Eine Stunde später ging er wieder. Der Coroner war bereits fort, und die beiden Polizeibeamten beendeten eben ihre Arbeit und schlossen das Haus ab. Ein langer Sommertag ging jetzt seinem Ende zu, und Masters fuhr die kurze Strecke bis in die Stadt mit eingeschalteten Scheinwerfern. Sein Ziel war der Büroblock, in dem Larry Connors Büro lag. Er bog in die schmale Straße dahinter ein und parkte auf dem kleinen Platz, wo noch immer Larry Connors Buick stand.
Er stieg aus und trat an den Wagen heran. Die Fenster waren hochgekurbelt und alle vier Türen abgeschlossen. Durch die vordere Scheibe spähte er auf den Fahrersitz, doch war dort nichts Ungewöhnliches zu sehen. Auf der von der Oberseite des Armaturenbrettes gebildeten Ablage stand eine offene Kleenex-Schachtel, aus deren Schlitz ein Tuch herausragte. Auf dem rechten Vordersitz lag ein zerdrücktes Zigarettenpäckchen. Das war alles.
Masters richtete sich auf und stöhnte, weil sein Rücken dabei so schmerzte. Auch ein Zeichen fortschreitender Jahre. Dann ging er auf die Tür an der Rückseite des Gebäudes zu. Sie war, wie Nancy gesagt hatte, verschlossen. Mit müden Schritten ging er ums Haus herum zur Vordertür und versuchte hier sein Glück. Ebenfalls zu. Das Schloß machte einen soliden Eindruck. Keiner der Schlüssel, die er bei sich hatte, würde passen, und die Tür aufbrechen, wäre wohl eine etwas zu drastische Demonstration polizeilicher Gewalt gewesen. Zufällig kannte Masters den Hausbesitzer; gewiß hatte der einen Schlüssel. Er ging ins gegenüberliegende Hotel und betrat eine der Telefonzellen in der Halle.
Der Hausbesitzer, ein Mann namens Beyer, schien nicht gerade begeistert über Masters’ Bitte, doch er versprach, sofort zu kommen.
»Kommen Sie bitte an die Hintertür«, sagte Masters.
Bevor er wieder auf seinen Posten zurückkehrte, erstand er noch eine Zehn-Cent-Zigarre, zündete sie jedoch nicht an. Nachdenklich kaute er darauf herum, während er, an den Kotflügel seines Wagens gelehnt, auf Beyer wartete. Nach zwanzig Minuten erschien der Mann mit den Schlüsseln.
»Was hat denn das eigentlich zu bedeuten, Leutnant?«
»Mr. Connor ist gestern abend hierhergekommen«, sagte Masters. »Wie Sie sehen, steht sein Wagen auch da. Doch seither hat ihn niemand mehr gesehen. Wir hielten es für das beste, einmal nachzusehen.«
»Ich betrete nicht gerne eigenmächtig die Räume meiner Mieter.«
»Ich werde ohne triftigen Grund nichts anrühren.«
Beyer schloß auf und trat zur Seite, um Masters den Vortritt zu lassen. Drinnen blieb der Leutnant zunächst einmal stehen, doch er vernahm in der Hitze und der stickigen Dunkelheit keinen Laut, nur Beyers Atem. Vor sich nahm er undeutlich einen unförmigen Gegenstand wahr.
»Der Lichtschalter ist neben der Tür«, sagte Beyer. »Links.«
Masters tastete herum. An der Decke begannen zwei Leuchtröhren zu flackern. Er stand in einem kleinen, vollgestellten Raum, der mehrere große Kartons und, aufgereiht an einer Wand, drei stählerne Büroschränke enthielt. Offenbar ein Lagerraum für abgelegte Akten. Direkt gegenüber entdeckte er eine Tür mit Mattglasscheibe.
»Wie sind die Räume hier angeordnet?« fragte Masters.
