubs saß und kühles Bier trank. Nancy hoffte, eine vernünftige Ehefrau zu sein, doch sie konnte nicht einsehen, warum sie so sehr unter der Hitze leiden sollte. Sicher, David konnte sich keine zentrale Klimaanlage leisten, doch zu ein oder zwei Fenstergeräten mußte es doch reichen, damit wenigstens die untere Etage, oder ein Teil von ihr, kühl gehalten werden konnte. Sie hatte sogar schon mit ihm darüber gesprochen. Doch David hatte gemeint, es habe keinen Sinn, Geld in weitere Fenstergeräte zu investieren, wenn sie sich später vielleicht eine ganze Anlage installieren lassen konnten. Das war durchaus richtig, fand sie – besonders, wenn man selbst zum Golfspielen gehen und in einer kühlen Bar kaltes Bier trinken konnte.

Während ihr Blick aus dem Fenster zu der kleinen Terrasse hinter dem Connorschen Haus wanderte, begann sie wieder, über Lila nachzudenken, und auf einmal fiel ihr ein, daß sie den ganzen Morgen noch nichts von Lila gesehen hatte. Auch wenn Lila in ihrem schönen, kühlen Haus sehr lange schlief, mußte sie jetzt doch bestimmt wach sein; es war schon nach eins. Vermutlich brauchte Lila eine kleine Aufmunterung, da Larry doch im Büro geschlafen hatte und so, und außerdem würde ihr die Gesellschaft einer mitfühlenden Seele gewiß guttun. Trotz allem, was Larry gesagt hatte, war Lila manchmal doch ein netter Kerl, wenn sie auch hin und wieder die Leute in Verlegenheit brachte. Und Larry hatte auch sicher das Ausmaß des Streites gestern abend übertrieben und mehr daraus gemacht, als es wirklich gewesen war. Alles in allem sah Nancy nicht ein, was es schaden konnte, wenn sie hinüberging und Lila besuchte, besonders, wenn sie etwas mitbrachte. Ein solcher Nachmittag war herrlich für einen Shaker Gin-Tonic, der überdies gleichzeitig eine hervorragende Tarnung für Nancys eigentlichen Grund zu diesem Besuch abgab, nämlich für den Wunsch, den glühheißen Nachmittag in Lilas köstlich kühlen Räumen zu verbringen.

Mit dem Shaker in der Hand durchquerte Nancy ihren Garten und trat über die niedrige Hecke in den Garten der Connors.

Sie klingelte. Klingelte noch einmal. Und wieder. Nichts rührte sich.

Das Recht des Nachbarn, der mit einem Shaker Gin-Tonic vor dem Haus steht, in Anspruch nehmend, klinkte Nancy die Türe auf und trat ein.

»Lila?«

Keine Antwort.

Plötzlich überkam Nancy ein ganz eigenartiges Gefühl. Irgend etwas stimmte hier nicht – aber was?

Natürlich! Im Haus war es heiß – die Klimaanlage arbeitete nicht. Lila war wohl ausgegangen und Larry noch nicht wieder nach Hause gekommen.

Ohne das eigenartige Gefühl loszuwerden, trat Nancy wieder ins Freie, schloß die Tür und ging mit dem Shaker in der Hand nach Hause. In ihrer eigenen Küche, unter dem heißen Luftstrom des Ventilators, schenkte sie sich ein Glas Gin-Tonic ein und trank einen Schluck. Wo in aller Welt konnte Lila nur sein? Sie war bestimmt nicht nur für ein paar Minuten fortgegangen, sonst hätte sie die Klimaanlage nicht abgestellt. Überdies war es so heiß im Haus gewesen, daß die Anlage seit mindestens mehreren Stunden außer Betrieb sein mußte. War es möglich, daß Lila endgültig gegangen war?

Gestern abend, nachdem Larry das Haus verlassen hatte? Oder ganz früh heute morgen? Doch falls das zutraf, hätte sie denn nicht die Tür abgeschlossen? Nun, vielleicht war Lila so wütend gewesen, daß sie davongelaufen war, ohne nachzudenken und sich um nicht abgeschlossene Türen zu kümmern.