»Drei Zimmer hintereinander, von vorne nach hinten«, sagte Beyer. »Das da, hinter der Glastür, ist das mittlere – Mr. Connors Büro. Dahinter, zur Straße, liegt das Vorzimmer, wo die Sekretärin sitzt.«
»Aha.«
Masters zögerte; es war ein Zögern, das fast an Furcht grenzte. Er scheute sich, die Mattglastür zu öffnen, aber er mußte – es war seine Pflicht. Er ertappte sich dabei, daß er es hinausschob, sich betont gründlich im Lagerraum umsah, in alle Kartons und Schubladen schaute. Endlich faßte er sich ein Herz und öffnete die Tür. Sie schwang nach innen; der Lichtkegel aus dem Lagerraum hob die Ecke eines Schreibtisches und den Sessel dahinter aus dem Dunkel. Masters suchte und fand den Lichtschalter; eine grelle Leuchtröhre glühte auf, und in ihrem Licht sah Masters das, was er geahnt und gefürchtet hatte.
»Ich brauche Sie nicht mehr«, sagte er zu Beyer. »Lassen Sie mir nur Ihren Hauptschlüssel da. Das hier ist jetzt Sache der Polizei.«
»Warum? Was meinen Sie damit?« sagte der Mann nervös.
Er blickte über Masters’ Schulter. Entsetzt fuhr er zurück.
»Mr. Connor ist zweifellos tot«, sagte Masters. »Das ist doch Connor, oder nicht?«
»Mein Gott, ja! Aber wie konnte das nur geschehen, Leutnant?«
»Sieht aus wie Selbstmord.«
»Schrecklich! Ein so netter, junger Mann! Kann ich irgend etwas helfen?«
»Das können Sie, Mr. Beyer. Sie können gehen und mich ungestört arbeiten lassen.«
Sanft schob er dem verdutzten Mr. Beyer die Tür zum Lagerraum vor der Nase zu. Kurz darauf hörte er, wie der Mann das Haus durch die Hintertür verließ.
Masters ging um den Schreibtisch herum. Auf den ersten Blick deutete wahrhaftig alles auf Selbstmord hin. Besonders in Anbetracht der nächtlichen Gewalttat in Shady Acres.
An der gegenüberliegenden Wand stand ein mit braunem Kunstleder bezogenes Sofa. Auf dem Sofa lag die Leiche Larry Connors; der rechte Arm hing zu Boden. Masters stellte fest, daß er es sich zum Sterben bequem gemacht hatte. Sein helles Cord-Jackett und die Krawatte hingen ordentlich über einer Stuhllehne. Sein weißes Hemd stand am Kragen offen. Die Schuhe hatte er nicht ausgezogen, etwas, das Masters unbedingt als erstes getan hätte, wenn er es sich hätte gemütlich machen wollen, jedoch die Füße lagen in Ruhestellung nebeneinander auf dem Sofa. Es gab weder eine Waffe noch eine Wunde oder Blut. Gewisse physiologische Merkmale deuteten auf eine Überdosis irgendeines Medikamentes hin. Die Umstände ließen sämtlich auf Selbstmord schließen.
Masters trat einen Schritt zurück und musterte das Büro. Es war fast quadratisch, etwa zwanzig Fuß im Quadrat. Eine Mattglastür, direkt gegenüber der anderen, die zum Lagerräum führte, gehörte vermutlich zum Vorzimmer, das zur Straße hin lag. An der Wand zum Lagerraum, dicht an einem Ende des Sofas, befand sich eine dritte, halb offene Tür, durch die man in einen Waschraum sehen konnte.
Masters ging hinein, tastete nach dem Schalter, fand keinen, und entdeckte schließlich eine Kette, die von der Decke herabhing. Er zog, und eine einzelne Birne leuchtete auf. In ihrem etwas kümmerlichen Licht sah er eine Toilette und eine Waschkommode. Über der Waschkommode hing ein Apothekenschränkchen mit einem halbblinden Spiegel. Auf der Kommode standen die beiden Hälften einer kleinen, weißen Schiebeschachtel und ein Glas mit etwas Wasser. Auf dem Spülkästen der Toilette stand eine Flasche billiger Weinbrand, verschraubt und dreiviertel voll. Masters nahm das Schubladenteil der Schachtel in die Hand und roch dran. Es strömte einen ihm bekannten aromatischen Geruch aus, schwach nur und kaum noch wahrnehmbar. Es fiel Masters nicht schwer, den Geruch zu identifizieren; seine Kenntnisse, was die Schliche der Bars und Kneipen betraf, waren weitaus größer als seine Erfahrung mit Mördern. Chloralhydrat, der Hauptbestandteil eines >Mickey Finn<. In kleinen Dosen wirkte es wie ein Schlafmittel, in großen führte es zu Kollaps, Koma und Versagen der Herz- und Lungentätigkeit.
Masters stellte die Schachtel wieder hin und besah sich die Weinbrandflasche. Er hatte Larry Connor nicht gekannt, war aber nichtsdestoweniger enttäuscht von ihm. Seine Frau hatte er brutal ermordet, für seinen eigenen Tod jedoch hatte er eine weit angenehmere Methode gewählt: Er hatte das Zeug in Weinbrand genommen!
Wieder im Büro, bediente sich Masters des Telefons auf dem Schreibtisch. Er rief den Coroner, der eben in freudiger Erwartung eines leckeren Abendessens heimgekehrt sein mußte, zu Hause an. Der Coroner, ein reizbarer Mann, reagierte recht unfreundlich auf diese zweite Störung, so kurz nach der ersten, sagte jedoch, er käme sofort herüber. Masters drückte kurz die Gabel nieder, dann wählte er die Nummer der Polizeistation. Er fragte den Mann vom Sonntagsdienst, ob die beiden Beamten, die er im Connorschen Haus zurückgelassen hatte, schon wieder eingetroffen seien. Sie waren noch nicht da. Er fragte, ob der Chef noch da sei. Das war kaum anzunehmen, und er erhielt auch prompt eine verneinende Auskunft. Er erklärte dem Mann, wohin er die beiden Beamten schicken sollte, wenn sie kamen, und legte auf.
Masters setzte sich in Larry Connors Drehstuhl, legte die Füße hoch, schloß die Augen und kaute auf seiner Zigarre herum.
Warum, überlegte er, hatte sich Larry Connor für seinen Selbstmord ausgerechnet sein Büro ausgesucht? Warum hatte er sich, nachdem er seine Frau getötet hatte, nicht einfach zu Hause umgebracht? Mörder, die Selbstmord verüben, tun dieses gewöhnlich noch während desselben Wutanfalls, in dem sie den Mord verübt haben. Gewiß, auf ein Schema konnte man sich dabei nicht verlassen. Selbstmörder waren immer, zumindest zeitweise, psychopathisch, der eine in dieser, der andere in jener Hinsicht, und die Methoden, die sie sich zur Ausführung ihrer Absicht ausdachten, waren oft die absurdesten. Sie sprangen aus Fenstern und von Mauervorsprüngen.
Sie nahmen in öffentlichen Bedürfnisanstalten Gift. Sie schnitten sich in Hotels, wo sie einzig zu diesem Zweck ein Zimmer genommen hatten, die Pulsadern auf. Die Liste der abartigen Verhaltensweisen konnte noch beliebig verlängert werden. Larry Connor war kopf- und planlos davongelaufen; es war gut möglich, daß er sich erst in seinem Büro zum Selbstmord entschlossen hatte.
Gesetzt jedoch der Fall, das traf zu: Wie hatte er sich dann das Mittel dazu besorgt? Nun, das war nicht schwer. Chloralhydrat war in jeder Kneipe mit entsprechend niedrigem Niveau zu haben. Außerdem, lag nicht der Verdacht nahe, daß dies nicht das erstemal war, daß Larry Connor an Selbstmord gedacht hatte? Vermutlich war er schon zuvor auf die Idee gekommen, daß man mit Chloralhydrat auf verhältnismäßig angenehme Art und Weise aus dieser Welt gehen könne und hatte sich, nebst einer Flasche Weinbrand, einen Vorrat davon angelegt. Aber dies waren alles rein akademische Fragen. Larry war tot; dort lag er. Er hatte eine tüchtige Dosis Chloralhydrat geschluckt, und mehr wußte man nicht.
Masters hörte den Coroner an der Hintertür und ging durch den Lagerraum nach hinten, um ihn einzulassen. Der Coroner, klein, grau und verkniffen, schob sich eilig herein und machte sich verdrossen an die Arbeit; er hatte noch einen Tropfen Sauce am Kinn. Masters hielt sich in der Nähe der Hintertür. Hier, so hatte er entdeckt, war etwa achtzehn Zoll von der Tür entfernt ein Fenster in der Wand, in dessen untere Hälfte eine Klimaanlage eingelassen war. Das Fenster lag genau gegenüber der Tür zum Büro, also würde die Kaltluft, wenn die Bürotür offenstand, direkt durch sie hindurchgeblasen werden und konnte beide Räume kühl halten. Abermals fiel Masters die drückende Hitze auf. Er drehte an ein paar Knöpfen, der Ventilator begann sich zu drehen, und dankbar spürte er die kalte Luft hereinströmen. Er ließ den Apparat eingeschaltet und ging ins Büro zurück. Der Coroner kniete neben dem Sofa.