Plötzlich entsann sich Nancy, wie Stanley Walters gestern abend auf der Straße gestanden und zu Lilas erleuchtetem Fenster hinaufgestarrt hatte. Ob der etwas gesehen hatte, das mit Lilas Abwesenheit zusammenhing? Das war unwahrscheinlich, doch falls es so war, hatte er es bestimmt Mae mitgeteilt, und Mae hätte nur allzu freudig die Gelegenheit ergriffen, es überall herumzuposaunen – vor allem, wenn es Lila betraf, und ganz besonders, wenn es sich um etwas Pikantes handelte. Nancy erwog, hinüberzulaufen und Mae zu fragen. Sie erwog es jedoch nicht ernstlich. Es war viel zu heiß und viel zu anstrengend, und Mae hatte außerdem auf dem Gebiet zentraler Klimaanlagen nichts zu bieten. Telefonieren war entschieden bequemer. Nancy füllte ihr Glas auf und nahm es mit ans Telefon in den winzigen Flur. Hier gab es einen kleinen Ventilator, und während Nancy wählte, ließ sie den Luftstrom über ihre bloßen Beine und weiter an ihrem Körper herauf bis zu Hals und Gesicht blasen.

Gegenüber bei den Walters’ klingelte das Telefon. Es wurde prompt abgenommen.

»Ja, bitte?« sagte Mae.

»Hallo, Mae«, sagte Nancy. »Schön heiß, nicht?«

»Wer ist denn da?«

»Nancy.«

»Ich dachte mir doch, daß ich deine Stimme erkannt hatte. Hier ist es heißer als in der Hölle, falls du’s genau wissen willst.«

»Bei mir auch. Vielleicht fängt’s an zu regnen und wird kühler.«

»Hoffentlich. Drüben im Westen stehen ein paar Wolken.«

»Wirklich? Hab’ ich noch gar nicht gesehen.«

»Hoffentlich regnet’s und wird ein bißchen kühler.«

»Ja, das hoffe ich auch. Übrigens, was ich dich fragen wollte, Mae: Weißt du, wo Lila ist?«

»Lila? Nein, keine Ahnung. Außerdem interessiert es mich auch nicht im geringsten. Ist sie denn nicht zu Hause?«

»Nein. Ich war eben drüben.«

»Na, ich hab’ sie seit gestern abend nicht mehr gesehen.«

»Mae, aber ihre Klimaanlage ist abgestellt. Im Haus ist es so heiß, daß sie schon ‘ne ganze Weile abgestellt sein muß.«

»Na und? Hör mal, Nancy, ich weiß nichts über Lila Connor, und ich will auch nichts wissen. Ist Larry auch nicht da?«

»Nein.«

»Es sollte mich nicht wundern, wenn er auf und davon gegangen wäre, aber das tut er ja doch nicht. Warum fragst du ihn nicht, wenn er nach Hause kommt?«

»Werd’ ich machen. Tja, dann auf Wiedersehen, Mae.«

»Auf Wiedersehen, Nancy. Mach dir keine Sorgen wegen Menschen wie Lila Connor. Diese Sorte versteht es nur allzugut, auf sich selbst aufzupassen.«

Nancy legte den Hörer auf und hob ihr Glas. Es war mittlerweile fast leer, denn während des Gespräches mit Mae hatte sie immer wieder ziemlich große Schlucke getrunken. Sie wanderte zurück in die Küche und nahm wieder unter dem heißen Hauch des Ventilators am Küchentisch Platz.

Was nun? Verdammt, es war erst zwei Uhr.

Der Blick auf die Küchenuhr erinnerte Nancy daran, daß sie den Braten in die Röhre schieben mußte. David würde vermutlich zwischen vier und fünf heimkommen, fast verhungert nach der Bewegung in der frischen Luft und dem kalten Bier. Na ja, warum nicht? dachte Nancy. Wenn sie zeitig aßen, hatte sie wenigstens einen freien Abend… für den Fall, daß sich noch etwas Interessantes ergäbe. Bis dahin hatte sie ihren Shaker Gin-Tonic und keinen Menschen, der mit ihr trank. David hielt nichts davon, allein zu trinken; er sagte, das sei eine schlechte Gewohnheit, die sich leicht zu Alkoholismus auswachsen könne. Doch es würde sicher nichts schaden, wenn sie sich noch ein kleines Gläschen nahm, bevor sie den Shaker in den Kühlschrank stellte.

Nancy schenkte sich ein und trank, während sie den Braten vorbereitete. Als er in der Röhre war, gönnte sie sich zur Belohnung ein weiteres Gläschen.

Aber es ist doch verdammt komisch, mit Lila, dachte sie.

Wo nur konnte Lila sein?

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