»Verdammt noch mal, schöner Mist, den wir da am Hals haben!« knurrte der Coroner. »Sieht ja fast aus wie ‘ne Vendetta.«
»Wohl nur ein kleiner Familienzwist. Dieser Fall hier wird Ihnen vermutlich mehr Schwierigkeiten machen. Ein Tod durch Erstechen ist leicht zu erkennen, doch der hier, an den müssen die Herren Doctores ‘ran.«
»Sieht aus wie Herzinfarkt, aber in Anbetracht der Umstände würde ich sagen, Gift.«
»Meiner Meinung nach ist es beides. Ersteres hervorgerufen durch letzteres. Die Schachtel steht nebenan, im Waschräum; ebenfalls der Schnaps, mit dem er’s ‘runtergespült hat. An der Schachtel haftet noch ein schwacher Geruch. Wissen Sie, was drin war?«
»Was denn?«
»Chloralhydrat.«
»Ein überstarker Mickey Finn? Tja, das dürfte ihn allerdings erledigt haben.« Der Coroner zerrte an seinem Kragen und zupfte an seiner zerknautschten Krawatte. »Es ist fürchterlich heiß hier drin. Können wir nicht ein bißchen Luft machen?«
»Hinten gibt es eine Klimaanlage. Ich hab’ sie gerade angestellt.«
»So. Na, ich mache jetzt Schluß hier, und dann gehe ich, Leutnant. Sonst noch jemand in dieser Familie?«
»Nein, war nur das Ehepaar. Warum?«
»Ich möchte gerne nach Hause und in Ruhe fertig essen.«
Masters ging ins Vorzimmer und suchte den Lichtschalter. Der Raum war klein; er enthielt nicht mehr als den Schreibtisch der Sekretärin, ein paar Stühle und ein niedriges Tischchen, auf dem Magazine lagen. In das Oberlicht der Vordertür war eine weitere Klimaanlage eingebaut, kleiner als die hinten. Wie kam man denn bloß hinauf, um sie anzuschalten? Doch gleich stellte er fest, daß das nicht nötig war. Der Apparat war dauernd eingeschaltet und wurde mittels eines Schalters weiter unten bedient.
Masters machte das Licht aus und kehrte ins Büro zurück, wo der Coroner gerade telefonierte. »Bestelle noch schnell die Ambulanz«, sagte er mürrisch und nickte hinüber zum Schreibtisch, wo ein Häufchen von Gegenständen aus den Taschen des Toten lag.
Masters musterte sie nur kurz. Kleingeld, Taschentuch, Brieftasche, Taschenkamm, Schlüsseletui, die Uhr von Connors rechtem Handgelenk. In der Brieftasche waren zweiundzwanzig Dollar, zwei Zehndollarscheine und zwei Einer, außerdem Führerschein, ein paar Kreditkarten und sonstige belanglose Kleinigkeiten. Im Schlüsseletui waren fünf Schlüssel. Masters runzelte die Stirn, als er sie betrachtete; dann steckte er das Etui ein. Der Coroner, der bis jetzt ins Telefon hineingeblafft hatte, legte auf.
»Sie kommen«, sagte er. »Und ich gehe. Hier ist der Überführungsschein. Und jetzt lassen Sie mich eine Weile in Ruhe, wenn ich bitten darf. Ja?«
Masters sagte, mit Vergnügen, und lauschte auf das Schnappen der Tür, als der Coroner die Hintertür ins Schloß zog. Endlich allein, warf er sich wieder in den Drehstuhl.
Er hatte kaum die Füße auf den Schreibtisch gelegt, als er von einem Lärm aufgeschreckt wurde, wie ihn nur ein Polizeibeamter vollführt, der draußen ist und eingelassen werden will. Seufzend stemmte sich Masters aus dem Schreibtischsessel hoch und ging zur Hintertür.